Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Es ist ein Lied von der Ferne, vom kurzen Lichte in der alles verschlingenden Nacht der unerfüllten Sehnsucht, welches Durs Grünbein in seinem Gedicht „Einer Gepardin im Moskauer Zoo“, im Jahre 1996, widmete. Der Leser wird Beobachter eines mit stiller Würde geführten Kampfes, der - obgleich schon seit langem aufgegeben - noch immer hinter Fassaden ruhiger Eleganz tobt und von Zeit zu Zeit in Schleiern von Fantasien und Bildern ein leises, halb verklungenes, Winseln in taube Herzen singt, um gleich darauf vom Gähnen der ermüdeten Wirklichkeit verschlungen zu werden. Wir lesen von seelischen Schiffen, deren Taue bereits abgetrieben sind, doch um die der Hafen windstill sich schnürte; so, dass selbst der Blick in die Ferne zur Seltenheit wurde. Es geht um das starke Tier, dessen Sehnsüchte sich in den Wänden der Gefangenschaft verlieren. Doch sind wir Menschen nicht auch bloß wilde Tiere?
Grünbeins Gedicht beginnt mit dem Menschen: „So teure Pelze sieht man sonst nur auf den Schultern der Gangsterbräute vorm Casino.“ [Zeile 1-2] Er versucht sogleich das Wesen der Menschen zu beleuchten; mitsamt der ganzen dekadenten Widersinnigkeit, die in ihm ruht. Der Autor beschreibt nicht einfach bloß das Fell des Tieres in seiner Schönheit, sondern er hüllt diese Darstellung in ein ironisch angehauchtes Bild der „Gangsterbraut“, die sich in anderer Häute bettet und sinnlosen Tätigkeiten nachgeht (Casino), um ihrem eigenen Gefängnis der Sehnsucht zu entfliehen. Auch kommt schon hier der menschliche Widerspruch zum Tragen: wir ergötzen uns an der Ausstrahlung und machtvollen Anmut des Tieres, welche es allein durch sein Leben verkörpert. Auch entdecken wir in ihm den in jedem von uns ruhenden Hauch von wilder Stärke und dem Wunsch nach grenzenloser Freiheit. Doch in unserem Drang dies - was wir nicht haben können - eben doch zu spüren, sperren wir das Wesen ein, oder töten es, um sein Fell zu tragen, und vernichten damit gleichzeitig alles, was wir in ihm sehen. Dies wird im darauf folgenden „Laufsteg-Vergleich“ noch verdeutlicht. Es wird ein Vergleich erstellt, zwischen dem geschmeidigen Schleichen des Tieres und dem menschlichen Versuch diesem nachzueifern. Die kopierende Jugend als „androgyn“ zu beschreiben, geschieht nicht ohne Grund, denn die weibliche Raubkatze vereint vieles in ihrem Auftreten: weibliche Eleganz, Anmut und Schönheit sowie die - im Allgemeinen den Männern zugeschriebene - Stärke und einen großen zielstrebigen Willen. Der Wunsch und Drang der Menschen an diesen Eigenschaften teilzuhaben, oder sie wenigstens beliebig oft verfügbar zu machen, wird in Zeile 4 verdeutlicht: „Die Augen funkelnd unterm Blitzlicht“ der Fotografen, immer auf der niemals enden wollenden Suche nach dem perfekten und vollendeten Abbild der Schönheit. Natürlich sind auch die Künstler seit allen Zeiten der denkenden Menschen auf der Jagd und im Grunde gleich motiviert; wenn auch auf weniger unnatürliche Art und Weise. „Wie Pisanello sie gemalt hat, mit entzücktem Pinsel […] federt sie schweifend auf und ab.“ [Zeilen 5 und 7]
Der letzte Satz der ersten Strophe scheint auf den ersten Blick herausgelöst zu sein. Doch auch wenn er - oberflächlich betrachtet - inhaltlich nicht mit den vorherigen Zeilen in Einklang steht, so ist es doch so, dass er sich mit dem Teil des vorletzten Satzes, der mit Zeile 7 beginnt, verbindet und zusammengehörig ist. Löst man nun diese Verbindung heraus, wird dem aufmerksamen Leser klar, dass eine Brücke zwischen der ersten und zweiten Strophe geschaffen wurde: „[…] Federt sie schweifend auf und ab. Das Rückgrat dosiert die leiseste Bewegung. Millimeter vorm Grabenrand den Schwung der Pfoten umzulenken geht ohne Hinsehn ab.“ [V. 7-11]
Es ist also sprichwörtlich eine Brücke der Eleganz, die hier zwischen zwei Strophen, die scheinbar unterschiedlichen Inhalts sind, geschaffen wurde. Eine Brücke, deren Teile sich gleichen, ohne die verbundenen Stücke zu vermischen. Ein solcher Übergang wird auch dadurch ermöglicht, dass das Gedicht keinem aufgezwungenen Reimschema und Rhythmus unterliegt. Des Weiteren ist es in keine Form, wie z. B.: das Sonett1, gepresst. Der Übergang wird übernommen und beendet vom Symbol des Grabenrandes als zweierlei bedeutsame Grenze. Zum einen ist es die Einschränkung des Tieres, dessen Sehnsucht in die Ferne drängt und die es nicht zu überwinden vermag, die er - der Rand - symbolisiert. Auf der anderen Seite ist dieser Rand auch die Grenze des Würde-Bereiches der Gepardin. Außerhalb ihres kleinen Raumes stinkt der lärmende Menschenstrudel und verpestet die Luft. Sie braucht die Grenze nicht einmal zu sehen, um millimetergenau zu wissen, wo sie verläuft. „[…] Geht ohne Hinsehn ab. Dort wird dem Ohr, der feinen Nase nichts geboten außer Lärm und Schweiß, jenseits des Drahtzaunes, wo sich die Affen tummeln mit ihren Kinderwagen zur Besuchszeit.“ [V. 11-14]
