Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der 1937 geborene postmoderne Dichter und Karikaturist Robert Gernhardt spricht mit seinen oft ironischen Gedichten ein intellektuelles Publikum an. Das Gedicht „Bruder Otter“ aus dem Sammelband „Lichte Gedichte“ stammt aus dem Kapitel „natürlich“. Dieses Gedicht ist ein Paradebeispiel für die ausgeprägte Intertextualität und Gernhardts Vorliebe dem Leser ein ernstes Thema in einem komischen Mantel zu präsentieren. Der selbst sehr naturverbundene und vor allem tierliebe Dichter thematisiert und kritisiert in dem formal ansprechenden Gedicht den Umgang des Menschen mit der Tierwelt am Beispiel des Otters, einer vom Aussterben bedrohten Tierart. Diesen gesellschaftskritischen Zug, den das Gedicht aufweist ist ebenfalls absolut Gernhardt-typisch.
Das Gedicht besteht aus 9 Strophen mit Versen je unterschiedlicher Länge. Es gibt zwar kein festes Reimschema, aber viele Reime, vor allem unreine. So in Strophe 1 Vers 2 und 4 („lassen, müssen2), Strophe 2 Vers 3 und 4 („gefüttert, Gitter“), Strophe 7 Vers 1, 2, 3 und 4 („Otter, Gitter, Gatter, Götter“). In den ersten 7 Strophen kommen als reine Endreime, welche als Paarreime in Erscheinung treten nur folgende vor: Strophe 2 Vers 7, 8 „Ah! Ja?“, 4. Strophe V. 7, 8 „nah, Ja?“, 6. Strophe V. 8, 9 „Haha! Ja?“. Hierbei ist auffallend, dass diese Paarreime alle in den letzten beiden Versen der gradzahligen Strophen vorkommen und das zweite Reimwort immer „Ja?“ ist. In Strophe 8 ändert sich das Reimschema, es wird sehr regelmäßig. Von Vers 1-10 bilden immer zwei Verse unterschiedliche Paarreime („bis, ist/ zugedacht, zugebracht/ fleucht, gereicht (unrein)/ entsteht, vergeht/ Retter, Vetter“). Die letzten drei Verse reimen sich auch („Selbstvergotter, Allesandereausrotter, Otter“). Dieses insgesamt unregelmäßige Reimschema ist sehr durchdacht; der Dichter lenkt so die Aufmerksamkeit auf die Stellen, an denen ein reiner Reim ist und so sticht dem Leser besonders die achte Strophe ins Auge, die auch auf anderer Art und Weise hervorgehoben wurde. Das Gedicht hat ein vorwärtsdrängendes Metrum1, das mit dem fortlaufenden Dialogcharakter harmoniert und den Leser in einen Lesefluss bringt. Es ist zwar kein festes Metrum durchgehalten, jedoch ist festzuhalten, dass es trotzdem in gewissem Maße regelmäßig wirkt, was dadurch erreicht wird, dass es in jedem Vers viele Hebeungen gibt und von den Versen mit reinen Endreimen abgesehen alle Kadenzen2 weiblich sind. In dem Gedicht gibt es sehr viele Enjambements3, weshalb der Hakenstil4 hier dominant ist, aber auch nicht durchgehend eingehalten wird. In den einschubartigen einversigen Strophen (Strophe 3 und 5) entspricht eine Strophe immer einer Frage. Die „Einschubstrophe“ 7 ist ebenfalls herausgehoben strukturiert, immer 2 Verse ergeben einen Satz und die Versenden sind immer nach Klang gewählt. Auch hier fällt die 8.Strophe am auffälligsten aus dem Muster: zwei Verse bilden einen Satz, wobei jeder Vers entweder mit einem Punkt oder Komma endet. Dieses Muster wird in dieser Strophe streng nur bis Strophe 8 durchgehalten.
