Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht Punkt ist von Alfred Lichtenstein, stammt aus dem Jahr 1913 und gehört in die Epoche des Expressionismus (1910-1920/25). Der Text entstand in einer für den Autor bewegenden Zeit. Im gleichen Jahr trat er in ein Infanterieregiment in München ein. Er fiel am 25. September 1914 bei Vermandovillers an der Westfront. Thematisch setzt er sich in diesem Gedicht mit zwei wichtigen Themen dieser Zeit auseinander, mit der Großstadt und dem Ichzerfall.
Großstädte wurden in der Zeit häufig in der Literatur thematisiert, weil sie sich damals im Zuge der schnell verlaufenden Industrialisierung und Urbanisierung rasant ausbreiteten. Teils wurden zügig neue Stadtviertel für die Zuwanderer vom Land gebaut, in denen die Arbeiter auf engem Raum und unter erbärmlichen Umständen lebten. Zu der neuen Konzentration von Menschenmassen kamen technische Entwicklungen wie die Eisenbahn, das Automobil und die Straßenbahn, die das Lebenstempo der Menschen beschleunigten. Ferner wurden die Menschen nun mit Verkehrslärm, Abgasen und neuen irritierenden Sinneseindrücken wie elektrischer Beleuchtung oder Neonreklamen konfrontiert. Sie nahmen diese neuen Eindrücke teils zunächst mit großer Skepsis auf. Im Expressionismus überwiegt eine negative Einstellung zur modernen Großstadtwelt und zur Zivilisation und so beschreiben die Autoren besonders ihre Schattenseiten, wie zum Beispiel in Georg Heym Der Gott der Stadt, in Alfred Wolfensteins Städter, aber auch in Lichtensteins Die Stadt.
Der kritischen Einstellung zur Großstadt und zur Zivilisation entspricht das Gefühl der Ohnmacht, der Verlorenheit und der Ichauflösung des lyrischen Ichs. Vietta definiert den Ich-Zerfall als Krise des Subjekts angesichts einer im modernen Lebensraum nicht mehr integrierbaren Wahrnehmungsfülle. Genau diese Schwäche wird in Punkt dargestellt. Teilweise beschreiben expressionistische Gedichte auch den körperlichen Verfallsprozess, wie zum Beispiel Gottfried Benn, der in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke den Verfall an Krebspatienten darstellt oder in Schöne Jugend an einer von Ratten zernagten Wasserleiche, die sich auch in Georg Heyms Die Tote im Wasser findet. Der Verfallsvorgang wird in vielfältigen Variationen dargestellt und steht in Verbindung mit Themen wie Krankheit, Selbstmord, Verfall und Verwesung des Ichs, bzw. mit der Ästhetik des Hässlichen. Der Ichzerfall wird einerseits negativ beschrieben wie in Lichtensteins Punkt, andererseits wird er beispielsweise in Gottfried Benns D-Zug oder in Kokain als lustvolle Ich-Entgrenzung erlebt, in der man der Rationalität entgeht.
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit vier Versen und ist in einem umarmenden Reim im Jambus verfasst. Beide Strophen sind gleich aufgebaut: Die ersten beiden Zeilen zeigen bedrohliche Erscheinungen der Stadt auf, während die letzten beiden Verse die negativen Auswirkungen auf das Ich und den voranschreitenden Ich-Zerfall verdeutlichen. Beide Themen sind also zu gleichen Anteilen präsent. Passenderweise verwendet der Autor jeweils ein Enjambement1 in der ersten zur zweiten Zeile, was den Lesefluss zum Einstieg flüssiger macht und zur hektischen und bedrohlichen Situation des Stadtlebens passt. In den letzten beiden Zeilen kommen keine Zeilensprünge mehr vor, wodurch der Lesefluss ins Stocken gerät. Dazu kommt, dass Lichtenstein gerade am Ende immer kürzere Sätze verwendet, wodurch er auch formal die Resignation und Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs verdeutlicht. Lichtensteins bildhafte Sprache steigert die Wirkung des Textes: „Die wüsten Straßen fließen lichterloh“ (V. 1), „Die Nacht verschimmelt“ (V. 5), „Giftlaternenschein“ (V. 5). Im Expressionismus wurde oft die Sprache verfremdet, was sich auch in diesem Gedicht findet, womit Lichtenstein einen grotesken Eindruck schafft (verschimmeln (V. 5), erfrieren (V. 7)). Während der Autor Erscheinungen der Stadt (Straßen, Laternenschein) und die Nacht belebt, wird das Ich verdinglicht („erloschener Kopf“ (V. 2), „Das Herz ist wie ein Sack.“ (V. 7)). In dem Text kontrastieren wie so oft im Expressionismus traditionelle lyrische Formen mit neuen expressionistischen Themen.
