Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Poet Rainer Maria Rilke veröffentlichte anfangs des 20.Jahrhundert unter anderen im Gedichtband „Neue Gedichte“ die Dichtung „Todes-Erfahrung“, welches 1907 verfasst worden war.
Anlass zu dem Gedicht war der einjährige Todestag der Gräfin Luise von Schwerin. Auf Einladung ihrerseits hatte er mit seiner Frau 1905 einen für ihn sehr bedeutsamen Sommer in Friedelshausen verlebt.
Eine „Erfahrung“ hängt mit einem Ereignis zusammen, die einen in einer speziellen Weise prägt. In diesem Falle hat der Tod geprägt – ein Ereignis der unangenehmen Art.
Diese Überlegung spiegelt sich in der Anordnung der Strophen wider. So stehen die ersten beiden Strophen im Präsens und einer Betrachtung des lyrischen Ichs zum Menschen-Dasein und dem Tod. Es ist also von Tempus hergesehen allgegenwärtig. Im Zentrum der Strophenanordnung ist das Ereignis, der Tod eines für das lyrische Ich bedeutendes Individuum, angeordnet, welches im Präteritum steht. Zu letzt wird die Veränderung bzw. die Prägung des lyrischen Ichs durch das Ereignis beschrieben – wieder in Präsens.
Das Gedicht hält gänzlich an dem Motiv des Theaters fest als Vergleich zum Zusammenleben der Menschen, dass sich an den Metaphern1 wie „spielen“, „Maskenmund“ „Rollen“ festmachen lässt. Eine sehr beliebte und allgemein bekannte Metapher. So ist die Vorüberlegung, welche markanten Eigenschaften das Theater im Bezug zum realen Zusammenleben aufweist? Ein Schauspieler gibt sich schließlich nicht selbst, sondern gibt nur vor jemand zu sein. Die Person wird also nicht offen dargelegt.
Auffallend ist auch die häufige Verwendung des Personalpronomens „wir“ und der dazugehörige Gegensatz „du“. Das „wir“ (z. B. Z. 1&2) für die Menschen (eingeschlossen dem lyrischen Ich), die leben und auf der Erde hausen. Denn dieses „wir“ weiß nicht, was der Tod („Hingehn“) bedeutet, was danach kommt (Z. 2&3), denn die, die es uns erzählen könnten, verweilen nicht mehr unter uns. Aus diesem Grund der Unwissenheit dürften die Menschen eigentlich den Tod nicht beurteilen (Z. 2-4), aber dennoch wird er meist negativ bzw. deprimierend („tragischer Klage“) dargestellt (Z. 4/5).
In der zweiten Strophe wird das Theatermotiv deutlich. Die Menschen spielen das Spiel des Lebens (Z. 6) und der Tod hat die Rolle des Bösen („nicht gefällt“ Z. 8), während der Mensch versucht sich so gut wie möglich darzustellen (Z. 8) Die Inversion3 der beiden Zeilen 7 und 8 stellt die vereinfachte Denkstruktur der „Rollenspieler“ da: Der Mensch sorgt, dass er gefällt. (Z. 7) Er ist der Gute. Und der Tod gefällt nicht. Er ist „böse“. (Z. 8) Ein einfaches Schwarz-Weiß-Spiel. Hier wird sehr klar gezeigt, dass die Rolle des Bösen unbeliebt ist. Jeder strebt nur nach der idealen Darstellung, der beliebten Rolle im Leben, so wie die Menschen sich meist in der Gesellschaft versuchen ideal darzustellen. Dass diese Oberflächlichkeit sogar sehr bedeutend sein muss, zeigt sich dadurch, dass wir uns darum „sorgen“ (Z. 7). Es heißt aber auch, dass der Mensch Wandelbar ist in seiner Gegebenheit, denn es gibt viele „Rollen“ (Z. 6). Der Tod dagegen ist eine unveränderbare Tatsache. Er ist im Gegensatz zu dem Lebensspiel der Menschen, das verändert wird bis es „gefällt“, auf jeden Fall die „Wirklichkeit“, eine Wahrheit. Es entspricht überhaupt nicht dem Ideal, passt nicht auf die Wunschbühne der Menschen und trotzdem ist es Bestandteil, „auch wenn er nicht gefällt“ (Z. 8).
Aber mit dem Ereignis des Todes des Du`s, eines besonderen Individuums, in der dritten Strophe, da veränderte sich etwas (Z. 9/10). Denn damit trat „diese Wirklichkeit“ ins Spiel, etwas Wahres und Unwandelbares. Etwas im Bezug zum Tode des Du („durch jenen Spalt durch den du hingingst“). Durch das sich die Wahrnehmung (Z. 11/12) des lyrischen Ichs veränderte. Die Symbolik der Farbe „Grün“ als die Falschheit – die Falschheit der Menschen in ihre Gebung, als die Rollenspieler. Das lyrische Ich erkannte durch den Tod diese Falschheit der Menschen. Wie es eben seine ganze Wahrnehmung seiner Umgebung intensiver gestaltete („wirklicher“).