In dem Gedicht wird ein Dialog zwischen dem lyrischen Ich, welches als Vertreter der Menschheit zu sehen ist und Gott dargestellt. Dieses fiktive5 Gespräch findet zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft statt, „am Ende aller Tage“ (V. 3), und thematisiert das durch en Menschen bedingte Aussterben von Tieren, in diesem Fall speziell des Otters. In der ersten Strophe wird die Gesprächssituation näher charakterisiert und das Thema des Gedichtes ist dem Leser zu diesem Zeitpunkt auch schon bekannt, da das Gedicht mit dem wichtigsten Vers eingeleitet wird „Mensch, wo ist dein Bruder Otter?“. Diese rhetorische Frage ist das wohl auffälligere der beiden Beispiele für Intertextualität in diesem Gedicht. Es bezieht sich, zu dem „Gespräch mit Gott“ passend auf die Bibel, genauer: auf die Geschichte von Kain und Abel, der wohl bekannteste Bruderzwist überhaupt. In 1.Moses, 4, 9 steht: „Da sprach der Herr zu Kain: wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: ich weiß nicht, soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Diese Frage wird Kain gestellt, nachdem er seinen Bruder ermordet hat. Mit diesem Hintergrundwissen ist dem gebildeten Leser also schon nach Lesen des ersten Verses klar, dass es in dem Gedicht darum geht, wie der Mensch die Umwelt und somit die Tierwelt zerstört und Tierarten ausrottet. Mit dem Bild „Bruder Otter“ (V. 1) wird deutlich gemacht, dass wir mit dem Vernichten von Tierarten nicht uns untergeordnete Dinge beseitigen, sondern uns Gleichwertiges töten. Mit dem Bezug zu Kain und Abel geht Gernhardt sogar noch einen Schritt weiter, er bezeichnet es als Mord, ja sogar als Brudermord. Brudermord wird in unserer Gesellschaft als eine der verwerflichsten Handlungen überhaupt angesehen und so wird in der Übertragung auf den Otter deutlich, wie schändlich unser Verhalten der Tierwelt gegenüber ist. Ganz Gernhardt-untypisch verwendet er zur Darlegung dieser Gegebenheit in dem gesamten Gedicht viele stilistische Mittel.
In der ersten Strophe wird durch das Bild „Ende der Tage“ (V. 1) die Situation dargestellt (siehe oben). In V. 3, 4 ist eine Inversion6 („Wenn wir uns zu einer Antwort werden bequemen müssen“). Die Wahl des Wortes „bequemen“ drückt aus, wie ungerne der Mensch sich mit diesem Thema beschäftigt. In dem Gedicht wird das Mittel der Inversion verhältnismäßig häufig verwendet z. B. Strophe 2 V. 8, Strophe 4 V. 7f. Damit soll dem Ganzen ein etwas gehobenerer Ton zuteil werden. Die erste Strophe endet mit einer zentralen rhetorischen Frage: „Was hat dir denn Otter getan Mensch?“ Darauf baut nun das Gedicht auf, sowohl inhaltlich als auch strukturell. Die längeren, erklärenden Sprechparte sind dem lyrischen Ich zuzuordnen, die durch Anführungszeichen gekennzeichneten kürzeren Einschübe, oft Fragen, sind Gott zuzuordnen.
Die Strophen 2, 4, und 6 weisen eine gewisse unterschwellige Parallelität auf verschiedenen Ebenen auf. In der zweiten Strophe antwortet das lyrische Ich zunächst auf die ihm gestellte Frage, über die im Übrigen jeder, nicht nur das lyrische Ich nachdenken sollte. Das lyrische Ich versichert Gott mit einer direkten Anrede (Mir? Nichts, Herr! S.2 V. 1), dass das Tier ihm natürlich nichts getan hat und er Otter auch gerne und z. B. im Zoo von Jakarta ihn sogar mit Erdnüssen gefüttert hat. Dann beschreibt das lyrische Ich diesen Vorgang sehr detailliert, wobei das Tier durch das Verb „betteln“ (S.2 V. 4) personifiziert wird. Diese Beschreibung wird des Weiteren mit dem Wortspiel und der Alliteration7 „fordernde Vorderpfote“ (S.2 V. 6) ausgeschmückt. In V. 7 gibt es eine Onomatopoesie („Ah!“) die einen Teil des reinen Reimes bildet. Die Strophe endet mit der Aussage, dass ihm der Otter nie lieber gewesen sei und einer Zustimmungsfloskel („Ja?“).
