Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Tränen in schwerer Krankheit“ – da denke ich als erstes, dass ich mich jetzt mit einer lyrischen Beschreibung des Weinens, Trauer oder Tränen selbst eines Kranken widmen werde. Auf jeden Fall stimmt der gewählte Titel schon eine gewisse Schwermütigkeit an aufgrund seines negativbehafteten Wortes Krankheit, aber auch mit Tränen assoziiere ich mehr das Leid eines Menschen als das Glück (auch wenn es Glückstränen gibt)!
Beim Blick auf den Inhalt wird die Schwermütigkeit bestätigt, aber es ist da noch mehr versteckt als nur eine Beschreibung Zustandes oder eben diese im Titel erwähnten Tränen. Es wird zum Ende hin tiefsinniger vom Inhalt und in das Licht der Aussage scheint die Existenzfrage zu rücken, was im Titel kein bisschen angedeutet wird.
Es handelt sich hierbei um ein Gedicht aus dem Barock. Darauf verweisen einerseits die Überschrift des Arbeitsblattes wie auch der Autor Andreas Gryphius (1616-1664), der zu der Zeit des Barocks (1550 – 1750) wirkte und zahlreiche barocke Lyrik verfasst hatte. Andrerseits ist das Gedicht natürlich Indiz selbst und wahrlich ein Paradebeispiel barocker Lyrik. Auf den ersten Blick erkennt man schon die zeittypische Form eines Sonettes, dass heißt 14 Verse in den Reimen nach in ein Oktett aus 2 Quartetten und einem Sextett aus 2 Terzetten; zunächst wird der umschließende Reim (abba, abba) und dann der Schweifreim (ccd, eed). Um auch immer die gleichmäßige, starre Silbenaufteilung des Sonettes von 13 und 12 Silben zu erreichen, hat der Autor sich auch das Stilmittel der Apokope (Verkürzung – z. B. V. 2 „ich sitz“ V. 3 „fürcht“) zu Nutzen gemacht! Besonders auffallend und typisch für den barocken Schreibstil, das wird auch während der Detailinterpretation noch einige Male deutlich, ist einerseits die schwülstige und von Stilmitteln und Symbolen überladene Sprache, sowie auch das inhaltliche Chaos was im Gegensatz zur starren Form des Sonettes steht. Zum Beispiel auch durch Zäsuren2 (V. 3,5,13). Dazu folgt aber auch noch ein weiteres Beispiel. In der weiteren Interpretation werde ich noch häufiger die stilistischen Anzeichen auf barocke Lyrik in meine Argumentation einbringen.
In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich ausschließlich seinen psychischen Zustand. Es fällt auf, dass die Strophe mit „mir“ (V. 1) beginnt und mit dem selbigen Wort auch abschließt, ebenso dass nur in der Strophe das Wort „ich“ (fünfmal) so oft verwendet wird wie in keiner Weiteren. Das unterstreicht die Betonung der Person des lyrischen Ichs; das es alleine im Mittelpunkt der ersten Strophe steht und dessen Zustand.
Mit „Mir ist“ (V. 1) eröffnet das lyrische Ich den Versuch seine Verfassung zu beschreiben, aber durch den sofortigen Zweifelseinwurf („ich weiß nicht wie“ V. 1) wird deutlich, dass es nicht wirklich beschreiben kann, was ihm fehlt, an was es leidet, wie es ihm geht. Aufgrund des Titels lässt sich darauf schließen, dass das lyrische Ich sich als krank einschätzt, aber es handelt sich um keine „simple“ Krankheit wie ein Beinbruch, denn es ist ja eine schwere Krankheit, und die Schwere scheint darin zu liegen, dass es eine Krankheit der Seele ist. Denn sind grundloses („ich weiß nicht wie“) weinen (V. 2) und deprimiert sein (V. 1 „seufze“) auf Dauer (V. 1 „für und für“, V. 2 „Tag und Nacht“) ein Anzeichen für psychische Labilität. Aber das werde ich versuchen noch im weiteren Verlauf der Interpretation zu belegen.
