Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das industriekritische Gedicht „Mensch im Eisen“, das der Arbeiter und expressionistische Dichter Heinrich Lersch wahrscheinlich 1907 schrieb, handelt von einem Kesselschmied, der durch seine Arbeit im Kesselwerk entindividualisiert wird und aus dieser mechanisierten Welt ausbrechen will.
Formal lässt sich feststellen, dass es sich nahezu um ein Sonett1 handelt, da auf zwei Quartette, zwei Terzette folgen. Das letzte Terzett wird hier allerdings zu einem Quartett gemacht und somit die Form gebrochen. Durch das Gedicht zieht sich mit ein paar kleineren Ausnahmen ein für das klassische Sonett typischer fünfhebiger Jambus. Das Reimschema lautet abba, abba, cdc, cded.
Die Sonettform ist typisch für die Zeit des Expressionismus, außerdem ist es bezeichnend, dass die traditionelle Form nicht eingehalten wird. Ausgelöst durch die Industrialisierung und Verstädterung, die damals stattfanden, wurde dieses Gedicht von einem der wenigen Dichter geschrieben, die die damit zusammenhängenden Probleme wirklich miterlebt haben.
Heinrich Lersch wurde schon früh dazu verpflichtet, als Kesselschmied zu arbeiten. Deren Arbeit bestand aus der Herstellung von Apparaten, Dampfkesseln und anderen Behältern, die, weil es die Elektro-Schweißung noch nicht gab, genietet werden mussten.
Die Überschrift „Mensch im Eisen“ bildet mit dem letzten Vers zusammen einen Rahmen, da sie sich dort wiederholt. Sie bezieht sich auf die Arbeit des Dichters als Kesselschmied, der „im Eisen“ (V. 15) ist, also gänzlich davon umgeben wird. Dieses Bild wirkt beklemmend und stellt den Beruf dieses Menschen als Zwang dar, der in seinem Leben an erster Stelle steht.
Dieser Eindruck wird auch im ersten Vers verstärkt, der die Beschreibung des „Tagwerk[es]“ (V. 1) einleitet. Unter einem Tagwerk versteht man eine sich jeden Tag wiederholende Arbeit, die deshalb sehr eintönig werden kann. Dass dies eine Tatsache ist, wird durch das Wort „ist“ (V. 1) unmissverständlich klar. Mit einem Doppelpunkt beginnt eine Aufzählung von für den Beruf des Kesselschmiedes alltäglichen Tätigkeiten wie das Sitzen im Kesselrohr (vgl. V. 1 f.). Zur Veranschaulichung werden hier Adjektive verwendet, die die schlechten Arbeitsbedingungen deutlich machen. Es besteht großer Platzmangel (vgl. V. 1), der es dem Arbeiter unmöglich macht, eine gesunde Körperhaltung einzunehmen. Seine Aufgaben müssen „kniend“ (V. 2) und krumm sitzend (vgl. V. 2) ausgeführt werden. Die Alliteration2 „kniend krumm“ (V. 2) lässt sich durch Worte wie „geknickt“, „kantig“ oder „gebückt“ erweitern und verdeutlicht so die ungerade Haltung. Ebenfalls das Wort klein“ (V. 2) reiht sich in die Alliteration ein und beschreibt ebenso eine Kondition des Kesselschmiedens, nämlich in Verbindung mit dem „Glühlicht“ (V. 2) die fehlende Helligkeit, die die Augen schädigt.
Die eigentliche Arbeit, das Hämmern von Nieten (vgl. V. 3), wird erst im dritten Vers angesprochen. Sie besteht darin, Eisenplatten miteinander zu verbinden, indem in Löcher benachbarter Platten glühende Nieten gesteckt und diese dann mit Vorschlaghämmern breitgeschlagen werden. Beim Abkühlen ziehen sich die Eisenplatten zusammen und werden dicht.
Aufgrund des Schmiedefeuers, in dem die Nieten zum Glühen gebracht werden, und der harten körperlichen Arbeit müssen die Männer „in der Hitze schwitzen“ (V. 3). Dass dies ebenso nicht zu ihrem Wohlbefinden beiträgt, wird durch die Assonanz3 unterstrichen, die auch eine Onomatopoesie sein könnte, da das „itz“ der beiden Wörter das Zischen des Schweißes auf den heißen Nieten illustriert.
Im nächsten Vers wird auf den ersten Blick nur das Aussehen der Männer in Kesselrohr dargestellt, jedoch befindet sich der Ruß der Schmiedeöfen nicht nur auf „Aug und Haar und Ohr“ (V. 4), wie es diese Akkumulation aussagt, sondern trägt auch zu Seh- und Gehörschäden bei, die die meisten Kesselschmiede davontragen. Diese werden jedoch hauptsächlich durch umherfliegende Eisensplitter und den Lärm in den Räumen verursacht, da es zu dieser Zeit noch keine Schutzbrillen oder Ohrenschützer gab.