In der ersten Strophe beschreibt Lichtenstein zunächst metaphorisch wie der Verkehr durch den Kopf des lyrischen Ichs zieht, worunter das Ich leidet. Dabei dreht er das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis um, indem der Verkehr das Subjekt ist und das Ich das Objekt. Man könnte den Verkehr auch als Täter und das Ich als Opfer betrachten, die sich antithetisch gegenüber stehen. Der hektische Stadtverkehr wird als „wüst“ und „lichterloh“ (V. 1) bezeichnet, während das Ich einen „erloschene[m] Kopf“ (V. 2) hat, wodurch der Verkehr lebhaft wirkt und das Ich tot. Das Wort ‚wüst‘ beschreibt die Hektik des Verkehrs und ‚lichterloh‘ bezieht sich vermutlich auf die Lichter der Autos. Durch die Personifizierung wirkt der Straßenverkehr bedrohlich, was durch die Adjektive ‚wüst‘ und ‚lichterloh‘ gestützt wird, die Assoziationen an Feuer, also an eine Gefahr, zulassen. Der Verkehr könnte allgemein für die Hektik des Stadtlebens stehen, das buchstäblich an dem lyrischen Ich vorbei zieht. Lichtenstein steigert diesen Eindruck, indem er das Gefühl ausdrückt, dass der Verkehr bzw. das Leben nicht am Sprecher vorbeiziehen, sondern durch ihn hindurch ziehen. Der erloschene Kopf verdeutlicht, dass das Ich von den Eindrücken der Großstadt überfordert ist, es kann sich nicht mit der ihn umgebenden Hektik und Schnelllebigkeit identifizieren und steht der personifizierten Stadt hilflos gegenüber.
Der Ich-Zerfall äußert sich in einer ausgeprägten Selbstentfremdung des lyrischen Ichs, eines Stadtbewohners. Der Sprecher wirkt sensibel, verletzlich und labil und stellt im dritten Vers voll Schwermut fest: „Ich fühle deutlich, da[ss] ich bald vergeh –“ (V. 3). Dieser Satz verdeutlicht das volle Ausmaß des Leids, das ihm der feindlich empfundene Lebensraum verursacht und lässt bereits das tragische Ende des Gedichts erahnen. Im vierten Vers spricht der Sprecher zu sich selbst: „Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.“ (V. 4), was wie ein schwacher Versuch wirkt, weiteren Schmerz abzuwehren. Die Wahrnehmung von stechenden Dornrosen verdeutlichen, dass das Ich sich psychisch an einem sehr kritischen Punkt befindet, an dem es mögliche Aggressionen gegen sich selbst zu richten scheint, was wohl auf die bedrohliche Wirkung der Stadt zurückzuführen ist. Der Ich-Zerfall schreitet nun durch äußere und innere Einwirkungen und Entwicklungen unaufhaltsam voran.
In der zweiten Strophe beginnt der Sprecher mit der Schilderung der Nacht, die für die Natur steht: Man könnte zunächst davon ausgehen, dass die Nacht vielleicht Trost und Ruhe vom anstrengenden Tag bietet. Im Expressionismus stellt die Natur aber keinen Fluchtort dar und demnach kann die Natur / Nacht keinen Ausgleich zur bedrohlichen Stadt bieten. Da expressionistische Lyrik sehr auf das Ich bezogen ist, wird die Darstellung der Natur oft der Wahrnehmung des Ichs angepasst und zu Projektionen und Ausdrucksweisen des menschlichen Gefühls, wodurch die Landschaft oft bedrohlich personifiziert wird. Demnach ist die Nacht in der industriellen Umgebung der Stadt „verschimmelt“ (V. 5). Das Wort ‚verschimmelt‘ fällt besonders auf, weil es in einem fremden Zusammenhang verwendet wird. Das Verb löst negative Assoziationen aus, wirkt an dieser Stelle abstoßend und grotesk und personifiziert die Natur. Dieser Zustand scheint jedoch nicht von Dauer zu sein, da die Nacht entsprechend der Situation des Ichs auch einem Verwesungsprozess unterworfen ist, wodurch das expressionistische Motiv der Vergänglichkeit durchklingt. Die Nacht verbindet sich durch die Wahrnehmung des Ichs mit der Zivilisation zu einer bedrohlich, abstoßend wahrgenommenen Umwelt.
Der „Giftlaternenschein“ (V. 5) hat die Nacht „kriechend (...) mit grünem Dreck beschmiert“ (V. 6). An dieser Stelle wird angegeben, dass die Nacht ihre Schönheit durch den Laternenschein eingebüßt hat. Straßenlaternen waren damals noch recht neuartige Erscheinungen, denen der Sprecher mit Ablehnung begegnet. Die Laterne könnte in dem Fall für die Industrialisierung und die Zivilisation oder einfach für alles Neue allgemein stehen, was oftmals zunächst mit Ablehnung aufgenommen wird. Der Sprecher hat Angst vor Veränderungen und empfindet demnach das künstliche Laternenlicht als giftig und unnatürlich. Das Wort ‚Gift‘ aus dem ersten Vers verbindet sich mit dem Adjektiv ‚grün‘ aus dem zweiten Vers zu der Farbe ‚Giftgrün‘, die negative Assoziationen auslöst. In der Wahrnehmung des lyrischen Sprechers wird nicht nur die Nacht belebt, sondern auch die Laterne, die „kriechend“ die Nacht mit Dreck beschmiert. Das Verb ‚kriechen‘ schafft ebenfalls einen bedrohlichen Eindruck.