Auf jeden Fall kann es seinen Zustand nicht konkret bezeichnen, sondern nur mittels Umschreibung. Der dabei verwandte Parallelismus (V. 1/2) und die Anapher (V. 1/2 „ich…“) unterstreicht stilistisch diese Verzweiflung, die die Krankheit dem „Geist des Gedichtes“ bringt, die dessen seelische Zustand zusetzt. Das Anakoluth3 des ersten Verses lässt den Leser die Unsicherheit des lyrischen Ichs spüren und die Zerstreutheit, denn vermittelt es das Gefühl, dass das lyrische Ich hilflos ein wenig vor sich her stottert, es fehlt ihn die Ordnung in seinem Reden, wie die Ordnung in seinem Kopfe fehlt. Die Schwere, die im Titel erstmals benannt wird, ist des Weiteren durch die Hyperbel4 „tausend“ (V. 2) untersetzt, dass die Qualen („Schmerzen“) ins Unendliche treibt, und es wird noch drastischer, da es im folgenden Vers nochmals wiederholt wird. Besonders auffallend ist hier schon die antithetische Aufstellung dieser zwei Teile „ich sitz in tausend Schmerzen“ und „und tausend fürcht ich noch“ in Satzbau, aber auch inhaltlich. Es tritt hier erstmals in dem Gedicht das sich immer wiederholende Thema der Vergänglichkeit auf, dass mittels Antithese dargestellt wird. Antithesen5 waren äußerst häufig verwandt in der barocken Lyrik. Es wurde oft und gern auf diese Weise ausgesagt, dass in der Zukunft alles schlechter/schlimmer oder tot sei als zum Jetztzustand. Jetzt sind die „Schmerzen“ schlimm, denn das Verb steht im Präsens und ist ein Handlungsverb, aber wahrscheinlich werden sie noch schlimmer werden, denn „fürcht“ ist ein zukunftsweisendes Verb.
Das lyrische Ich klagt, dass ihn nicht nur sein ewiger Trauerzustand (V. 1-3, „seufze“, „weine“) belastet (V. 3 „fürcht“), sondern es auch eingeschränkt wird in seinem Handeln („die Hände sinken mir“), Tatendrang („die Kraft in meinem Herzen“) und Denken („der Geist verschmacht“).
In der 2.Strophe beginnt es sein Antlitz (V. 5) zu beschreiben, die es eher mit dem eines Toten vergleicht. Bleiche Wangen und Augen, deren Glanz transparent und leer erscheinen. Es umschreibt das hier sehr symbolisch, denn der lebenslustige Augenglanz (V. 5 „der muntern Augen Zier“) „vergeht“ wie der „Schein der schon verbrannten Kerzen“. Dass heißt in der Zeile ist die Vergänglichkeit gleich mehrmals betont, mittels dem Verb „vergeht“, der Symbolik der Kerze (Vergänglichkeit) und dem Adjektiv „verbrannt“ – was verbrannt ist, ist vergangen. Und eine „schon verbrannte Kerze“ kann nicht mehr scheinen. Das ist demnach schon ein Widerspruch. Nur der transparente, graue Rauch schleiert noch als Illusion eines Scheines einer erloschenen Kerze. Das lebende, zündelnde Licht ist verglimmt und die Kerze tot, und somit die Vergänglichkeit in ihrem Endstadium – dem Tod! Aus diesen Überlegungen ziehe ich den Schluss, dass das lyrische Ich dem Leser seine Augen als tot dreinblickend beschreibt und bleiche Wangen weisen auch nicht mehr sehr viel Lebenskraft auf. Im Gegensatz aber zu seinen schwachen, leeren Antlitz steht es dagegen um seine Seele.
