Autor/in: Andreas Gryphius Epoche: Barock Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz' in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht' ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht', die Hände sinken mir.
Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?
Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,
Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Arbeitsauftrag (Klausur): Schreibe eine vollständige Gedichtinterpretation. Ziehe im Schluss unter anderem eine Parallele zu einem weiteren dir bekannten Gryphiusgedicht.
Denke daran, dass neben dem Inhalt auch die Sprache mitbewertet wird.
Das Sonett1 „Tränen in schwerer Krankheit“ von Andreas Gryphius erzählt von der Bedeutungslosigkeit des Lebens. Dieses wird als nutzlos beschrieben, wobei auch dessen Kürze und Vergänglichkeit stark zum Ausdruck kommen.
Das Gedicht ist sonetttypisch aufgebaut, die ersten beiden Strophen sind Quartette à vier Versen mit umarmenden Reimen, die letzten beiden sind Terzette à 3 Versen mit einem Schweifreim. Das Metrum2 ist ein regelmäßiger sechshebiger Jambus mit Mittelzäsur3. Dieser Alexandriner erzeugt einen monotonen, immer weiter fortlaufenden Rhythmus, der die Vergänglichkeit des Lebens betont, welches im Gedicht als zäh dahinschleppend und nicht ewig während bezeichnet wird.
Das lyrische Ich beschreibt eine gewisse Angst vor dem Leben. Die Alliteration4 in Vers 1 „ich seufze für und für“ zeigt, dass sich das lyrische Ich wohl durch das Leben quält. „Für und für“, also Tag für Tag, verbringt und vergeudet es sein Dasein mit Trauer („ich weine Tag und Nacht“, V. 2). Es erfährt Schmerzen und weiß dazu noch, dass es noch viel mehr Schmerzen zu erleiden haben wird („ich sitz in tausend Schmerzen und tausend fürcht ich noch“, V. 3f.). Warum es diese Schmerzen hat weiß man nicht genau, auch ob es physische oder psychische sind, ist unklar. Man kann jedoch vermuten, dass der Schmerz aus einer Krankheit resultiert, wie man bei Betrachtung des Titels erkennt. Ob diese Krankheit nun körperlich oder seelisch ist, bleibt unerkennbar, beides ist aber möglich, da in Vers 4 durch ein Enjambement5 („die Kraft in meinem Herzen / verschwindt“) auf ein seelisches Leid hingewiesen wird. Dieser Umbruch bewirkt außerdem, dass das Wort „verschwindt an erster Stelle in Vers 4 steht. Da dieses Wort ein Synonym für „vergeht“ ist, betont es die Vergänglichkeit des Lebens, welche nun in der zweiten Strophe an konkreten Beispielen festgemacht wird.
Das lyrische Ich spricht von einer „Bleichheit der Wangen“ (V. 5) und einem „Vergehen der Augen Zier“ (V. 5). In Vers 6 steht das Stichwort „vergeht“ wieder an erster Stelle, eine weitere Betonung der Nichtigkeit des Lebens. „Der Schein der schon verbrannten Kerzen“ (V. 6) steht hier für die bereits ausgebrannte Lebenslust. Das lyrische Ich beschreibt in dieser Strophe sich selbst und die Menschen, es stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens: „Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?“ (V. 8). Die Menschheit wird direkt vom lyrischen Ich angesprochen. Es will sie zum Nachdenken bringen und wissen, wozu das Dasein überhaupt gut ist. Hier kommt zum ersten Mal der Vanitas-Gedanke in dem Gedicht vor. Das lyrische Ich betont das Wertlose des Irdischen, es hat den Anschein, als ob es nicht weiß, warum es lebt.
Dieser Gedanke wird in Strophe 3 fortgeführt. Das lyrische Ich stellt weitere rhetorische Fragen („Was bilden wir uns ein? Was wünschen wir zu haben?“, V. 9) und erzeugt eine gespenstische Atmosphäre. Es vermittelt den Eindruck, dass es nichts bringt, irgendwelche Ziele im Leben zu haben, da es sowieso vergeht. Dies wird bestärkt durch das in Vers 10 vorkommende memento mori-Motiv. Das lyrische Ich fasst diesen Mahnruf in Form einer Antithese6 in Worte: „Jetzt sind wir hoch und groß und morgen schon vergraben“ (V. 10) heißt so viel wie jetzt, hier und heute, leben wir noch, doch bald sind wir schon tot. Was nützt es ein spaßerfülltes, erfolgreiches Leben zu haben, wenn man doch sowieso irgendwann sterben muss? Diese Frage stellt sich das lyrische Ich, es sieht keinen Sinn im Leben.
Im Übergang von Strophe 3 zu Strophe 4 beschreibt das lyrische Ich, wofür es die Menschen hält. Einmal mehr werden sie als vergänglich personifiziert. Die Begriffe „Kot, Wind, Schaum, Nebel, Bach, Reif, Tau und Schatten“ (V. 11f.) stehen alle für den Menschen. Genau wie ein Wind aufhört zu wehen, ein Schaum sich auflöst, ein Bach austrocknet oder ein Schatten verschwindet, so existiert auch der Mensch irgendwann nicht mehr. Der memento mori-Gedanke wird voll ausgeführt, die Antithese „[jetzt] was und morgen nichts“ (V. 13) beschreibt ähnlich wie in Vers 10 das unausweichliche Sterben jedes Einzelnen und die allgegenwärtige Endlichkeit des Daseins. Wofür das lyrische Ich das Leben und all die Dinge, die darin passieren, hält, wird im letzten Vers deutlich: Nichts „als ein mit herber Angst […] vermischter Traum“ (V. 14) ist das Diesseits für das lyrische Ich. Strophe 4 zeigt also, genau wie das ganze Gedicht, was die Bedeutung des Lebens für das lyrische Ich ist: Eine kurze und sinnlose Illusion, die irgendwann vergeht.
Das Gedicht „Tränen in schwerer Krankheit“ ist also, wie in der Interpretationshypothese vermutet, eine Erzählung von der Vergänglichkeit des Lebens. Gryphius macht, genauso wie zum Beispiel in seinem anderen Gedicht „Thränen des Vaterlandes“, einen ziemlich pessimistischen Eindruck, da er das Leben als wertlos und nutzlos ansieht. Jedoch ist dies insoweit verständlich und für die Barockzeit typisch, da die Menschen damals durch den Dreißigjährigen Krieg den Tod täglich vor Augen hatten. Mir persönlich gefällt das Gedicht sehr gut, da die Kernaussage gut zu erkennen und interpretieren ist und es einen nach mehrmaligen Durchlesen auch tatsächlich selbst zum Nachdenken über den Sinn des Lebens bringt.
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