Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Inhaltsverzeichnis
1. Inhaltsangabe
2. Bedeutung der Überschrift
3. Ausdeutung der sprachlichen Bilder
4. Äußere Form und sprachliche Mittel
5. Rolle des „lyrischen Ichs“
6. Günter Eich: Biographie und Lyrikverständnis
7. Die Epoche des Gedichtes
8. Vergleich von „Winterliche Miniatur“ und „Latrine“
9. Kommentar
Inhaltsangabe
In dem vorliegenden Gedicht beschreibt der Autor eine Winterlandschaft, in der eine Pappel steht und in der Krähen am Himmel fliegen. Des Weiteren legt er die Auswirkungen der Kälte dar, die zum Absterben von Lebewesen führt und die Entstehung von Schnee und Eis zur Folge hat.
Die Bedeutung der Überschrift
Unter einer „winterlichen Miniatur” versteht man ein kleines Winterbild als welches das Gedicht im weiteren Sinne auch verstanden werden kann. Dabei spielt die geringe Größe des Bildes, die am Begriff der „Miniatur” verdeutlicht wird, eine besondere Rolle. Nun kann die geringe Größe des Bildes durch eine große Distanz des Betrachters von dem Bild erzeugt werden und könnte somit für eine große Distanz zwischen Dichter und der winterlichen Naturlandschaft beziehungsweise Natur im Allgemeinen stehen. Damit wäre die Überschrift eine erste Auseinandersetzung des Dichters mit einer als rätselhaft und mystisch empfundenen Natur, die sich seinen Versuchen sie zu entziffern und in menschliche Sprache zu übersetzen, verschließt.
Eine weitere Deutungsmöglichkeit wäre, dass das Gedicht als ein Bild verstanden wird, das nur einen sehr begrenzten Einblick ermöglicht und damit nur wenige Aspekte aus dem komplexen Gesamtbild der Natur darstellt.
Ausdeutung der sprachlichen Bilder
Das gesamte Gedicht „Winterliche Miniatur” ist eine Allegorie1, mit der eine erstarrte beziehungsweise versteinerte Winterlandschaft beschrieben wird. Diese Winterlandschaft steht für die Verschlossenheit der Natur dem „lyrischen ich” gegenüber, die keine Annährung des Dichters mehr zulässt. Die Natur kann nicht mehr als sinnvoll erfahren werden und so auch nicht mehr wiedergeben werden.
Das Gedicht beginnt mit einer Richtungsangabe („Übers Dezembergrün der Hügel”), die eine noch recht allgemeine Naturszenerie darlegt. Damit soll das danach erwähnte Detail dieser Landschaft, die Pappel, besonders betont werden.
Der im zweiten Vers im Zusammenhang mit der Pappel verwendete Vergleich zwischen dieser und einem Monument gibt der Pappel eine besondere Bedeutung.
Der Pappel werden die Eigenschaften eines Monuments zugeschrieben, im räumlichen Sinn eine enorme Größe und im zeitlichen Sinn eine Erinnerung an die Vergangenheit. Der Dichter stellt in diesem Vergleich Natur und Kultur gegenüber und betont dabei, dass die Natur sich durch ihre Biegsamkeit (Pappel) immer den zeitlichen Veränderungen anpassen kann, während die Kultur als starr und unbeweglich dargestellt wird. Darüber hinaus könnte die „eine Pappel” ein Symbol für Einsamkeit darstellen, die zusammen mit den im folgenden thematisierten Verfallsprozessen, keine rein harmonische Wahrnehmung der Natur mehr ermöglichten.