Diese ist Zentrum aller Unruhe. Das einzige was bewegt („bestürmt“) umschrieben wird. Dieser wird zugesetzt, von was ist aber nicht benannt. Es vergleicht es lediglich mit dem Frühjahrssee (V. 7 “wie die See im Märzen“), die, so les ich zwischen den Zeilen, von stürmischen Natur sein muss, denn steht das Verb „bestürmt“ in nächster Nähe. Das würde auch meine Behauptung unterstützen, dass seine Krankheit psychischer (“Seele“) Natur ist.
Denn was seiner Seele zuzusetzen scheint sind Gedanken und Fragen in seinem Kopf, nämlich jene Fragen die in Zeile 8 und 9 folgen. Mit denen es sich im weiteren Verlauf des Gedichtes auseinandersetzt und die somit den Übergang zum inhaltlichen 2. Teil dieser Lyrik bilden, indem nicht mehr das „ich“ und dessen Zustand im Mittelpunkt steht, sondern die Gedanken, die Philosophie und das „wir“ (fünfmal), all das was es krank machen! Der Grund seiner Tränen. Eine philosophische Frage, eine Frage der Identität und des Seins (V. 8). Die Frage stellt er an die Allgemeinheit und schließt sich mit ein („…wir, ich und ihr“)!
In der dritten Strophe greift er die Rhetorische Frage auf und erweitert diese mit weiteren Sinnfragen (V. 9), mit denen er sich darauf folgend monologisch auseinandersetzen wird. Auffallend ist die Versform, die hier verwandt wurde. Wie zu dem Beginn des Gedichtes sind die Verse mit Anaphern6 (V. 8/9„was…) und parallelen Satzbau (V. 8/9) ausgestattet und lassen somit auch förmlich erkennen, dass hier inhaltlich der zweite Sinnteil des Gedichtes beginnt und die Fragen somit die Überleitung zum philosophischen Part des Gedichtes darstellen. Die Fragen stellen dabei nicht nur die Grundlage der Untersuchung des Sinnes der menschlichen Existenz und der Gedanke der Vergänglichkeit dar, sondern können auch symbolisch als Vorankündigung/Einleitung gesehen werden für den folgenden philosophischen Teil. Die Sinnfrage ist schließlich Hauptmerkmal der Philosophie. Auch wenn es durch die unterschiedliche Versverteilung auf die Strophen aussieht als wären die beiden Teile des Gedichtes unterschiedlich lang, verfügen beide doch über sieben Verse. Das bestätigt wieder auf der einen Seite die starre Genauigkeit des Barocks, die Exaktheit – in dem Falle die genaue Aufteilung der Verse – aber auf der anderen Seite ergibt hier Inhalt und Form wieder mal keine Einheit, denn der 2.Teil beginnt nicht abgesondert vom 1. Teil, sondern bricht mitten ein in die 2.Strophe!
Des Weiteren unterlegt er seine Fragen mit einer Auseinandersetzung und verwendet natürlich wieder das barocktypische Thema der Vergänglichkeit, wie ich es schon in der ersten Strophe angerissen habe, das antithetisch dargestellt wird. Die Fragen, was der Mensch ist, welche Bedeutung seine Existenz hat, unterlegt er demzufolge mit dem Bedenken, dass das heutige Sein („heute sind wir hoch und groß“), was wir auch sind, welche Größe wir darstellen mögen, auch vergeht („morgen schon vergraben“), und vergleicht es parallel mit Blumen (V. 11), die zu Erde (V. 11 „Kot“) werden, wie der Mensch der durch Vergraben (V. 10) auch zu Erde wird. Auch hier ist wieder eine Überlastung von Symbolik und Stilmittel zu verzeichnen, wie es im barocken Stil üblich war. Stehen die Blumen ja schon als Symbol für Vergänglichkeit, bekräftigen sie noch die Antithese mit der Aussage der Vergänglichkeit, die als Vergleich dient. Der darauffolgende Vergleich ist eine Akkumulation (V. 11/12) von verschiedenen Formen leichter Natur, der das Strophenmaß überspringt (Enjambement7). Die Anordnung von Wind, Schaum, Nebel, Bach, Reif, Tau und Schatten scheint keine großen Zusammenhänge zu liefern, aber sie sind alle in ihrer Materie unzähmbar, nicht einfangbar. Es sind die Dinge, die nicht bleiben, nur etwas Scheinbares. Möglicherweise sollen diese Vergleiche auch nicht alle auf jeden zutreffen, sondern eher die Unterschiedlichkeit der menschlichen Existenz unterstützen. Der eine ist so, der andere so. Der eine gleicht mehr Existenziellen als der andere, dennoch sind die Vergleiche alle lose Materie. Im Resultat hieße das für die Menschen, dass trotz dieser Unterscheidung jede Existenz nur scheinbar ist, die eine mehr, die andere weniger.
