Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahre 1658 veröffentlichte Andreas Gryphius das barocke Gedicht „An sich selbst“, welches sich mit dem langsam nähernden Sterbeprozess einer Person mit dessen körperlichen sowie seelischen Problemen beschäftigt, wodurch es sich zeitlich als auch inhaltlich der Epoche des Barock zuordnen lässt.
Dieser zwischen ca. 1600 und 1750 befindliche Zeitabschnitt wurde insbesondere durch den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bestimmt, welcher die Lebenseinstellung und das Handeln der Menschen zutiefst prägte. Da dieser Konflikt zunächst einmal ein Religionskrieg war, wurde das noch aus dem Mittelalter stammende religiöse Bewusstsein der Menschen durch die Reformation und die Gegenreformation geschwächt, wodurch die Religion zwar weiterhin eine dominierende Rolle im Alltag der Menschen besaß, doch sie musste verstärkt mit einer genießerischen Hinwendung zum Irdischen konkurrieren. Diese beiden Strömungen besitzen beide den Gedanken der Vanitas (lat. für „Vergänglichkeit“) als Oberbegriff für die eigene Sterblichkeit und Vergänglichkeit allen irdischen Seins. Die beiden antithetischen Unterteilungen trennen sich dabei in die beiden Grundideen des „Memento mori“ (lat. für „bedenke deines Todes“) und des „Carpe diem“ (lat. für „nutze den Tag“) auf. Ersteres ist ein Mahnruf, der zum Nachdenken über den Tod aufrufen soll, wobei Letzteres hingegen dazu aufruft, den Tag zu nutzen, des Menschen kurze Lebenszeit zu bedenken und den Genuss nicht auf den nächsten Tag zu verschieben.
Wie sich im weiteren Verlauf der Analyse noch herausstellen wird, fokussiert Andreas Gryphius mit dem hier vorliegenden Gedicht verstärkt den „Memento mori“- Gedanken, da er durch seine lyrischen Werke verstärkt eine pessimistische Weltanschauung repräsentiert, wofür insbesondere seine oftmals verwendeten Hauptmotive, wie zum Beispiel Einsamkeit, Weltverachtung und Zerstörung, zum Ausdruck gebracht werden. Gründe hierfür liegen wahrscheinlich sowohl in globalen als auch in privaten Geschehnissen: Neben der unausweichlichen Auseinandersetzung mit dem Vorkommnis des Dreißigjährigen Krieges, welcher zu dessen Lebenszeit stattfand, waren auch die frühen Tode seines Vaters und seiner Mutter mitverantwortlich für seine oftmals zeittypischen Vanitas- Vorstellungen, die er in seinen Liedern und Gedichten verarbeitete.
Heutzutage gilt der am 2. Oktober 1616 in Schlesien geborene und am 6. Juli 1664 gestorbene Andreas Gryphius, dessen eigentlicher Name bis 1628 noch Andreas Greif lautete, neben Martin Opitz, Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen und Paul Fleming als einer der bedeutendsten deutschen Barockdichter aller Zeiten.
Das Gedicht „An sich selbst“ besitzt 4 Strophen mit insgesamt 14 Versen, welche in zwei Quartette mit einem umarmenden Reim und zwei Terzette mit einem Schweifreim eingeteilt sind und so dem Aufbau eines Sonetts gleicht. Dabei besitzen die Quartette zunächst eine weibliche, eine männliche, eine männliche und erneut eine weibliche Hebung, in den Terzetten hingegen zwei männliche und schließlich eine weibliche Hebung. So lässt sich also feststellen, dass die Kadenzen3 dem Reimschema des Gedichtes entsprechen. Für das Metrum4 gilt, dass es sich um jambische Verse mit sechs Hebungen in jeder Zeile, also um Alexandrinerverse handelt. Hinzu kommt, dass bereits bei näherer Betrachtung ein standardisiertes Schreibmuster ohne ein unmittelbarer individueller Ausdruck zu erkennen ist, was jedoch ein typisches Anzeichen für die barocke Dichtung darstellt.