Im nächsten Vers beschreibt der Autor fliegende Krähen, die mit ihren Flügeln „eine Schrift in den Himmel schreiben” und greift mit dieser Personifikation2 der Krähen das Motiv der Schrift auf. Wenn man die Schrift, die „keiner kennt” als die Schrift des Gedichtes versteht, würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, dass der Autor nicht wüsste was er schreibt und der Leser nicht wüsste was er liest. Eine andere Deutungsmöglichkeit dieses direkten in Beziehung Setzens von Schrift und Natur könnte auch die Auffassung des Dichters widerspiegeln, dass seine Dichtung eine Übersetzung der Natur in Sprache ist, wobei in diesem Fall die Natur als ein „Text” empfunden werden würde, der für den Dichter die Grundlage für diese Übersetzung darstellt. Die Schrift würde dann die Fixierung dieser Übersetzung bedeuten.
„In der feuchten Luft gibt es Laute und Zeichen” (V. 5): Diese „Zeichen” verleihen der Empfindung einer rätselhaften Natur Ausdruck, die erst vom Dichter erkannt und enträtselt werden kann. Somit wird an dieser Stelle die Auffassung deutlich, dass der Dichter die Funktion eines Vermittlers zwischen Mensch und Natur innehat.
Der nächste Vers ist ein weiterer Vergleich zwischen Kultur repräsentiert durch die „Hochspannung” und der Natur dargestellt durch das „Grillengezirp”. Dieser Vergleich könnte dazu dienen, die technischen Errungenschaften des Menschen der Natur gegenüber zu stellen und dabei ab zu werten. Diese Abwertung erfolgt durch die Gegenüberstellung einer für den Menschen elementar wichtigen Errungenschaft, des elektrischen Stroms auf der einen Seite und etwas vergleichsweise Bedeutungslosem wie dem Grillengezirp auf der anderen Seite.
Im nächsten Abschnitt des Gedichts werden in der dargestellten Landschaft enthaltene Zeichen des Verfalls der Natur offenbart („die Pilze am Waldrand zu Gallert erbbleichen” beziehungsweise „ein Drosselnest im Stauchwerk verdirbt”). Diese könnten so interpretiert werden: Indem die verwendete Sprache die Vergänglichkeit der Natur beschreibt stellt sie gleichzeitig bildlich ihre eigene Vergänglichkeit dar.
„Der Acker liegt in geschwungenen Zeilen” (V. 9) In diesem Vers, in dem die geschwungenen Zeilen eine Metapher3 für die Dichtung darstellen, wird deutlich, dass zwischen dieser und der Natur noch immer ein enger Zusammenhang besteht.
Doch bereits einen Vers später ist von dem „Riss” die Rede, der als Metapher für ein gestörtes Verhältnis von Dichtung und Natur gedeutet werden könnte. Darüber hinaus deutet Eich in vielen seiner Gedichte an, dass er Sprache für ungeeignet oder unzureichend hält, um Wirklichkeit darzustellen. Auch darauf könnte die „Riss-Metapher” anspielen.
Die im vorletzten Vers des Gedichtes auftretende Personifikation der Wolken („Wolken, schwanger von Schnee, …”) (V. 11) führt am Ende des Gedichtes zu einer besonders bildlichen Darstellung der Winterlandschaft und ermöglicht dem Leser damit eine besonders gute Vorstellung von der geschilderten Situation. Darüber hinaus könnte dieses sprachliche Bild dazu dienen, einen Rahmen für die zentrale Chiffre „Alphabete der Bitternis” zu bilden.
Die am Ende des Gedichts auftretende Chiffre „Alphabete der Bitternis” kann in unterschiedlicher Weise ausgedeutet werden. So könnte die Bitternis und Einsamkeit des deutschen Intellektuellen in der Nachkriegszeit gemeint sein. Eine andere Deutungsmöglichkeit wäre, dass Alphabet als Metapher für Sprache verstanden wird und die Bitterkeit sich auf die Sprachkrise der Autoren nach dem zweiten Weltkrieg bezieht. Diese hatten ein tiefes Misstrauen gegenüber der Sprache, die für die Propaganda und Hetzreden missbraucht worden war. In der Literatur führte dies zu einer Reduzierung der Sprache auf das existenziell Wesentliche, was zum Begriff der „Kahlschlag-” oder „Trümmerliteratur” führte. Diese Hypothese wird jedoch dadurch geschwächt, dass Eich keine ausgeprägte Sprachkrise erlebte. Zwar lehnte auch er die gelenkte Sprache der NS-Zeit ab, aber er zog daraus nicht dieselben Konsequenzen wie die anderen Dichter jener Zeit. Auf einer weiteren Deutungsebene könnten die „Alphabete der Bitternis” auch für einen Teil der Natur stehen, den der Dichter bei der Übersetzung der Natur entziffert und der für die in ihr waltende Vergänglichkeit, den Tod und die Vergänglichkeit steht.