In der nächsten Strophe werden weniger die Handlungen als die Gefühle des Mannes geschildert, der sich metaphorisch als „Menschenkraftmotor“ (V. 5) seiner übrigen Charakteristiken beraubt und somit entindividualisiert fühlt.
Er kommt sich zwischen den Maschinen und in der Menge der anderen Arbeiter „klein“ (V. 5) und unbedeutend vor. Diese Verdinglichung reduziert ihn auf seine Rolle als Arbeiter, was durch die Worte „[N]ur noch“ (V. 5) unterstrichen wird.
Dieser Gedanke zieht sich weiter in den nächsten Vers, in dem er seine „Arme“ (V. 6) zusätzlich als „Hebel“ (V. 6) dieses Motors bezeichnet. Ein Hebel ist etwas, das von einer Person, hier wahrscheinlich vom Fabrikbesitzer, in eine beliebige Richtung geschwenkt und dadurch für seine Zwecke gebraucht und ausgenutzt wird.
Die Hebelbewegung wird als ein „[F]litzen“ (V. 6) dargestellt, das an schnelle, hektische Bewegungen kleiner Tiere, beispielsweise von Mäusen, erinnert. Da Heinrich Lersch selbst klein und hager war, trifft diese Veranschaulichung ebenfalls auf ihn zu. Häufig wurde der spätere Dichter daher für die Reparatur und Reinigung von Dampfkesseln herangezogen.
Explizit drückt er erst im nächsten Vers seine Depression aus, die bis zu Suizidgedanken reicht (vgl. V. 7). Bei dem Wort „Adern“ (V. 7) liegt eine Metapher4 und Polysemie vor, da zum einen die Blutgefäße des Menschen, zum anderen aber auch die Wasser- oder Dampfleitungen gemeint sein können. Der folgende Vers lässt so darauf schließen, dass der Mann seine Gefühle auf die Maschinen projiziert, die er daraufhin verletzen möchte, weswegen er „statt roten Blutes Strahl“ (V. 8) nur Dampf zu sehen bekommt. Das Geräusch, das der hervorstoßende Dampf (vgl. V. 8) erzeugt, wird im Zusammenhang mit dem sehr bildlichen Pleonasmus5 des „roten Blutes“ (V. 8) zur Synästhesie6, da die auditive sowie die visuelle Wahrnehmung angesprochen wird.
Demzufolge konnte der Arbeiter seine Emotionen weder unter Kontrolle bringen noch offen darlegen.
Die dritte steht im Gegensatz zu den ersten beiden Strophen, in denen der Dichter nur in der ersten Person Singular von seinen eigenen Leiden schreibt, da hier ein Arbeiter durch „du“ (V. 9/10) und „dich“ (V. 11) persönlich angesprochen wird.
Zur Verdeutlichung seiner Verzweiflung beginnt der Dichter die dritte Strophe mit der Interjektion7 „O“ (V. 9) und spricht dann den Leser direkt mit „Mensch“ (V. 9) an. Dieser Ausruf hat etwas Pathetisches, das von der rhetorischen Frage „wo bist du?“ (V. 9) unterstrichen wird. Diese Frage könnte darauf abzielen, dass der Mensch im Arbeiter gesucht wird. Er selbst ist nur noch ein Zahnrad im Ablauf der Fabrik, also zählt nur noch die Arbeit, die er verrichtet.
Die Antwort darauf gibt er unmittelbar danach, indem er die Arbeitenden mit im fossilen Baumharz Bernstein eingeschlossenen Insekten vergleicht (vgl. V. 10). Dies bezieht sich erneut auf den das Gedicht einrahmenden Ausdruck „Mensch im Eisen“ (V. 15) und illustriert die Gefangenschaft der Arbeiter, die scheinbar lebendig in den Fabriken begraben werden.
Dass der Mensch im Eisen „hock[t]“ (V. 10), hat eine negativere Konnotation8 als das neutrale Sitzen, es klingt plump, als ob er zu faul wäre, sich gegen seine Lebensumstände aufzulehnen. Das fast ausschließlich in der Dichtung verwendete Wort „umpanzert“ (V. 11) vermittelt allerdings den Eindruck einer eisernen, massiven und somit furchterregenden Wand, die bei dem Versuch, sich selbst zu befreien, ein scheinbar unüberwindbares Hindernis darstellt.
