Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Detlev von Liliencrons Gedicht „In einer großen Stadt“ erschien im Jahre 1883.
Literarisch ist es aus diesem Grunde in die Epoche des Realismus, aber auch schon in die Anfänge der Moderne einzuordnen.
Das Gedicht selbst besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen. Interessant dabei ist, dass sich keiner der Verse reimt. Dies wird im Folgenden weiter zu untersuchen sein. Die Kadenzen1 sind durchgehend männlich und führen zu einem dunklen und dumpfen Grundton. Eine Ausnahme bildet der jeweils zweite Vers der drei Strophen, dort ist die Kadenz nämlich weiblich.
Nun wird der Inhalt des Gedichts kurz zusammengefasst. Das lyrische Ich befindet sich, wie der Titel schon sagt, in einer großen Stadt, die nicht weiter spezifiziert wird. Die Menschen „treiben“ an dem lyrischen Ich vorbei, doch es kann nur einen kurzen Blick auf sie werfen, bevor sie schon vorüber sind. In der zweiten Strophe kann das lyrische Ich einen kurzen Blick auf den Sarg eines der vorüberziehenden Menschen werfen und in der dritten Strophe ist es sogar sein eigener Sarg, der wie die andern schnell vorübertreibt. Jede Strophe endet mit dem gleichen Vers: „Der Orgeldreher dreht sein Lied“.
An dieser Stelle möchte ich mich mit der Interpretation des Gedichtes befassen.
Bei der Betrachtung der ersten Verse der drei Strophen fällt auf, dass ihre Satzstruktur und auch einige Wörter gleich sind. Jeder Vers beginnt mit „es“ und beinhaltet das Nomen „Meer“. Interessant ist auch die Betrachtung der Verben: „treibt“ (V. 1), „tropft“ (V. 5) und „schwimmt“ (V. 9). Alle bezeichnen eine Wasserbewegung, die zu dem Wortfeld des „Meeres“ (V. 1, 5, 9) passt.
Das „Meer der Stadt“ ist eine Metapher. Die Menschen treiben darin passiv und ohne erkennbares Ziel. Für die Leute in der Stadt gibt es kein „Land“, d. h. keinen festen Standort, an dem sie sich festhalten können. Dies kann man einerseits lokal verstehen, d. h., dass es in der Stadt keinen ruhigen und festen Ort gibt, an dem sich ein Mensch aufhalten kann. Andererseits kann dies auch auf der emotionalen Ebene verstanden werden: in der Stadt gibt es keine festen Bande (Familie, Freunde), die einem Halt geben.
Das lyrische Ich scheint keinen der vorüber treibenden Personen zu kennen, da sie mit „der“ und „jener“ bezeichnet werden. Dies ist ein Kennzeichen für die Großstädte im 19. Jahrhundert. Die Anonymität der Menschen nahm mit dem Wachstum der Städte kontinuierlich zu.
Dadurch, dass dem lyrischen Ich so viele Menschen „vorüber treiben“, scheint es fast gleichgültig gegenüber diesen zu sein. Das wird verstärkt durch die Wiederholung des zweiten Verses in Zeile sechs; auch in Vers zehn wird „einer nach dem andern“ wiederholt. Somit wird auch das Bild des Meeres, in dem unzählige Leute an dem Sprecher vorbeitreiben, verstärkt.
Die jeweils dritte Zeile jeder Strophe beginnt mit „ein Blick“ und endet mit „vorüber schon“. Diese Kombination betont den Eindruck der Kurzweiligkeit des Blickes. Und ist auch ein Charakteristikum der Stadt. In der ersten Strophe geht der Blick noch ins Auge. Das Auge wird auch „das Fenster zur Seele“ genannt, weil man an den Augen viel über einen Menschen sehen kann. Dieser tiefer gehende Blick wird dem lyrischen Ich jedoch verwehrt, da der Vorbeitreibende schon „vorüber“ ist. Es kann die Personen und ihr Wesen nicht erkennen, da die Begegnung zu kurz ist. Jegliche Kontaktaufnahme wird ihm also nicht möglich.
In der zweiten Strophe wird das „Meer“ variiert durch den Ausdruck „Meer des Nichts“. Um dies deuten zu können, ist eine Betrachtung der nachfolgenden Verse von Bedeutung. Diesmal „tropfen“ (V. 5) „bald der, bald jener“ (V. 6) vorüber. Im siebten Vers erfolgt eine weitere Variation: „Ein Blick auf seinen Sarg“. Das lyrische Ich kann den Menschen also nicht mal mehr ins Gesicht sehen, sondern sieht nur noch deren Sarg, der natürlich für deren Tod steht. Auch dieser kann nicht lange betrachtet werden, er ist „vorüber schon“. Dies ist ein Zeichen dafür, dass in der Stadt kein Platz für lang anhaltende Trauer ist. Der Tod wird wahrgenommen und ist dann vorbei. Erinnerung scheint es nicht zu geben.
