Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht von Heinrich Heine wurde 1827 im „Buch der Lieder“ veröffentlicht. Dies ist eine Sammlung von lyrischen Texten, die Heine zwischen 1817 und 1827 geschrieben hat. Das Gedicht trägt keinen Titel, jedoch wird häufig der Anfang „Mein Herz, mein Herz ist traurig“ als Titel verwendet.
1827 herrschte in der Literatur der Stil der Romantik vor. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob es sich denn auch um ein typisches Gedicht dieser Epoche handelt.
Der Inhalt kann recht kurz beschrieben werden. Das lyrische Ich steht auf der Bastei, von der aus er das Treiben in der Stadt unter ihm beobachten kann. Zu Anfang spricht der Sprecher von einer Traurigkeit, für die dem Leser jedoch kein Grund genannt wird. Anschließend werden verschiedene Situationen des Geschehens der Bevölkerung der Stadt geschildert. Am Ende des Gedichts kommt das lyrische Ich jedoch zu dem – für den Rezipienten – überraschenden Schluss „Ich wollt, er schösse mich tot“.
Nun werde ich auf die formalen Aspekte des Textes eingehen. Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit jeweils vier Versen. Die Kadenzen1 sind abwechselnd männlich und weiblich. Somit ergibt sich ein wechselvoller Rhythmus. Bei dem Reim handelt es sich um einen Kreuzreim, allerdings nur in der zweiten und vierten Zeile einer Strophe. Die Verse eins und drei reimen sich jeweils nicht.
Es folgt die Analyse des Inhalts. Die erste beginnt mit dem Ausdruck der Traurigkeit des lyrischen Ichs „Mein Herz, mein Herz ist traurig“ (V. 1). Dabei verstärkt die Wiederholung den Eindruck dieses Gefühls. In der zweiten Zeile wird hingegen die fröhliche Stimmung der Umgebung geschildert „Doch lustig leuchtet der Mai“. Das Verb „leuchten“ darauf hin, dass das Wetter gut ist und sich die Natur in Aufbruchsstimmung befindet. Die Stimmung des Sprechers stimmt also nicht mit seiner Umgebung überein. Durch die beiden ersten Verse ist ein Bruch zwischen Mensch und Natur zu sehen. Dies ist ein erstes Zeichen, dass das Gedicht nicht in der romantischen Tradition geschrieben ist, da dort oft die Umgebung die Emotionen der Personen spiegelt. Besonders auffällig geschieht dies beispielsweise in Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1826). Darin spiegelt sich die Gemütsverfassung der Hauptfigur in der Beschreibung der Landschaft und des Wetters. Einfacher gesagt, wenn es dem „Taugenichts“ gut geht, scheint die Sonne und wenn es ihm schlecht geht, ist auch das Wetter dementsprechend. Dieses Verfahren wird in dem vorliegenden Gedicht jedoch kontrastiert und dessen Gegenteil ist der Fall.
In Zeile drei und vier wird der Ort, an dem sich das lyrische Ich befindet, beschrieben: an eine Linde gelehnt, auf der Bastei.
In der zweiten Strophe schildert das lyrische Ich, was es von seinem Standpunkt alles sehen kann. Zum einen den Stadtgraben, zum anderen einen Jungen, der angelt und dabei pfeift. Es ist anzunehmen, dass der Sprecher das Pfeifen akustisch, aufgrund seiner Position, nicht wahrnehmen kann, allerdings macht der Knabe wohl einen fröhlichen Eindruck auf ihn.
In der dritten Strophe beschreibt der Sprecher die Landschaft um ihn herum. Dort gibt es „Lusthäuser, und Gärten, und Menschen, und Ochsen, und Wiesen, und Wald“ (V. 11 f.).
Alle Nomen werden mit der Konjunktion „und“ aneinandergereiht, was den Eindruck bestärkt, dass der Sprecher seinen Blick schweifen lässt.
Interessant bei der Reihung ist dass, die Menschen, deren Behausungen, Tiere und die Natur nebeneinandergestellt werden. Es ist deshalb anzunehmen, dass das lyrische Ich nicht zwischen diesen differenziert. Die Menschen – dort jedenfalls – scheinen ihm also nicht viel zu bedeuten, wenn er sie schlichtweg aufzählt. Das Adjektiv „freundlich“ bei der Beschreibung der Gestalten, welche der Sprecher wahrnimmt, wiederholt die in dem zweiten Vers erwähnte fröhliche Stimmung.
In der vierten Strophe berichtet das lyrische Ich von Mägden, die in dem Gras herumspringen und von einem Mühlrad, das Diamanten stäubt. Wieder wird die Umgebung als fröhlich beschrieben. Hier angedeutet durch das „Springen“ der Mägde, das recht unrealistisch anmutet, wenn man an die Arbeitsbedingungen der Hilfskräfte im 19. Jahrhundert denkt. Deshalb ist anzunehmen, dass auch diese Beschreibung dem Eindruck dienen soll, dass alles um das lyrische Ich herum voller Freude ist.
Die fünfte Strophe erzählt von einem Wächter, den das lyrische Ich vor seinem Schilderhäuschen auf und ab gehen sieht. Äußerlich wird er durch seinen roten Rock, was eine Art Uniform2 zu sein scheint, beschrieben.