Äußere Form und sprachliche Mittel des Gedichtes
Das vorliegende Gedicht ist der bildhaften Lyrik und in ihr der Unterkategorie der Naturlyrik zuzuordnen. Es besteht aus einer Strophe, die aus 12 Versen besteht. Der Rhythmus des Gedichtes ist gleichmäßig und fließend und das Reimschema ist durchgehend ein Kreuzreim. Darüber hinaus weist das Gedicht außer dem unreinen Reim „Gezirp - verdirbt”, nur reine Reime auf.
Die Kommunikationssituation des Gedichtes ist ein neutraler Sprecher, während sein gedanklicher Aufbau eine lineare Darlegung von Naturbeobachtungen beziehungsweise die schrittweise Beschreibung einer Landschaft darstellt.
Die Wortwahl im Gedicht weist einige Besonderheiten auf: So werden ausschließlich Substantive aus den Bereichen Natur, Sprache, Kultur, Verfall und Schrift - also ausschließlich aus den Bereichen der Kernthemen - verwendet. Als Besonderheit ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch von übermäßig vielen Substantiven zu nennen. Darüber hinaus werden in dem Gedicht besonders wenige Adjektive verwendet, und sie spielen insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings tragen die Verwendeten deutlich zur Bildlichkeit des Gedichtes bei, da sie gleichmäßig verteilt, zentrale Substantive näher beschreiben und damit deren Bildlichkeit erhöhen. Die verwendeten Verben stammen aus dem Bereich der Schrift und aus dem Bereich des Verfalls („erbleichen”; „verderben”). Insgesamt findet ein normaler Gebrauch von Verben in dem Gedicht statt, was für hermetische Lyrik eher untypisch ist und woran deutlich wird, dass das Gedicht trotz einiger hermetischer Aspekte ein Naturgedicht ist. Hinsichtlich der verwendeten Satzstrukturen beginnt das Gedicht mit einem Aussagesatz. Danach folgt ein Hauptsatz verbunden mit einem Nebensatz (Relativsatz). In der Mitte des Gedichtes folgt eine Aufzählung in Form mehrerer durch Kommas voneinander abgegrenzter Hauptsätze. Dabei dient die Aufzählung dazu die winterlichen Laute und Zeichen aufzuführen. Das Gedicht endet in derselben Weise wie es beginnt mit einem einfachen Aussagesatz.
Das Gedicht beginnt mit einer Inversion4 in den ersten beiden Versen, die bewirkt, dass das „Dezembergrün der Hügel” im ersten Vers besonders herausgestellt wird. Darüber hinaus findet sich in den ersten beiden Versen das erste Enjambement, wobei das gesamte Gedicht von Enjambements5 durchzogen ist. Diese bewirken zusammen mit dem Kreuzreim eine Verknüpfung der Verse miteinander und damit eine sehr enge Verbindung aller Teile des Gedichtes untereinander. Darüber hinaus finden sich im Gedicht zwei Alliterationen6 („…Luft gibt es Laute und Zeichen”) (V. 5) und („schwanger von Schnee”) (V. 11), die zu einer Verknüpfung der entsprechenden Wörter innerhalb des jeweiligen Verses führen. In Vers 6 des Gedichtes verwendet der Dichter die Onomatopoesie („klirrt wie Grillengezirp”), um die Bildlichkeit seiner Beschreibung zu erhöhen und sie damit dem Leser anschaulicher zu gestalten. Desweiteren verwendet er in diesem Zusammenhang einen unreinen Binnenreim, der die beiden Teile des Vergleiches - die Hochspannung und das Grillengezirp - in besonderer Weise miteinander verknüpft. Eine weitere Verknüpfung wird zwischen den Versen, die das Thema des Verfalls behandeln durch das sprachliche Mittel des Parallelismus bewirkt („die Pilze am Waldrand zu Gallert erbleichen, ein Drosselnest im Strauchwerk verdirbt, …“) (V. 7-8).
