Autor/in: Rainer Maria Rilke Epoche: Symbolismus Strophen: 5, Verse: 28 Verse pro Strophe: 1-4, 2-6, 3-7, 4-9, 5-2
Die Städte aber wollen nur das Ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf.
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.
Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.
Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, daß der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.
Und deine Armen leiden unter diesen
und sind von allem, was sie schauen, schwer
und glühen frierend wie in Fieberkrisen
und gehn, aus jeder Wohnung ausgewiesen,
wie fremde Tote in der Nacht umher;
und sind beladen mit dem ganzen Schmutze,
und wie in Sonne Faulendes bespien, –
von jedem Zufall, von der Dirnen Putze,
von Wagen und Laternen angeschrien.
Und giebt es einen Mund zu ihrem Schutze,
so mach ihn mündig und bewege ihn.
Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Die letzten beiden Strophen werden nur optional dem Gedicht zugeschrieben und können zusammen auch als eigenständiges Gedicht auftauchen („Und deine Armen leiden unter diesen“)
Das Gedicht erschien in dem dreiteiligen Gedichtzyklus „Stundenbuch“ (auch: „Stunden-Buch“). Dort gehört es zum dritten Teil bzw. Buch:
Erstes Buch — Das Buch vom mönchischen Leben (1899)
Zweites Buch — Das Buch von der Pilgerschaft (1901)
Drittes Buch — Das Buch von der Armut und vom Tode (1903)
Das Werk hat sehr starken autobiografischen Bezug, denn Rilke war nach dem Besuch einiger europäischer Metropolen schockiert und fühlte sich von den Städten abgestoßen. Seine schrecklichen Erfahrungen, die er in Paris machte, wo er sich 1902 erstmals aufhielt, hat Rilke in seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (Entstehung 1904-1910) verarbeitet.
Randnotiz: 1889 wurde der Eiffelturm fertiggestellt. Er war seinerzeit sehr kontrovers. Manche fanden ihn hässlich oder empfanden ihn als architektonische Frechheit. Jedenfalls begann in der Architektur die endgültige Abkehr von antiken Vorbildern. Das mag auch Rilke, der sich etwas Wahres und Unverfälschten erhofft hatte, irritiert haben (dies ist aber unbelegt!).
Allgemein steht das Gedicht in einer Tradition von zivilisations- und großstadtkritischen Werken, die mit der Industrialisierung in Deutschland ca. um 1840 langsam aufkamen. Eine Hochphase solcher Werke gab es dann von ca. 1900 bis 1933 (speziell durch den Expressionismus). Auch heute noch gibt es literarische Werke, die an diese Tradition anknüpfen. Heute würde man aber nicht mehr die Industrialisierung der Großstadt, sondern deren Digitalisierung thematisieren. Viele Themen sind aber auch heute noch aktuell (Schnelllebigkeit in der Stadt, Gegensatz zur Natur, Anonymität, Gegensatz von Arm und Reich...).
Das Gedicht erinnert sehr stark an den Expressionismus, obwohl diese Epoche natürlich erst später in Erscheinung tritt (ca. 1910 bis 1925). Speziell das Gedicht „Der Gott der Stadt“ (1910) von Georg Heym kommt hier in den Sinn, aber auch „Die Stadt“ (1911) vom selben Dichter. Auch in „Der Gott der Stadt“ wird die Stadt als Götze von seinen betörten und betäubten Bewohnern verehrt und vernichtet sie letzlich. Die Vernichtung geschieht bei Rilke, indem die wahren Bedürfnisse des Individuums vollständig absorbiert werden („sie können gar nicht mehr sie selber sein“, V. 12) und indem die Sucht nach kurzfristiger Konsum- und Lustbefriedigung („der Wein und alles Gift der Tier- und Menschensäfte sie reize zu vergänglichem Geschäfte“, V. 15ff) sowie die Geldgier („das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein“, V. 13f) die Unwelt/Natur und die Gesellschaft zerstört („Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere und brauchen viele Völker brennend auf“, V. 3f). Die erste Assoziation zur Vernichtung der Völker ist natürlich die „Hure Babylon“ und „Sodom und Gomorrha“; die unterschwellige Assoziation zur Bibel ist möglicherweise kein Zufall, denn Rilke galt zwar nicht als gläubig, aber doch als gottsuchender Mensch.
Die Stilmittel sind ebenfalls sehr ähnlich zu „Der Gott der Stadt“. Es werden Personifikationen1 benutzt (beginnt schon mit dem Titel des Gedichts), viele Metaphern2 und Assoziationen. Interessant ist auch die Ostwind-Metapher: Die Geldmengen sind so gewaltig wie die regelmäßigen Winde aus dem Osten. Sie sind gewaltig, unberrschbar und kalt. Mit dem Geld geht also auch eine soziale Kälte einher.
Die vielen Aufzählungen (viele „Unds“) und das durchgängige Versmaß (Trochäus) erzeugen ein Gefühl der Monotonie, Eintönigkeit, vielleicht auch Schnelllebigkeit/Hektik. Weitere Stilmittel lassen sich sicherlich noch finden, wie z. B. die/das Alliteration3/Personifikation/Tautologie4/Wortspiel „mündiger Mund“ (V. 27f).
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