Dieses Bild wird durch das „schließende[…] Gewirr“ (V. 11) verstärkt. Trotz der annähernd aussichtslosen Situation schwingt hier ein wenig Hoffnung mit, da der Vorgang des Schließens noch nicht abgeschlossen ist. Dadurch entsteht auch das „Gewirr“ (V. 11) von Eindrücken, die in der engen, heißen und dunklen Fabrik entstehen. Damit könnten auch die zwiegespaltenen Gefühle des Kesselschmieds gemeint sein, der hin- und hergerissen ist zwischen der Verpflichtung, seine Arbeit verrichten zu müssen, um zu überleben, und der Sehnsucht nach Freiheit. Auch das unregelmäßige Metrum9 dieses Verses trägt zum Eindruck einer verwirrten und hilflosen Stimmung bei.
Mit den äußeren Anzeichen dieser Verzweiflung beginnt die letzte Strophe.
Die rasende Seele wird in den Augen des Arbeiters sichtbar (vgl. V. 12). Das Rasen deutet auf sehr leidenschaftliche Emotionen hin, die den Menschen ganz einnehmen und steuern, sodass er mit einem Irren (vgl. V. 12) verglichen wird, der seinen Trieben nicht mehr entgegensteuern kann. Dieser Kontrollverlust macht ihn „arm“ (V. 12) an klaren Gedanken und deshalb schwach. „Arm“ könnte der Dichter zugleich als Ausdrucks des Mitleids gemeint haben, das er mit denen hat, die es nicht schaffen, aus ihrer Gefangenschaft auszubrechen.
Dieser sich in seinen Augen spiegelnde Wahnsinn und dass Rasen der Seele werden in Vers 13 im Neologismus10 „wahnsinnswild“ vereint. Die Wiederholung des Wortes „Heimweh“ (V. 13) hebt seine Wichtigkeit hervor. Das Heimweh ist die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit außerhalb der Fabriken, wo der Arbeiter als Mensch und Individuum geschätzt wird. Die Personifikation11 und Alliteration, das Heimweh „heul[e]“ (V. 13), verdeutlicht die Ursache für die Trauer des Menschen, dem „Erde, Mensch und Licht“ (V. 14) fehlen. Die Hemmungslosigkeit des Heulens wird beim etwas schwächeren Weinen (vgl. V. 13) zurückgenommen, in den „süße[n] Weisen“ (V. 13) schwingt tiefe Melancholie und Kummer mit. Süß ist eigentlich etwas Positives, das Wort wird hingegen auch in Verbindung mit bitter verwendet, wo es als Oxymoron12 einen inneren Wiederspruch darstellt.
Die kurze, einfache Melodie einer Weise bleibt im Kopf und kann so zum Leitgedanken des Betroffenen werden, der die Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen außerhalb der Fabrik vermisst, was durch „Erde, Mensch und Licht“ (V. 14) ausgedrückt wird. Diese drei Dinge stehen im Gegensatz zu den Bedingungen, unter denen die Arbeiter fast ihre gesamte Zeit verbringen, um Geld zu verdienen und ihre Familien zu ernähren. Das Licht ist zusätzlich sehr positiv konnotiert, da es das Bild von Reinheit, Sonne und Heiterkeit hervorruft.
Der abschließende Appell wird durch die Ausrufezeichen nach dem vorletzten und dem letzten Vers verschärft. Der Leser soll sich noch einmal unvermittelt angesprochen fühlen, während er dazu aufgefordert wird, lauter zu schreien (vgl. V. 15), sich der vorgegebenen Form entgegenzustellen, sich gegen die für diese Zeit typischen gesellschaftlichen Normen zu wehren und seine Einmaligkeit außer Frage zu stellen. Dass er dies bis jetzt noch nicht getan hat, wird durch den ihm gegebenen Titel „Mensch im Eisen“ (V. 15) dargelegt, den aufgrund der einengenden Vorstellung niemand freiwillig zu Recht tragen möchte.
Mit dem Gedicht möchte Heinrich Lersch auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen seiner Zeit aufmerksam machen. Er fordert die Arbeiter dazu auf, mündig zu werden, über ihren Zustand nachzudenken und sich dagegen aufzulehnen.
Die Verdrängung des Handwerks und der Übergang zu kapitalstarken Maschinenfabriken, die Anfang des 20. Jahrhunderts stattfanden, führten zur Entfremdung, das heißt, die Arbeiter verloren den Bezug zu den Dingen, die sie herstellten, und folglich auch das Gefühl der Zufriedenheit, wenn sie etwas fertiggestellt hatten.
Als Sprachrohr für alle Arbeiter, nicht nur die Kesselschmiede, gilt Lersch als bedeutender Dichter seiner Zeit, da er die Sachlage nicht nur von außen betrachtete, sondern als Arbeitersohn selbst Kenntnis davon hatte.