Bei der Aufzählung der unterschiedlichen Laute und Zeichen durch die mit Kommas voneinander abgetrennten Hauptsätzen verwendet der Dichter eine Parataxe, womit er eine Gleichwertung aller Aspekte erreicht. Im vorletzten Vers verwendet Eich eine Parenthese („schwanger von Schnee“) um mit ihr die beschriebene Winterlandschaft bildlicher zu beschreiben.
Rolle des „lyrischen Ichs”
Das „lyrische ich” in „Winterliche Miniatur” scheint Schwierigkeiten mit dem Zugang zur Natur zu haben, dass in Äußerungen wie „Schrift in den Himmel, die keiner kennt” (V. 4) und „in der feuchten Luft gibt es Laute und Zeichen” (V. 5) deutlich wird. Es setzt sich mit der Natur auseinander, kann sie jedoch nicht wie angestrebt erleben beziehungsweise wahrnehmen. Dies führt zu einer Kombination von Resignation und Hoffnung, die das gesamte Gedicht prägen. Zudem ist, wie bereits angesprochen, das Vertrauen in die Verbindung zwischen Sprache und Natur, das frühere naturmagische Gedichte noch aufwiesen, in „Winterliche Miniatur”, von Anfang an gebrochen. Der erste Hinweis darauf im Gedicht ist die „Schrift die keiner kennt“, welche von den Krähen als Repräsentanten der Natur geschrieben wird. Dabei ist die Schrift als eine Form der Sprache zu verstehen. Insgesamt möchte jedoch auch Eich in seiner Dichtung ein Bild von der Natur geben.
Günter Eich und sein Verhältnis zur Lyrik
Biographie
Der Autor Günter Eich wurde 1907 geboren und begann seine berufliche Laufbahn mit einem Studium der Sinologie, Jura und Volkswirtschaft. Im Jahr 1930 folgte die erste Veröffentlichung eines Gedichtbandes und ab 1932 hatte Eich genug Hörspielaufträge, um als freier Hörspielautor tätig zu sein. Zudem schrieb er in dieser Zeit für verschiedene Zeitschriften, unter anderem für die Kulturzeitschrift „Neue Rundschau”. Während dieser Zeit ermöglichte seine Tätigkeit beim Hörfunk ihm eine unpolitische, von den Nazis distanzierte Haltung. Ab 1939 war er als Soldat in der Funktion eines Funkers bei der Luftwaffe tätig. Mit dem Ende des Krieges 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er sich Hans Werner Richter und Alfred Andersch anschloss und Mitglied in der von ihnen gegründeten Literaturvereinigung Gruppe 47 wurde. Darüber hinaus verfasste er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft einige Gedichte wie „Latrine” und „Inventur”, die für die Kahlschlagliteratur der Nachkriegszeit beispielhaft waren. Diese Gedichte wurden zusammen mit der „winterlichen Miniatur” in der Gedichtsammlung „Abgelegene Gehöfte” veröffentlicht. Dabei wurde bereits in der „Kahlschlaglyrik” die Wandlung Eichs vom unpolitischen Dichter zum zeitkritischen Lyriker deutlich. Insgesamt lässt sich das Werk Günter Eichs in drei Phasen gliedern: Die romantische, die neusachliche und die experimentelle Phase. Dabei ist das Gedicht „winterliche Miniatur” in die neusachliche Phase einzuordnen, die kurz nach Kriegsende begann. In den fünfziger Jahren schrieb er noch eine Anzahl von Hörspielen und heiratete 1953 die Schriftstellerin Ilse Aichinger. Im selben Jahr erhielt er den Georg Büchner Preis und 1968 den Schiller Gedächtnis Preis. 1972 starb Günter Eich in Salzburg.