In der dritten Strophe fragt nun Gott, warum das lyrische Ich nichts für den Otter getan habe.
In Strophe 4 gibt das lyrische Ich wieder zunächst Antwort, indem es kundtut, dass es doch etwas für den Otter getan habe. Es erzählt nun mehr oder minder wieder das gleiche wie in Strophe zwei: Er hat das Tier im Zoo gefüttert, nur war es diesmal nicht Jakarta, sondern Belem und statt Erdnüssen mit Caschew-Nüssen. Das Tier stand auch nicht am Gatter, sondern schwamm. Wieder beschreibt das lyrische Ich diesen banalen Vorgang sehr detailverliebt und verwendet dazu viele rhetorische Figuren. In V. 4 ist eine Onomatopoesie zu finden („keckernd hinterherschoß“) und in V. 5 ein unreiner Binnenreim („gleitend zu greifen“). Auffällig ist auch die Wortwahl, so verwendet Gernhardt z. B. „munden“ (V. 6) und „Wesen“ (V. 7), was dem Gedicht zu einem klangvolleren Ton verhilft. Des Weiteren festzuhalten ist der Ausruf „frag ihn!“ (V. 2), womit das lyrische Ich sein Wohlwollen dem Otter gegenüber bekräftigen will. In den letzten beiden sich reimenden Versen sagt es nochmal ausdrücklich wie auch schon in Strophe 2, dass er sich dem Otter nie näher fühlte und beendet die Strophe auch wieder mit der gleichen Floskel („Ja?“ V. 8).
Nun stellt Gott wieder eine rhetorische Frage: Das nennst du was tun für den Otter? Die peanuts?“ Das Wort peanuts ist hier zweideutig zu verstehen, zum einen in ihrer wörtlichen Bedeutung als Nüsse und zum anderen als Synonym für Kleinigkeit.
In der 6. Strophe, die mit den Strophen 2 und 4 viele Korrespondenzen aufweist, geht das lyrische Ich zunächst wieder direkt auf die Frage ein, indem er versichert, dass er getan habe, was er konnte, er sei dem Otter sogar nachgereist nach Hankensbüttel. Nicht Jakarta oder Belem, nein diesmal das Provinzstädtchen Hankensbüttel. Wie nicht anders zu erwarten hat das lyrische Ich auch hier die Otter nicht in freier Wildbahn gesehen („im Carree der Umzäunung sprangen“ s.6 V. 4). Erstaunlicherweise hat das lyrische Ich sie aber nicht wieder mit Nüssen gefüttert, wie der Leser es erwartet hätte, sondern es ist wirklich ein anderer Vorgang beschrieben. Die Otter haben das lyrische Ich mit dem Wärter verwechselt und dachten so, er hätte Fisch dabei, was die freudige Reaktion der Otter erklärt. In dieser Strophe gibt es auch weniger rhetorische Mittel als in den anderen Strophen verwendet. Festzuhalten ist nur, dass die Otter wie auch schon in Strophe 2 als „munter“ charakterisiert werden. In den letzten beiden Versen sagt das lyrische Ich: „Bei Gott ein Bild für die Götter“ und bringt auch wieder die altbekannte Floskel an. Wichtig anzumerken ist, dass die in Strophe 2, 4 und 6 gemachten Liebeserklärungen an den Otter sich steigern.
Bei der nächsten Frage von Gott wird dem Leser der Eindruck vermittelt, dass Gott von so viel Naivität, wie das lyrische Ich zum Thema Tiere an den Tag legt, langsam genervt ist. Er sagt: „All deine Otter umgeben Gitter. Dein Bruder im Gatter ein Bild für die Götter?“ Diese Strophe ist auch sprachlich auffällig gestaltet; alle Versenden sind unreine Reime und die Verslängen sind im Vergleich zu den vorhergehenden Strophen erheblich kürzer.