In den letzten beiden Versen äußert das lyrische Ich in kurzen abgehakten Sätzen seine Gefühle: „Das Herz ist wie ein Sack“ (V. 7). Mit diesem Satz knüpft der Sprecher wieder an dem Bild des erloschenen Kopfes an, weil das Wort ‚Sack‘ auch mit Leblosigkeit assoziiert wird. Diese Aussage wird im nächsten Satz gesteigert, in dem das Blut „erfriert“ (V. 7). Statt des Verbs ‚gefrieren‘ verwendet Lichtenstein das Verb ‚erfrieren‘, das man eigentlich nur im Kontext mit Menschen benutzt. Damit steht das Blut metonymisch3 für den ganzen Menschen. Das Bild der Erfrierung verdeutlicht die innere Resignation oder sogar einen innerlich erlebten Tod. Im vierten Vers fällt die Welt um und die Augen stürzen ein. Lichtenstein kehrt hier erneut das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis um, indem anstelle des Menschen die Welt umfällt. Lichtenstein verfremdet mehrfach die Sprache, um die Aussage zu steigern, was ihm durch die Verwendung der Wörter ‚erfrieren‘, ‚umfallen‘ und ‚einstürzen‘ gelingt. Die Wendung ‚die Augen stürzen ein‘ soll wohl für ‚die Augen schließen sich‘ stehen. Zum Abschluss erfährt der Sprecher seine persönliche Apokalypse in einem grotesken Bild, was ausdrucksstark geschildert wird durch die kurzen Sätze, den stockenden Lesefluss und besonders durch die ungewöhnliche Sprachverwendung.
Das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis ist im ganzen Text umgekehrt, denn das Ich ist kein Subjekt, das die Welt autonom wahrnimmt, sondern Objekt, durch dessen Kopf die Welt fließt. Die Welt und das Ich haben also die Positionen getauscht. Die Grammatik ist dieser Umkehrung stimmig angepasst. Das Ich ist wie in Georg Heyms Der Gott der Stadt und in Alfred Wolfensteins Städter ein Opfer seiner eigenen Erfindung: Das Stadtleben erscheint als übermächtige, autonome4 und bedrohliche Welt, an der das Ich scheitert. Es kommt nicht mehr zurecht mit der Schnelligkeit und Hektik des städtischen Lebens und hat Angst vor Veränderungen, was sich in der Aversion vor der Straßenlaterne zeigt. Die zerstörerische Wirkung der Stadt führt beim Ich zu Depressionen, es nimmt alles um sich herum als Bedrohung wahr, wodurch der Ich-Zerfall in einem nicht mehr aufhaltbaren Auflösungs- und Verfallsprozess unaufhaltsam voranschreitet. Am Ende erlebt das Ich den kompletten Ich-Zerfall, was in mehreren Bildern ausdrucksstark geschildert wird: „Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert. Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.“ (V. 7-8). Mit dem Vergehen des Subjekts stürzt auch die wahrgenommene Welt zusammen. Es bleibt offen, ob die Welt im übertragenen Sinn zusammenfällt, weil das Ich einen psychischen Zusammenbruch erleidet oder ob das Ich Selbstmord begeht. Man könnte den Zusammensturz der Welt auch als eine allgemeine Apokalypse verstehen, wie in den Gedichten Weltende von Jakob van Hoddis und in Georg Heyms Der Gott der Stadt. Demnach würde das Ich exemplarisch für alle ichzerfallenden Menschen in einer feindlichen Umgebung stehen. Wichtiger als eine festgelegte Aussage scheint Lichtenstein die Darstellung des Auflösungsprozesses des Ichs gewesen zu sein und die Verdeutlichung des Gefühls, es in dieser Welt nicht mehr auszuhalten. Lichtenstein kritisiert wie Georg Heym, Alfred Wolfenstein und andere Expressionisten das hektische Großstadtleben und die Zivilisation, indem er deren negative Folgen für den Menschen beschreibt.
Man könnte die Überschrift so deuten, dass sich die Welt und das Subjekt zum Punkt verflüchtigen. Das Wort ‚Punkt‘ ist ein Satzschlusszeichen und steht immer am (Wort-)Ende. Nimmt man diese Funktion wörtlich, könnte der Titel eine Metapher5 für das Ende des Ichs sein: Nach dessen Verfall bleibt nur noch der Punkt.