Günter Eichs Lyrikverständnis
Günter Eich überdauerte, wie viele Naturlyriker seiner Zeit, die NS-Zeit in einer inneren Emigration, indem sie sich aus der Gesellschaft zurückzogen. Daher war für ihn der Missbrauch der Sprache im Propagandaapparat der Nazis, der auch seine pauschale Ablehnung gelenkter Sprache bewirkte, ein wichtiges Thema seiner Lyrik kurz nach Kriegsende.
Eich vertrat wie viele Autoren nach dem Krieg die These, dass eine verstärkte Sprachhygiene von Nöten sei und schloss sich dem Anspruch an, dass Literatur eine „Gegen-Sprache” beziehungsweise „Gegen-Welt” sein sollte. Allerdings erlebte Günter Eich keine so ausgeprägte Sprachkrise wie Lyriker der hermetischen Lyrik7, die sich mit ihren Gedichten immer in der Nähe des Verstummens bewegten. Dies wird auch an dem Gedicht winterliche Miniatur deutlich, das in dem Gedichtband „Abgelegen Gehöfte” 1948 erschien und das zwar auch hermetische Elemente wie Chiffren8 enthält jedoch keinen Hinweis auf eine Sprachkrise Eichs gibt.
Darüber hinaus teilte Eich das Misstrauen über den Ausdruckswert der Sprache und den Wahrheitsgehalt des Wortes, der in vielen Gedichten zu einem verstärkten Gebrauch von Substantiven führte, der auch bei dem Gedicht „winterliche Miniatur” wieder zu finden ist.
In den Fünfzigerjahren entwickelte sich das Bewusstsein durch Schreiben den Dingen Wirklichkeit zu geben beziehungsweise eine nicht mehr greifbare Wirklichkeit durch das Gedicht erst herzustellen. Insbesondere Eich sah die Tätigkeit des modernen Dichters als die eines „Übersetzers” der die Sprache der Wirklichkeit in seine individuelle Sprache überträgt. Damit war für Eich Wahrheit keine Sache korrekter Wiedergabe mehr, sondern er fasste das Gedicht als einen Spiegel der Natur auf. Darüber hinaus betrachtete er die Welt als Sprache, was seiner Meinung nach mit dem Beruf des Dichters einhergeht. Eich nimmt die Realität nicht als gegeben hin, sondern sieht den Dichter als Schöpfer einer neuen und höheren Realität, in der sich die Dinge in Sprache verwandeln
Trotzdem hatte Eich eine tiefe Skepsis in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Sprache und dargestellter Wirklichkeit.
Im Laufe der Jahre distanzierte sich Eich immer mehr von seiner Lyrik der Anfangsjahre
Die Epoche des Gedichtes - naturlyrische Merkmale in „Winterliche Miniatur”
Die moderne Naturlyrik stellt eine rätselhafte Natur dar, die geprägt ist von Mystik und Verschlossenheit gegenüber dem Individuum. Sie ist in der Lage alle menschlichen Errungenschaften zu überdauern, ist also im Gegensatz zum Menschen und seinen Schöpfungen zeitlos. In der Naturlyrik sollen über den Weg der Dichtung die Landschaft dem Menschen wieder nahe gebracht werden. Dabei soll der Dichter als Vermittler oder „Übersetzer” wieder eine Verbindung zwischen Individuum und Natur aufbauen. Die Gesellschaft wird allerdings in der Naturlyrik kurz nach 1945 auf Grund der Erfahrungen in der NS-Zeit als Thema vollkommen ausgeklammert.