Bereits durch die äußere Einteilung der Strophen lassen sich inhaltliche Themenschwerpunkte erkennen: So beginnt die erste Strophe damit, dass das lyrische Ich seinen körperlichen Zustand beschreibt. Dabei wird schon in dem ersten Vers die häufige Wiederholung von Personalpronomen5 in der ersten Person Singular Dativ („mir“, V. 1) ersichtlich. Bis auf die Verwendung der ersten Person Plural Dativ in dem vierzehnten Vers wirkt das Gedicht somit in leichten Zügen ein wenig egoistisch, was mit Blick auf den Titel aber eigentlich revidiert werden müsste, da das Gedicht anscheinend vom Autor Andreas Gryphius sowieso „an sich selbst“ verfasst wurde. Die Aufzählung in dem zweiten Vers in Verbindung mit der Personifikation6 „(...) beide® Augen Kluft, / Die blind vom Wachen sind (…)“ (V. 2f.) hebt dabei hervor, welches Ausmaß sein offensichtliches Leiden erreicht hat, da das lyrische Ich sich in diesem Zustand fast schon selber nicht wiedererkennt beziehungsweise sich vor sich selber fürchtet („Mir grauet vor mir selbst“, V. 1). Neben seiner eingeschränkten Sehleistung fällt ihm zudem das Atmen immer schwieriger, was durch das Oxymoron7 „schwere Luft“ (V. 3) unterstrichen wird.
Die zweite Strophe befasst sich inhaltlich mit den vom lyrischen Ich dargestellten psychischen Problemen. Dabei schildert es erste Anzeichen einer geistigen Verwirrung, mit großer Wahrscheinlichkeit bedingt durch ein hohes Fieber, wodurch es wüst Dinge von sich gibt, die das lyrische Ich selber nicht versteht („Und lallt ich weiß nicht was; die müde Seele ruft“, V. 6). Die in diesem Vers enthaltene Personifikation in Verbindung mit der Personifikation „(...) das Fleisch ruft nach der Gruft“ (V. 7), welche beide das Verb „rufen“ zur Vermenschlichung gebrauchen, zeigt deutlich auf, das sich sowohl der menschliche Leib wie auch die Psyche nach einer Erlösung durch den Tod sehnen, um die immer wieder kehrenden Schmerzen (vgl. V. 8) nicht mehr ertragen zu müssen, da bereits auch die Ärzte anscheinend eine Heilung für ausgeschlossen halten („Die Ärzte lassen mich (...)“, V. 8). Seine einzige Hoffnung liegt nun in der Erlösung durch Gott, dem „großen Tröster“ (V. 7), wodurch sich das lyrische Ich als christlicher Mensch identifizieren lässt. Auffällig ist hierbei, dass es sich bei dieser Beschreibung um etwas Positives handelt, im Gegensatz dazu aber die überwiegende Mehrheit negativ konnotierte Verben, Adjektive und Nomen darstellt. Somit könnte man annehmen, dass es sich bei der religiös geprägten Person um Andreas Gryphius selbst handelt, welcher mit Blick auf seinen Lebenslauf ebenfalls schon in seiner frühen Kindheit durch den Tod seiner Eltern mit solchen innerlichen Konflikten konfrontiert wurde.
In den beiden Terzetten kommt das lyrische Ich schließlich zu dem Entschluss, dass mit einem Menschen nach seinem Tod auch seine “Charaktereigenschaften“ („(...) hohe® Ruhm, und Jugend, Ehr und Kunst“, V. 12) verschwinden, also alles das, was er im Leben erreicht hat. Und genau diese Thematik ist es auch, die Gryphius mit diesem lyrischen Werk der Leserschaft näher bringen möchte. Er wirft dabei die Frage auf, welche Bedeutung all diese irdischen Werte überhaupt haben, wenn sie doch letztendlich vergänglich sind. Wie auch der „Memento mori“- Gedanke soll daher dieses Gedicht zum Nachdenken über den Tod anregen. Durch eine ziemlich düstere Beschreibung des nur mühsam voranschreitenden “Zerfallsprozess“ des menschlichen Körpers wird unterstrichen, wie machtlos der Mensch trotz des medizinischen Wissens von Ärzten vor dem Tod ist. Allein die geistigen Fähigkeiten können sich quasi so darauf einstellen, dass sie durch den Tod von den Qualen auf der Erde erlöst werden, indem sie in dieser Zeit an den Glauben an Gott, dem „großen Tröster“ (V. 7), festhalten, da die Menschen nach dem Tod alle gleich sind und sie sowieso überhaupt nichts mit in die „Gruft“ (V. 7) nehmen können.