Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „In der Welt“ wurde 1913 von dem deutschen Lyriker Paul Boldt (1885- 1921) verfasst, welcher hauptsächlich der Epoche des Expressionismus (ungefähr 1905-1925) zugeordnet werden kann. Zu dieser Zeit bestand eine sehr kritische Lebensauffassung gegenüber Neuerungen, die der technische Fortschritt mit sich brachte. Prägend für dieses Weltbild waren die Ereignisse der Titanic, welche bis zu ihrem Untergang 1912 als unsinkbar galt, und des Halleyschen Kometen, dessen Schweif die Erde 1910 durchquerte, in dem Forscher zuvor Blausäure nachgewiesen hatten, aber wie sich später herausstellte in einer ungefährlichen Konzentration. Besonders in seiner Ausdrucksweise gilt der Expressionismus (von lat. Expressio = Ausdruck) als sehr radikal, da er im Gegensatz zum Naturalismus die dahinter liegende statt die wahrnehmbare Wirklichkeit zeigen wollte.
Da sich das Gedicht (je nach dem wie man es zum Schluss zu interpretieren versucht) inhaltlich sehr stark mit dessen Autor beschäftigt, erscheint es somit zunächst angemessen, nähere Informationen über diesen zu erfahren. Paul Boldt lebte seit seiner Kindheit als Einzelgänger und mied jeglichen Kontakt zur Außenwelt mit der Ausnahme von Bordellbesuchen. Seine zurückgezogene Lebensweise blieb für seinen seelischen Zustand nicht ohne Folgen: 1915 musste Boldt im Krieg als Soldat mitkämpfen, doch schon 1916 wurde er aufgrund seiner psychischen Instabilität aus der preußischen Armee entlassen und musste so seinen Einsatz dort abbrechen. Erste Anzeichen seines später festgestellten Nervenleidens bemerkte er selber bereits schon einige Jahre zuvor und schrieb dieses innerliche Gefühl in seinem Gedicht „In der Welt“ nieder.
Äußerlich gliedert sich das Gedicht in 2 Strophen, dessen Verse durch einen Kreuzreim in Verbindung stehen (abab, cdcd). Die erste Strophe besteht dabei aus zwei Sätzen, die in einer hypotaktischen Schreibweise formuliert sind. Dem gegenüber stehen die Verse fünf bis acht, welche insgesamt sechs Sätze beinhalten und somit parataktisch angeordnet wurden. Dieses insgesamt strikte Schema ist eher untypisch für die expressionistische Lyrik, zeigt aber auch, dass die verschiedenen Werke einer Epoche nicht alle nach einem formalen Bauplan konstruiert und somit nicht jedes Merkmal einer Epoche auch in jedes Werk eingebunden wurde. Charakteristisch für den Expressionismus ist nämlich das häufig angewandte Aufbrechen grammatischer Strukturen, was hervorheben soll, dass eine alltägliche Sprache nicht ausreicht, um die starken Gefühle der Autorinnen und Autoren auszudrücken.
Zwar ist schon während des ersten Lesens auffällig, dass Paul Boldt eine eher schlichte Darstellung mit wenigen Stilmitteln wählte, doch wird somit die Bedeutung der einzelnen stilistischen Mittel um so mehr gesteigert. Die Verwendung des Personalpronomens „Ich“ (V. 1, 5, 6) und des Possessivpronomens „Mein“ (V. 1, 4, 5) lassen in Verbindung mit seiner persönlichen Vergangenheit schnell den Bezug zwischen dem lyrischen Ich und der Persönlichkeit des Paul Boldt entstehen, worauf aber später bei der Intention noch näher eingegangen wird. Bereits die ersten beiden Verse geben einen sehr kurzen, aber ziemlich intensiven Überblick über das gesamte Gedicht: Die als Vergleich strukturierte Formulierung „Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen, / Die wie getroffen auseinander hinken“ (V. 1f.) unterstreicht das Gefühl der Orientierungslosigkeit, mit dem Paul Boldt seit Beginn seiner Krankheit zu kämpfen hat. Seine eigene Identität spaltet („(...) Die wie getroffen auseinander hinken.) beziehungsweise löst sich langsam auf und die Welt steht für ihn im übertragenem Sinne “auf dem Kopf“. In seiner traumartigen Darstellung beschreibt er, dass die Wälder mondwärts wandern (vgl. V. 3) und seine Blicke winken würden (vgl. V. 4). Neben diesen beiden Personifikationen2 vermenschlicht Boldt außerdem die scheinenden Kleider (vgl. V. 6), die sterbenden Tage (vgl. V. 7) und die weinenden Nerven (vgl. V. 8), wodurch der Leser eine neue Perspektive auf die Natur wirft, da sie durch derartige Beschreibungen einen menschlichen Anteil zugesprochen bekommt.
Zwei Sätze sollten bei näherer Betrachtung stärker gewichtet werden als die Restlichen: Die Aufzählung „Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen, / Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken“ (V. 3f.) kann als möglicher Versuch des lyrischen Ichs gedeutet werden, in den Erscheinungen der Natur einen neuen Lebenssinn zu finden. Beinahe von seiner Umwelt aufgegeben, findet das lyrische Ich aber aufgrund der Zerstörung der Natur auch dort keinen Trost. Die „schwarze(n) Quallen“ (V. 3) können dabei für den Schmutz der unberührten Landschaft stehen. Zum anderen bekommt der Vers sechs „Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen“ schon allein durch die Umstrukturierung im Satzbau von „Das bin nicht Ich“ zu „Das ist nicht Ich“ eine besondere Stellung im Gedicht. Paul Boldt versucht hier, klar den Unterschied zwischen Innen und Außen herauszustellen beziehungsweise zu zeigen, wie schwierig diese Trennung ist, wenn man an einer Nervenkrankheit leidet.
Zuletzt sein noch die Verwendung der Farbsymbolik (vgl. V. 3, 7) genannt, welche typisch für die Epoche des Expressionismus ist. Auffällig ist, dass Boldt hierbei nur die beiden Kontrastfarben schwarz und weiß benutzt, was wieder an die Darstellung von Außen und Innen anknüpft.
Durch seine äußerliche Unauffälligkeit und Knappheit stellt es sich als ziemlich schwierig heraus, das Gedicht „In der Welt“ von Paul Boldt wirklich zu verstehen, wobei hier wie bei jedem anderen Gedicht auch ein großer Interpretationsspielraum gelassen wird. Sieht man den Dichter Paul Boldt als das lyrische Ich an, so ist es ein sehr persönliches Gedicht. Es schildert die Auswirkungen der Krankheit mit dem anschließenden Zerfall seiner eigenen Persönlichkeit. Und somit greift Boldt hier einen großen Themenbereich des Expressionismus: Der Ich- Zerfall. Ausgeliefert als Opfer seiner übermächtigen Umwelt erlebt sich das Individuum in seinem Handeln eingegrenzt und sucht somit nach Unbegrenztheit.
Das lyrische Ich kann hierbei aber auch als Musterbeispiel für die Leserinnen und Leser der damaligen Zeit gesehen werden, welches mit seiner Natur und Umwelt nicht zufrieden ist und daher einiges ändern möchte, dies aber aufgrund des Leidens nicht schafft. Somit wird dem Gedicht zusätzlich ein auffordernder Charakter verliehen.