Doch die Normalität des Alltags tritt wieder ein (Z. 13) Man kehrt zu seinen Gewohnheiten, Tugenden und Umgangsnormen wieder zurück, die man „bang und schwer erlernt (es)“ (Z. 13)hat. Und trotzdem bleiben die Menschen, eingeschlossen dem lyrischen Ich, verändert durch den Tod des Individuums.(Z. 15-17) Immer an dem Motiv „das Leben als Theaterspiel“ bleibend ist eben dieses „Stück“ entfremdet worden und es fehlt („entrücktes“ Z. 16) etwas, dass jahrelang da war, wie ein Requisit, mit dem man jahrelang das selbe Stück spielte und probte. Es fehlt und nun funktioniert das Stück nicht mehr so, wie es jahrelang funktioniert hat. Und da wäre eine weitere Eigenschaft des Theaters: Die Spieler spielen Tage bis sogar Jahre ein und dasselbe Stück, so dass es pure Gewohnheit wird. Wie der Alltag der Menschen aus Gewohnheiten besteht. Nach bestimmter Zeit wird nicht mehr mit der Aufmerksamkeit gespielt als zu den Probezeiten. Der Schauspieler hält sich an Requisiten, Worten und Menschen fest, wie der Alltagsmensch an seine Lebensordnung. Doch fehlen sie, fehlt ihm die Gewohnheit und Fehler treten auf und für den Alltagsmensch gerät sein Leben aus der üblichen Ordnung. Kurz gefasst und auf das Leben der Menschen geblickt- der Bezug auf die Festgefahrenheit bzw. Gewohnheit im Alltag des Menschsein und die darin nicht vorhandene Flexibilität. Ja, und dann müssen „wir“ wieder denken, um sich zurecht zu finden, und in den Momenten, wo das Gehirn wieder eingeschalten ist und tiefsinnig wird, wo er improvisieren muss, verursacht durch den Tod. (Z. 17-19) In dem Moment werden die typischen Eigenschaften des Rollenspiels abgelegt und die Menschen geben sich natürlich („das Leben spielen“ Z. 20), und nicht um nur zu gefallen, „nicht an Beifall“ denkend. Der schauspielernde Mensch als oft verwandte Metapher für Oberflächlichkeit, der den Tod hasst, obwohl er nichts darüber weiß (Z. 2/3) und weil der Tod sein Leben (Stück) verändert, ohne dass er daran etwas verändern oder bestimmen könnte. Es geht sogar soweit, dass der Tod zeitweise sein Leben mit allen Gewohnheiten zerrüttet (Strophen 4/5). Der Ansicht des lyrischen Ich nach trägt das allerdings etwas Positives mit sich, denn dadurch überdenkt der Mensch sein Leben, wird tiefsinnig und natürlich (Strophe 5). Allerdings nur „manchmal“ (Z. 17). Im Großen und Ganzen verändert sich der Mensch nicht. Er bleibt ein Alltagsmensch. Er versucht immer wieder in seine vorgegebenen Bahnen zu kommen.
„Todes-Erfahrung“ ist von der Stimmung her ein sehr traurig-emotionales Gedicht mit großer Metaphorik. Die Bildhaftigkeit besonders geprägt durch die Theater Metapher, die zudem sehr viel Improvisationsraum freilässt. Die emotionale Seite des Todes spiegelt sich sogar in der Anordnung der Silben und dem Metrum4. Die „Todes-Erfahrung“ führt Chaos in das Leben der Menschen. Ebenso ein Chaos ist in der Anordnung der Silben zu finden. Teilweise nehmen sie Strukturierung eines Sonettes auf und sind auch festgelegt auf wechselnde 10 bzw. 11 Silben pro Vers, aber unterscheiden sich die Anlegung der Versaufteilung von Strophe zu Strophe- mit Nonsens. Allerdings ist dieses Chaos nur im Verborgenen und Kleinen Maße. Nach Außen wird die Strophenzahl gewahrt sowie die Reimordnung wie die Menschen versuchen immer nach außen korrekt zu erscheinen. Aber selbst diese wird einmal gebrochen in Strophe 2, wie dem Menschen „Ausrutscher“ passieren, wenn seine innere Ordnung zerrüttet ist.
Außerdem finden sich in dem Gedicht zahlreiche Zäsuren6, sodass beim lauten Vorsprechen, die Reime fast unmerklich über die Lippen gleiten und den lyrischen Text eher einer tiefsinnigen These als ein Gedicht gleichen lassen. Es ist ein gedankenschweres Gedicht, das durch die Bildhaftigkeit den Inhalt verspielter darstellt, aber dafür dennoch schwer verdaulich. Die vielen Symbole (z. B. „Grün“ „Maskenmund tragischer Klage“), die sich wieder finden, machen den Inhalt noch schleierhafter, noch versteckter, was das Verständnis wiederum beeinträchtigt. Es erscheint schwierig Symbol und Wortwörtlichkeit voneinander zu trennen. Aber auch das stellt eben gerade die Aussage des Gedichtes noch einmal dar. Wer ist natürlich und wer „spielt“ nur ein „falsches Spiel“?
Mich hat dieses Gedicht schon als junger Mensch beeindruckt, wenn ich auch nicht mich mit dem Inhalt so genau vertraut gemacht hatte.
Beim ersten Lesen erkennt man sofort, dass es um den Tod geht und dass er uns in gewisser Weise beeinflusst. Auch die Theatermetapher ist leicht verständlich. So ist rasch eine grobe Interpretation möglich. Setzt man sich jedoch näher mit dem lyrischen Text auseinander, bleiben doch Fragen offen, die sehr viel Tiefsinn verlangen. Aber gerade die Zeitlosigkeit des Gedichtes und der Fakt, dass der Tod ein teil unserer Gesellschaft, ein teil eines jeden von uns ist, bereiten dem Leser den Weg sich mit den Fragen zu befassen – seine eigene „Todes-Erfahrung“ zu machen und seine „Rolle“ im Spiel des Lebens zu überdenken.