Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das, der Epoche des Expressionismus zuzuordnende Gedicht „Nebel“ wurde 1913 von Alfred Lichtenstein verfasst.
Das lyrische Ich blickt in diesem Gedicht aus der Sicht der Menschheit, welche den Zerfall der Welt beobachtet und ihre Reaktion beschreibt.
Die Intention des Dichters ist die kritische Betrachtung des Weltzerfalls und des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, welches in diesem Gedicht eine erhebliche Rolle spielt.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen. Das gesamte Gedicht ist in einem fünfhebigen Jambus und im Schema des Kreuzreims verfasst. Diese klare Struktur wird im Expressionismus häufig als Gegensatz zur chaotischen Weltanschauung verwendet.
Die erste Strophe des Gedichts beschreibt wie alles verfällt und abstirbt. In dieser wird vor allem der „Nebel“ (V. 1) als Zerstörer der Welt bezeichnet (vgl. V. 1-4) der auch bereits im Titel benannt ist.
In der zweiten Strophe wird der „Mond“ (Z. 8) als feindlicher Gegenstand dargestellt und des entsteht das Bild einer gefangenen Fliege, welche um das Überleben kämpft, was in dieser Strophe mit dem flackernden Gaslaternen gleichgesetzt wird (vgl. V. 5-8).
In der dritten Strophe wird dann die Reaktion der Menschen auf diesen Weltuntergang angesprochen. Diese scheinen sich stumm gegen die Natur zu stellen, obwohl sie bereits zum Tode verurteilt sind (vgl. V. 9-12).
In diesem Gedicht werden typische Stilmittel des Expressionismus verwendet, welche zum Beispiel Enjambements1, Neologismen2 und Onomatopoesien sind.
Lichtenstein verwendet ein Enjambement in den Versen 7 und 8, wodurch der „giftige Mond“ (V. 8) als „fette Nebelspinne“ (V. 8) besonders hervorgehoben wird.
Die „Nebelspinne“ (V. 8) ist außerdem ein Neologismus, welcher die sowieso vorherrschende Abscheu gegenüber dem Mond verdeutlicht. Diese wurden bereits durch die Beschreibung als giftig hervorgerufen, welche nicht nur Abscheu, sondern auch Angst impliziert, da Gift zum Tod führen kann und was dann durch die Bezeichnung als Nebelspinne verstärkt wird.
Der Nebel steht für etwas Ungewisses, da er die Sicht auf etwas verschleiert und Spinnen sind Tiere, vor denen viele Menschen Angst haben und welche bei anderen Menschen Ekel erzeugen.
Dies alles stellt also ein negatives Verhältnis zwischen Mensch und Natur dar, da die Natur verabscheut wird.
Ein weiteres Enjambement befindet sich in den Versen 11 und 12. Dort gibt es außerdem einen weiteren Neologismus mit „Elendsaugen“ (Z. 11). Dort steht das Elend für das Leid der Menschen, welches durch den allgemeinen Verfall entsteht. Die Menschen zeigen Gefühle, vor allem negative, häufig mit den Augen. So spricht man auch häufig von „traurigen Augen“, weshalb in diesem Fall auch das Elend dadurch die Augen vermittelt wird.
Eine Onomatopoesie wird in Vers 10 verwendet. Dort gebraucht Lichtenstein das Wort „knirschend“, welches beschreibt wie die Menschen sich durch die Trümmer bewegen. Es beschreibt zum Einen das Geräusch, welches das Laufen durch etwas Kaputtes erzeugt und zum Anderen auch die „zerknirschenden“ Gefühle der Menschen dabei.
Weitere Stilmittel ziehen sich durch das gesamte Gedicht. So wird beispielsweise häufig die Natur im ersten Vers mit „Nebel [...] zerstört“. Der Nebel, der vielleicht unscheinbar und ungefährlich wirkt, wird als Zerstörer personifiziert
Doch das Unscheinbare des Nebels wird durch ein Paradoxon3 mit „weich zerstört“ (V. 1) bewahrt. Denn einer mit Schlechtem und Gewalt assoziierten Zerstörung wird das positiv konnotierte Adjektiv beziehungsweise in dem Fall Adverb „weich“ gegenübergestellt.