Ihre Ursprünge hat die moderne Naturlyrik in den Dreißigerjahren, in denen sie von Lyrikern wiederentdeckt wurde, weswegen viele Dichter, die zu diesem Zeitpunkt Naturgedichte schrieben, auch in der Naturlyrik nach 1945 wieder zu finden sind. Die Zeit des Dritten Reiches hatten die meisten dieser Dichter, wie auch Günter Eich, in einer inneren Emigration überdauert und knüpften nach dem Krieg wieder an ihr Schaffen in der Vor - NS - Zeit an. Allerdings führten die Erfahrungen der NS-Zeit, wie bereits erwähnt, zu einem völligen Rückzug jener Lyrik von politischen und gesellschaftlichen Themen.
In seinem ersten, nach dem Krieg veröffentlichten Gedichtband „Abgelegene Gehöfte” beschäftigte sich Günter Eich mit der naturmagischen Lyrik. Typisch für diesen Band, in dem auch das Gedicht „Winterliche Miniatur” erschien, sind naturmagische Gedichte, die allerdings wenig zeitbezogen sind. Das Ende dieser von einer angenehmen Wahrnehmung der Natur geprägten Lyrik kündigt sich aber bereits am Ende dieses Gedichtbandes in Gedichten wie „Frühlingsbeginn” und „Winterliche Miniatur” an und findet in Eichs nächstem Gedichtband seine Fortsetzung. Dabei erlangen Themen wie die Verzweiflung, die Armut, die Schwermut und vor allem die Vergänglichkeit zentrale Bedeutung. Die Natur wird nicht mehr als „eigene idyllische Welt” wahrgenommen, sondern als mit der Geschichte verwoben und dementsprechend mit Problemen beladen. Dies ist vor allem an der zunehmenden Betonung der Vergänglichkeit zu erkennen.
Vergleich des Gedichtes „Winterliche Miniatur” mit dem Gedicht „Latrine”
Kurze Analyse des Gedichtes „Latrine”
Das vorliegende Gedicht „Latrine” verfasst von Günter Eich 1948 beschreibt die Szenerie einer offenen Toilette in Frankreich, die von einem deutschen Soldaten verwendet wird. Es handelt sich um ein Antikriegsgedicht mit Elementen der Naturlyrik und wird der Moderne beziehungsweise der Nachkriegslyrik zugeordnet. Die in dem Gedicht behandelten Motive sind die Natur, Fäkalien und Poetik.
Günter Eich möchte mit seinem Gedicht die Situation des 2. Weltkrieges kritisieren. Eine weitere Grundintention ist die sehr kritische Darstellung der Vereinnahmung deutscher Autoren durch die Nationalsozilisten.
Mein erster Leseeindruck des Gedichtes war Ekel vor der geschilderten Situation sowie die Wahrnehmung einer deutlich ironischen Grundstimmung, die das gesamte Gedicht prägt. Diese vermittelt bereits beim ersten Lesen den Eindruck einer kritischen beziehungsweise ablehnenden Grundhaltung. Im ersten Abschnitt wird die Situation eines „lyrischen Ichs” geschildert, welches sich auf einer schmutzigen und in der freien Natur befindlichen Toilette aufhält. Danach folgt die Schilderung der die Jauchegrube umgebenden Natur und einer akustischen Wahrnehmung des „lyrischen Ichs“. In der zweiten Hälfte des Gedichtes werden die Gedanken des „lyrischen Ichs“, sowie die Wahrnehmung vorbeiziehender Wolken geschildert.