Mit dieser Strophe wird ein Umschwung im Gedicht markiert, der anscheinend auch das lyrische Ich wachgerüttelt hat, denn die nächste Antwort, die es gibt, hebt sich deutlich von allen bisherigen ab. Die Strophe ist mit 13 Versen mit Abstand die längste und das lyrische ‚Ich erzählt nicht mehr davon wie schön es ist, Ottern beim Fressen zu zuschauen, sondern spricht die Problematik, um die es im Gedicht geht, direkt an. Nun, da der Inhalt nicht mehr so beschönigt dargestellt ist, wird die Form „schöner“ sprich gleichmäßiger und anmutender. Das Reimschema ist hier regelmäßig und rein. Das lyrische Ich spricht nun Gott direkt, als Schöpfer an, und sagt, dass er ja selbst am besten wissen müsse, wie die Dinge gelaufen sind. Das lyrische Ich weist die Schuld an der Vernichtung von Tierarten nun direkt von sich und allen Menschen ab und gibt Gott selbst die Schuld. Er sagt, dass der Mensch vielleicht als Bruder des Tieres gedacht war, das aber nie geschafft hat, höchstens zum „Vetter“ (S.8 V. 4). In dem folgenden Vers ist nun wieder Bezug auf Kain und Abel genommen worden, indem von dem Menschen als „Hüter“ (V. 5) des Bruders gesprochen wird. In diesem Vers ist ebenfalls auffallend, dass ein Binnenreim und eine Onomatopoesie zugleich vorliegt („keucht und fleucht“ V. 5). Jetzt geht das lyrische Ich in seiner Darstellung der Wirklichkeit einen Schritt weiter (vorher vom Bruder zum Vetter): vom Vetter zum Wärter. Es wird also offensichtlich, dass Gott sein Ziel, einen behütenden Bruder für das Tier durch den Menschen zu schaffen, verfehlt hat. Im Folgenden bezeichnet das lyrische Ich den Menschen sogar als „Bastard“ (V. 7) und sagt, dass da Gott ihn geschaffen habe die Situation nun auch sein Problem sei. Es verlangt von Gott der „Retter“ (V. 9) zu sein und den Menschen (bildlich gesprochen Kain) zu töten, da dieser die Tiere (bildlich seinen Bruder Abel) getötet hat. Zur Untermalung der Boshaftigkeit der Menschen verwendet Gernhardt Neologismen8 („Selbstvergotter, Allesandereausrotter“ V. 11f). Er stellt Gott praktisch vor die Wahl „Er oder der Otter!“ V. 13. Das Gedicht hat hier seinen Höhepunkt erreicht und diese Übertreibung nach dem Motto „Du oder Ich“ gibt dem Gedicht an dieser Stelle einen komischen Beiklang, so dass der Leser trotz der ernsten Lage nun schmunzeln muss.
In der Letzten Strophe fragt Gott, sich dieser Übertreibung bewusst, erstaunt nach: „Du, Mensch oder der Otter?“ (S.9 V. 1). Daraufhin bestätigt ihm das lyrische Ich seine Aussage selbstsicher.
Der Titel des Gedichtes „Bruder Otter“ spricht Bände, er fasst den Inhalt es Gedichtes auf den Punkt gebracht zusammen und könnte nicht besser gewählt sein.
In dem Gedicht „Bruder Otter“ hat Gernhardt es durch seine kunstvolle Textualität und seinen einzigartigen Humor wieder geschafft den elitären mit dem populären Geschmack zu koppeln und so mit diesem Gedicht alle Menschen anzusprechen. Er hat ein sehr ernstzunehmendes Thema, nämlich das Aussterben von Tierarten in einer komischen und somit ansprechenden Form präsentiert. Auf diese Art und Weise ist es Gernhardt gelungen, viele, mit einem Thema, über welches sie nicht nachdenken wollen, zu erreichen und dazu zu bewegen sich ihre Gedanken zu machen.