In der sechsten Strophe führt der Sprecher die Beschreibung dieses Wächters fort. Dieser spielt mit seiner Flinte, wobei er „präsentiert und schultert“ (V. 23). Die Flinte „funkelt im Sonnenrot“ (V. 22), womit die Farbe der Uniform des Mannes wiederholt wird und schon einen Hinweis auf die letzte Zeile des Gedichts ist. „Rot“ als eine Farbe, die verschiedene Bedeutungen erfüllen kann. Einerseits steht „rot“ für das Leben, Energie und Kraft (Feuer), andererseits auch für Zerstörung (z. B. Brand) oder Tod (Blutverlust). Mit Hinblick auf das Ende des Gedichts wird „rot“ hier wohl als Anzeichen für den Todeswunsch verwendet.
In Vers 24 folgt nun der Ausspruch des lyrischen Ichs, der somit auch das Gedicht beendet: „Ich wollt, er schösse mich tot“. Diese Feststellung steht in Analogie zu der eingangs beschriebenen Stimmung des lyrischen Ich „Mein Herz, mein Herz ist traurig“.
Auch im Verlauf des Gedichts hat der Leser nicht den Grund für die Traurigkeit erfahren. Allerdings scheint die Fröhlichkeit um den Sprecher herum ihn auf den ersten Blick nur noch trauriger zu machen, so dass er sich den Tod herbei wünscht. Erst in der späteren Betrachtung des gesamten Gedichts wird deutlich, dass Heine diesen letzten Vers ironisch meint.
Interessant ist auch die Position des lyrischen Ichs, das sich außerhalb der Gesellschaft befindet und somit auch keinen Anteil an deren Freude und Leichtigkeit hat.
Es ist festzustellen, dass es sich hierbei um kein typisch romantisches Gedicht handelt, da die typischen Gestaltungsmittel dieser Epoche (vgl. beispielsweise die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“, s.o.) nicht verwendet werden. Der Autor Heinrich Heine wird in der Germanistik generell als „Zwischenfigur“ gesehen, die keiner Epoche exakt zugeordnet werden kann. Berühmt wurde Heine auch gerade deshalb, weil er seine Werke durch einen eigenen Stil geprägt sind.
Melancholie und die damit verbundene Sehnsucht nach dem Tod ist kein neues Motiv in der Lyrik. Dieses wurde vor allem in der Epoche der Empfindsamkeit (ca. 1740-1785) verwendet und diente der Gestaltung von Texten.
Generell sehe ich in dem Gedicht eine menschliche Grundstimmung. Das lyrische Ich empfindet Traurigkeit und leidet durch seine freudige Umgebung noch mehr. Dies sind Momente, die man nachvollziehen kann. Dadurch, dass es relativ unwahrscheinlich ist, dass der Wunsch des Sprechers (nämlich erschossen zu werden) in „Erfüllung“ geht – was dieser wohl auch selbst weiß – kann er auch diesen Wunsch aussprechen.
Eine überraschende Wendung nimmt das Gedicht im letzten Vers („Ich wollt, er schösse mich tot“). Während vor den Augen des Lesers in den ersten fünf Strophen ein idyllisches Gesamtbild entsteht, endet das Gedicht recht abrupt und unromantisch. Das lyrische Ich wünscht sich - ohne Grund - den Tod, was für den Leser auf den ersten Blick konfus erscheint. Wenn man sich die weiteren Werke von Heinrich Heine anschaut, dann wird – wie schon gesagt – deutlich, dass es sich bei diesem Dichter um einen „Grenzgänger“ zwischen den Epochen handelt. Heine ist sowohl Romantiker, als auch jemand der den Romantikern den Spiegel vorhält. Heine spielt dabei mit romantischen Elementen und ahmt ihren Stil nach, aber gegen Ende wird deutlich, dass es sich lediglich um eine Persiflage3 auf die Romantik handelt und dass Heine sich ein Stück weit über die Romantik lustig zu machen scheint. Es liegt in diesem Gedicht also eine große Gefahr, dass man sich von Heine zu einer Fehlinterpretation verführen lässt, wenn man den teils sarkastischen Stil von Heine nicht kennt.
In diesem Gedicht ist es der letzte Vers, der wie ein Stoß das Kartenhaus, dass er in den ersten fünf Strophen aufgebaut hat, zusammenfallen lässt. In Anbetracht dieser neuen Kenntnisse wird auch klar, dass einige der vorangangenen Schilderungen ebenfalls ironisch gemeint waren. Der blaue Stadtgraben, in dem angeblich ein Junge angelt (Strophe 2), ist allenfalls ein verdreckter Wassergraben in dem keine Fische leben können. Den fröhlich umherspringenden Mägden (Strophe 4), die die Wäsche zu bleichen haben, ist bei der harten Arbeit wohl weniger nach Umherspringen zumute und das aufgestäubte Wasser des Mühlrads als Diamanten zu bezeichnen, ist eine deutliche Übertreibung.
Nichtsdestotrotz könnte man sich als Leser von Heine „reinlegen lassen“ und das Gedicht nicht sarkastisch deuten. In dem Fall könnte man den letzten Vers auch als Verstärkung der Traurigkeit verstehen, die das lyrische Ich bereits zu Anfang mit „Mein Herz, mein Herz ist traurig“ erwähnt. Sprachlich würde dies in dem Schlusssatz auch durch die Verwendung des Konjunktivs ausgedrückt werden. Abschließend ließe sich dann sagen, dass in dem Gedicht „Mein Herz, mein Herz ist traurig“ eine Phase menschlichen Erlebens gestaltet wäre, das durch den Gegensatz zu der fröhlichen freundlichen Umwelt noch verstärkt würde.