Das Gedicht besteht aus insgesamt 16 Versen und verfügt über eine unregelmäßige Reimart, wobei die Kreuzreime überwiegen. Darüber hinaus werden im Wesentlichen reine Reime verwendet und das Reimschema lautet abcb, defe, ghih, jkjk. Das Gedicht beginnt, mit der Beschreibung des „lyrischen Ichs“, das „umschwirrt von funkelnden Fliegen” (V. 3) auf einer schmutzigen Toilette hockt. Dabei ist das Toilettenpapier mit Blut und Urin verdreckt (V. 2). Dieser erste Abschnitt kann in Bezug auf die Intention des Autors, den zweiten Weltkrieg zu kritisieren, gedeutet werden, wobei die Kritik durch eine Darstellung unmenschlicher Zustände auf Seiten der deutschen Besatzer erfolgt. Dies legt unter Umständen die Vermutung nahe, dass es auf Seiten der besetzten Franzosen noch schlimmere Umstände gab. Allerdings kann das von Blut und Urin beschmutzte Toilettenpapier auch auf der poetologischen Ebene gedeutet werden. Auf dieser Deutungsebene steht es für die von den Nazis vereinnahmte deutsche Literatur, die der Autor als missbraucht und beschmutzt ansieht. Der nächste Abschnitt des Gedichtes beginnt mit einer Beschreibung der Natur um die Latrine, wobei das „lyrische ich” auf bewaldete Ufer, Gärten und ein gestrandetes Boot blickt, wobei das gestrandete Boot für den aus deutscher Sicht verlorenen 2. Weltkrieg stehen könnte. „In den Schlamm der Verwesung klatscht der versteinte Kot” (V. 7-8): Mit dieser Anspielung des „lyrischen Ichs” auf seine Verdauungsprobleme übt der Autor erneut durch die Beschreibung schlechter Umstände deutliche Kritik an der Kriegssituation und dabei insbesondere an der Westfront in Frankreich. Im nächsten Abschnitt des Gedichtes denkt das „lyrische ich” an „Verse von Hölderlin”, wobei Hölderlin hier als Beispiel für einen von den Nazis vereinnahmten deutschen Dichter verwendet wird, was am Reimen seines Namens auf Urin deutlich wird. Der Urin könnte in diesem Gedicht metaphorisch für die Beschmutzung der Literatur durch die Vereinnahmung der Nazis verstanden werden, da er sowohl in Bezug auf Hölderlin als auch zu Beginn des Gedichtes diese verkörpert. Mit dem eingeschobenen Vers „In schneeeigener Reinheit spiegeln” (V. 11) könnte der Autor der ursprünglichen Literatur eine „schneeeigene” also eine vollkommene Reinheit zusprechen wollen. Einen weiteren besonderen Bezug zu Hölderlin stellt Eich durch das Zitat „Geh aber nun und grüße die schöne Garonne” aus einem Gedicht Hölderlins her.
Sprachlich gesehen enthält das Gedicht mehrere Stilmittel. So verwendet Eich unter anderem Onomatopoesie (V. 8 „klatscht” und V. 9 „schallen”) um die geschilderte Situation bildlicher zu gestalten. Darüber hinaus verwendet er Alliterationen zum Beispiel „funkelnde Fliegen” (V. 3) und „Gärten, gestrandetes Boot” (V. 6) um den Bezug der Begriffe zueinander zu unterstreichen. Der im Vers 11 verwendete Vergleich von Schnee und Reinheit dient dazu die Reinheit zu betonen. Die zwei zentralen Wortfelder Natur und Fäkalien haben eine inhaltliche Spaltung des Gedichtes zur Folge. Die Haltung des Sprechers ist weitgehend neutral und trotz der unangenehmen Umstände ist kein Klagen des „lyrischen Ichs” erkennbar.
Gegenüberstellung der beiden Gedichte
Die Gedichte „Winterliche Miniatur” und „Latrine” wurden beide von Günter Eich in seinem 1948 erschienenen Gedichtband „Abgelegene Gehöfte” veröffentlicht. Während die Motive und die Grundaussagen der Gedichte nur geringfügige Überlappungen zeigen, weisen sie vor allem im formalen Bereich einige Gemeinsamkeiten auf.