Eine weitere Personifizierung die auch als Metapher4 gesehen werden könnte, ist die Bezeichnung der „[b]lutlose[n] Bäume“ (V. 2). Die Personifizierung besteht darin, dass einen Baum die menschliche Körperflüssigkeit „Blut“ zugesprochen wird und die metaphorische Darstellung des Todes durch Blutlosigkeit. Diese Bäume und deren Absterben werden außerdem weiter beschrieben, als würden sie sich in Rauch auflösen (vgl. V. 2), was für eine Verbrennung dieser steht. Eine solche Verbrennung wurde wahrscheinlich durch den Menschen erzeugt, was nicht nur eine Abscheu des Menschen gegenüber der Natur, sondern auch eine Zerstörungswut ihr gegenüber impliziert.
Im nächsten Vers ist von Schreien die Rede, welche man dort hört, wo auch Schatten schweben (vgl. V. 3). Diese Schatten stehen für die Geister bereits verstorbener Personen, von denen man noch die Schreie hört, die sie von sich geben, als sie starben. Dieses Bild des Sterbens wird auch im darauf folgenden Vers weitergeführt, in dem „[b]rennende Biester“ (V. 4) benannt werden, welche „hinschwinden wie Hauch“ (V. 4). Die brennenden Biester können entweder für die Teile der Natur stehen die ebenfalls wie die Bäume verbrannt wurden und nun wie ein Hauch in Asche zerfallen, oder es geht um Menschen, die beim Untergang der Welt verbrennen, Bei dieser Deutung würden die Menschen allerdings mit der Natur gleichgestellt, da sie sich ebenfalls überhaupt nicht gegen den Tod wehren können.
In der zweiten Strophe, werden Gaslaternen, die eigentlich als Licht im Dunklen verwendet werden könnten und das letzte bisschen Hoffnung sein könnte, als flackernd und kurz vor dem „entrinne[n]“ (V. 6) beschrieben. Das bedeutet, dass auch diese „sterben“ beziehungsweise erlischen. Dies wird durch das Bild der gefangenen Fliege verdeutlicht (vgl. V. 5). Denn Fliegen haben generell ein sehr kurzes Leben, welches durch die Gefangenschaft nach unschöner gemacht und teilweise auch verkürzt sind.
Außerdem wird in dieser Strophe das bereits erwähnte Bild des giftigen Mondes verwendet, welcher auf die Erde herab „lauert“ (V. 7) und als einziger dem Untergang entkommen zu können scheint. Das Wort „lauern“ wirkt außerdem recht gehässig, weshalb dem Mond ebenfalls eine animalische Eigenschaft zugeschrieben wird und außerdem wieder als Feind des Menschen gesehen wird.
In der letzten Strophe, in der das Durchschreiten der Menschen durch die zerstörte Welt beschrieben wird, verwendet Lichtenstein ein Paradoxon. Dieses ist „wüste Pracht“ (V. 10) und steht für die Ästhetik des Hässlichen, die im Expressionismus häufig zu finden ist. Denn obwohl alles „wüst“ und zerstört ist, wird es trotzdem noch als Pracht bezeichnet, welches normalerweise etwas Schönes bezeichnet.
Des Weiteren befindet sich in dieser Strophe ein Vergleich, bei dem die „Elendsaugen“ der Menschen mit „Spieße[n]“ (V. 12) verglichen werden, welche stumm in die „aufgeschwollene Nacht“ (V. 12) stehen. Der Vergleich mit den Spießen sorgt für eine gefährliche Assoziation der Augen und die durch aufgeschwollene personifizierte Nacht wirkt geschwächt. Bereits vorher wurde beschrieben, dass die Menschen eigentlich nur noch zum „Tode taugen“ (V. 9), welches außerdem eine Alliteration5 ist, doch da sie über der Natur stehen und diese lenken und beeinflussen können schaffen sie es trotzdem die Zerstörung zu durchschreiten und sich gegen die Nacht zu wehren und aufzulenken.
Das Gedicht beschreibt im expressionistischen Stil, der vor allem durch eine negativ besetzte Wortwahl deutlich wird, das Untergangs- und Zerfallsmotiv, welcher im Expressionismus stark vorherrscht. Das Gedicht wurde 1913 und damit ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg verfasst. Dort konnte man den Krieg bereits vorahnen, woher das Untergangsmotiv stammt und wodurch auch die negative Grundstimmung entstand.
Außerdem beschreibt das Gedicht die Natur als sehr böse und zerstörerisch, was das Verhältnis zwischen ihr und den Menschen negativ beeinflusst. Trotzdem wird der Mensch über die Natur gestellt und kann ihr trotzen.