Das unterlegt das lyrische ich auch wieder mit der Antithese der Vergänglichkeit (V. 13 „Itzt was, und morgen nichts“), um dieses schwermütige Motto immer wieder zu betonen.
Zum Schluss vergleicht es mit der Metapher8 „Taten“ (V. 13) als das Wirken der Menschen zu ihrer Lebenszeit mit einen „mit herber Angst durch aus vermischter Traum“. Ein Traum ist ebenso wie die in der Akkumulation benannten Materien, nichts Bleibendes, sondern vergeht nach jedem Aufwachen und gerät bald darauf in Vergessenheit. So scheint das Lyrische Ich für sich festgelegt zu haben, dass das Leben ebenso nichts Bleibendes ist und von Furcht (V. 14 „mit herber Angst durchaus vermischter) durchzogen scheint, dass somit auf die Allgemeinheit zu beziehen. Man beachte jedoch, dass das lyrische Ich von Bangen und Zweifel überfallen ist, Seelenkrank. So bezieht es also seine Unbehagen, die es trägt, weil es an der Sinnfrage der menschlichen Existenz scheitert, auf die gesamten Menschen indem es das Leben als angsterfüllt und unbedeutsam abserviert. Sozusagen „herbe Angst“ ist die Furcht des lyrischen Ich, wie sie im Gedicht zu spüren ist, besonders aus der ersten Strophe heraus. Aber auch verstärkt durch den elliptisch (z. B. „Itzt Blumen, morgen Kot“) und teils auch durch Inversion9 (V. 2/3 „ich sitz in tausend Schmerzen und tausend fürcht ich noch“) gekennzeichneten Satzbau.
Wenn man das Gedicht im Bezug zum Titel sieht, so könnte man der Ansicht sein, dass das Lyrische Ich diesen schwermütigen und lebensverneinenden Gedanken nachgeht, weil es krank ist. Aber in Anbetracht des Inhaltes, der Sprache und der körperlichen Unversehrtheit des Gedichtgeistes scheint mir, und damit bestätige ich nur meine Behauptung vom Beginn, dass das Lyrische Ich psychisch krank, also depressiv ist, weil es sich durch diese pessimistische Haltung selbst zerstört.
Und obwohl mir die nihilistische, düstere Grundhaltung des Gedichtes zuwider stößt, empfinde ich es als interessant mich damit beschäftigen zu müssen.
Ich mag mich zwar überhaupt nicht mit der Aussage anfreunden. Denn dass alles vergänglich ist, weiß ich schließlich auch und nach meiner Ansicht muss man diese Tatsache akzeptieren und sollte nicht seine Seele damit belasten, sondern gerade deshalb das Leben überlegt genießen.
Aber vielleicht es ist die Erfahrung selbst solche Gedanken einmal in sich getragen zu haben in tiefen Momenten, was Verbindung und Nachempfindung zu dem Gedicht und dessen Inhalt herstellt. Oder auch die zahlreiche Symbolik gekoppelt mit Philosophie, was aus dem ganzen ein kleines Rätsel macht. Dadurch macht es Freude darüber zu diskutieren und ein bisschen raten und erschließen, welche Aussage und Bedeutung im Mittelpunkt stehen.
Es war interessant. Aber ich würde mich nicht freiwillig mit so einem niederschlagenden Gedicht beschäftigen wollen.