Die Stimmungen des Gedichtes „Winterliche Miniatur” sind Resignation und Hoffnung während das Gedicht „Latrine” von einer ironischen Grundstimmung geprägt ist. Des Weiteren sind die zentralen Motive des Gedichtes „Winterliche Miniatur” Kultur und Natur sowie ihr Verhältnis zueinander. Außerdem befasst sich der Autor in dem Gedicht mit Schrift und Sprache und dem bei ihnen auftretenden Verfall sowie Verfallsprozessen in der Natur. Demgegenüber sind in dem Gedicht „Latrine” die zentralen Themen Fäkalien und die Kritik am 2. Weltkrieg. Die einzigen Überschneidungspunkte der Gedichte sind also die Natur und die Poetik.
Ihre Grundaussagen sind jedoch völlig verschieden: So beschäftigt sich der Dichter in „Winterliche Miniatur” mit dem Erleben der Natur und ihrer Bedeutung für das Individuum, sowie der Rolle der Poetik beziehungsweise des Dichters in diesem Zusammenhang. In dem Gedicht „Latrine” setzt sich Eich dagegen mit von den Nazis vereinnahmter deutscher Lyrik am Beispiel Hölderlins auseinander und übt deutliche Kritik am zweiten Weltkrieg.
In der äußeren Form weisen beide Gedichte einige Gemeinsamkeiten auf. So bestehen sie nur aus einer Strophe und verfügen beide über einen regelmäßigen Rhythmus. Darüber hinaus haben beide Gedichte als Reimschema einen Kreuzreim, wobei dieser in „Latrine” einige Abweichungen aufweist.
Zur Kommunikationssituation der beiden Gedichte ist zu sagen, dass in „Winterlichen Miniatur” ein neutraler Sprecher verwendet wurde während in Latrine ein „lyrisches ich” spricht. Die meisten Gemeinsamkeiten treten zwischen den Gedichten im Bereich der sprachlichen Mittel auf. Als Beispiele sind die verwendeten Enjambements, die Onomatopoesie und Alliterationen zu nennen. Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen beiden Gedichten ist, dass beide mit dem Wort „über” beginnen.
Die zahlreichen inhaltlichen Unterschiede und formalen Gemeinsamkeiten sind so zu erklären, dass Günter Eich in seiner Lyrik der unmittelbaren Nachkriegszeit einerseits unterschiedliche Themen aufgreifen wollte, sich dabei aber andererseits in den vorliegenden Gedichten einem ähnlichen formalen Rahmen bediente. Darüber hinaus nutzte er in diesen Gedichten zur Gestaltung der sprachlichen Bilder Begriffe aus dem Themenbereich der Natur.
In dem Vergleich wird Eichs Wandel in der Kahlschlagliteratur vom unpolitischen Dichter, der er während der NS-Zeit und bis kurz danach war zum engagierten Zeitkritiker deutlich. Greift er in seinem Gedicht „Winterliche Miniatur” ausschließlich unpolitische Themen wie Poetik und Natur auf, so setzt er sich in „Latrine” mit politisch relevanten Inhalten wie der Vereinnahmung von Lyrik während der NS-Zeit und dem zweiten Weltkrieg kritisch auseinander.
Kommentar
Günter Eich gelingt es in seinem Gedicht ”Winterliche Miniatur” auf eindrucksvolle Weise in einer bildlichen Naturbeschreibung in differenzierter Weise seine Auffassung über die Beziehung von Natur und Kultur sowie Schrift und Sprache darzulegen. Allerdings wird ein schnelles Verständnis des Gedichtes durch den Gebrauch von Chiffren erschwert. Sie machen es notwendig sich mit Epoche und Autor auseinanderzusetzen, um einen Zugang zu der Aussage des Gedichtes zu erhalten. Eine besondere Bedeutung erlangt das Gedicht, da man es zum einen als einen Spiegel seiner Zeit begreifen kann und es zum anderen ein Beispiel für das Frühwerk jenes Autors darstellt, der heute als Begründer der deutschen Nachkriegsliteratur gilt.
Insgesamt ist das Gedicht also nicht nur als interessantes, höchst aussagekräftiges Naturgedicht zu werten, sondern auch als beispielhaftes Dokument seiner Zeit und Werk eines großen deutschen Dichters.