Nun lässt sich auch das „Meer des Nichts“ aus Vers fünf deuten. In dieser Stadt scheint es keinen Glauben zu geben. Keinen Glauben an Gott oder an ein Leben nach dem Tod. Deshalb „tropfen“ die Särge der Menschen ins „Nichts“. Und hiermit ist nicht nur der christliche Glaube gemeint, sondern jeglicher Glaube. Die Bewohner der Stadt scheinen jeden Glauben verloren oder nie gehabt zu haben.
Das Motiv des Todes wird auch in Strophe drei wieder aufgenommen: „Es schwimmt ein Leichenzug im Meer der Stadt“ (V. 9). Von den Gestorbenen gibt es an diesem Ort so viele, dass sie einen ganzen „Zug“ bilden. Bedeutsam ist auch die Variation der zweiten Zeile der letzten Strophe. In den vorhergehenden hieß es an dieser Stelle stets „Bald der, bald jener, einer nach dem andern“. In dieser Strophe heißt es: „Querweg die Menschen, einer nach dem andern“. Wobei „querweg“ ein Neologismus2 ist und die Tatsache, dass keine Menschen mehr zu sehen sind, zu betonen scheint.
Überraschend ist für den Leser vor allem die Variation der dritten Zeile des Gedichts: „Ein Blick auf meinen Sarg, vorüber schon.“ Auch das lyrische Ich ist gestorben und erfährt – wie die anderen – keine Beachtung. Auch er schwimmt vorüber und es scheint keine Erinnerung zu bleiben.
Das Gedicht schließt mit dem wiederkehrenden Satz: „Der Orgeldreher dreht sein Lied“. Interessant hierbei ist die Wiederholung des „Drehens“, anstelle eines anderen Verbs, wie z. B. „spielen“. Diese Repetitio3 verstärkt den Eindruck der steten Bewegung. Es wird zwar gedreht, was für die Bewegung steht, allerdings geschieht nichts Neues, da sich diese Drehbewegung immer in der gleichen Weise abspielt.
Der Orgeldreher kann hier verschieden interpretiert werden. Zum einen könnte er als ein Gott verstanden werden, der den Ablauf der Welt bestimmt, ohne sich um die Menschen im Einzelnen zu kümmern. Zum anderen, gerade in Bezug auf die oben stehende Interpretation, dass in dem Gedicht eine Welt ohne Glauben und Gott gezeigt wird, kann der Orgeldreher auch nur für den monotonen Ablauf in der Stadt stehen. Dies kann in diesem Fall nicht vollständig beantwortet werden und bleibt im Ermessen jeden Lesers.
Tatsache ist doch, dass dieser Vers, der jede Strophe auf diese Weise abschließt, betont, dass das Geschehen in dieser großen Stadt so weitergehen und kein Ende nehmen wird.
Zum Schluss möchte ich eine zusammenfassende Interpretation des Gedichts und eine Einordnung in die Entstehungszeit vornehmen. In dem lyrischen Text wird von dem Leben in einer großen Stadt erzählt. Der Ort wird nicht weiter spezifiziert, was die Annahme nahe legt, dass es sich in jeder großen Stadt so verhält.
Das Leben in dort ist gekennzeichnet durch Anonymität. Schnelllebigkeit und Monotonie.
Die Menschen scheinen einander nicht zu kennen und treiben ohne Reaktion aneinander vorbei. Ihr gesamtes Verhalten in dem Gedicht ist passiv. Durch das schnelle Leben in der Stadt bleibt kein Moment des Kennenlernens oder Wiedererkennens. Bevor das lyrische Ich die Vorbeitreibenden betrachten kann, sind sie schon vorüber. Dass das Verhältnis der Menschen zueinander gestört ist, zeigt auf der pragmatischen Ebene auch der fehlende Reim.
Das Vorbeitreiben (der Lauf des Lebens) und das Sterben geschehen in einer permanenten Wiederkehr, die durch den Orgeldreher am Ende jeder Strophe symbolisiert wird. Selbst der Tod ist in diesem Kreislauf nichts Besonderes, das Beachtung findet. Er geht - wie die Menschen zuvor - vorüber. Persönliche Beziehungen und Emotionen scheint es an diesem Ort nicht zu geben.
Wie schon erwähnt, wurde dieses Gedicht 1883 veröffentlicht. Somit fällt es in die Epoche des Realismus. Allerdings ist anzumerken, dass dies kein typisch realistischer Text, sondern eher einer der Moderne ist. Dies zeigt sich daran, dass die Wahrnehmung der Stadt nicht realistisch, sondern eher symbolisch (z. B. mittels Metaphern4) beschrieben wird.
Durch die zunehmende Industrialisierung im 19. Jahrhundert wuchsen die Städte in ganz Europa schnell an und dadurch ergaben sich neue – oft schlechte – Lebensbedingungen. Dies wurde von den Schriftstellern dieser Zeit darzustellen versucht. Somit wird in Detlev von Liliencrons Gedicht ein Ereignis der Zeit beschrieben, das bis hinein in die Literatur des Expressionismus aktuell blieb.