Hier wird ein wichtiger Aspekt der Beobachtung und Beschreibung erhärtet: die Menschen werden als Affen bezeichnet und mit dem Tier - also der Raubkatze - gleichgesetzt. Dies ist vor allem für die Schlussbetrachtung wichtig, da erst dort deutlich wird, worin der genaue Interpretationsgegenstand liegt und was ein wichtiger Teil der Intention des Autors Grünbein - und im Vergleich auch Rilkes - ist. Doch zuerst möchte ich hier eine Verknüpfung zum Titel des Gedichtes entdecken. Von „Einer Gepardin im Moskauer Zoo“, „wo sich diese Affen tummeln“ ist die Rede. Zieht man diese zwei Zeilen so zusammen, so wird klar, dass es nicht um den Zoo in Moskau geht, sondern, dass Moskau selbst der Zoo ist. Die Gepardin ist somit nur ein Tier unter andern; nur mit dem Los der Gefangenschaft. Auch dieser Umstand soll noch eine Rolle spielen.
Bei alledem und ihrem Bewusstsein, dass sie niemals dorthin zurückkehren wird, wo sich ihr Leben normalerweise vollziehen sollte, träumt sich die Gepardin dennoch manches Mal in ihr - mittlerweile recht bescheidenes - eigenes Elysium und verdrängt wenigstens für den Augenblick den Zoo außerhalb ihrer Gefängnismauern. „Hechelnd verwandelt sie die schlechte Luft der Großstadt in ein entferntes Air … die weißen Schleifen im Haar der Mädchen in Gazellenfleisch. Faustgroß, ihr schmaler Kopf hält wachsam noch die Stellung, wenn sie im Flimmern vor den Toren Moskaus Zebras sieht.“ [V. 14-19] Sie kennt die Welten ihrer Sehnsucht; sie erinnert sich. doch hinter der Würde und Stärke verbirgt sich die große Müdigkeit aller, die wissen, dass die Sehnsucht nur ein Traum bleibt; nichts weiter. Und so gähnt sie den Fetzen des Traumes davon.
Vergleich zu „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke
Vergleicht man nun Grünbeins Gedicht mit „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke, so lassen sich viele Ähnlichkeiten entdecken. Der Panther Rilkes läuft Jahr und Tag in seinem Käfig im Kreise, bis ihm so ist, als ob nicht er es wäre, der sich bewegt, sondern die Stäbe selbst, die um ihn tanzen. Dies ewig gleiche Spiel trübt seinen Blick und die Müdigkeit der Sehnsüchtigen ließ ihn so abstumpfen und vertrocknen, dass er so betäubt die Welt außerhalb seines Käfigs kaum noch wahrnehmen kann. Er hat sich selbst verloren. Im Gegensatz zu Grünbeins Gedicht, lassen sich hier klarere gestalterische Mittel erkennen: das Gedicht „Der Panther“ besteht aus 3 Strophen mit jeweils 4 Zeilen, wobei jede im Zeilenstil2 verfasst ist. als Reimschema kann man folgendes Muster erkennen: 1. Strophe: abab; 2. Strophe: cdcd; 3. Strophe: efef. Des Weiteren ist Grünbeins Tier weiblich, während der Panther männlichen Geschlechts ist. Dieser Umstand scheint allerdings keine Rolle zu spielen; außer, dass man mutmaßen könnte, Grünbein hätte absichtlich ein weibliches Tier genommen - in der Kenntnis Rilkes Gedichtes - um zu zeigen, dass es gleich ist, welches Geschlecht sehnsüchtig ist.
Die zweite Strophe des Gedichtes wird mit dem „Schein-Oxymoron3“ des „weichen Ganges starker Schritte“ eingeleitet und ist die Beschreibung des Verhaltens des Panthers, welches mechanisch und abgestumpft wirkt. Bei Grünbein wirkt die Raubkatze lebendiger und bewusster. Auch der Zusammenhang zwischen Mensch und Tier, was die Rollen betrifft, ist bei Rilke wesentlich feiner und unersichtlicher. Rilkes Sprache wirkt geschmeidiger und voller Anmut; sie klingt wie die Dinge, die sich beschreibt („weiche Gang geschmeidig starker Schritte“ [V. 5]) und ist somit ein Abbild des Tieres, dessen Stärke und Wille tief verborgen sind.
Doch plötzlich passiert ein Moment des Lichts, da sich der Nebel der Stärke lichtet und Gedanken und Sehnsüchte wieder hinauf dringen; Momente, da die Betäubung nachlässt. Als ob der Panther etwas gesehen hätte, was einen alten Gedanken oder eine alte Erinnerung in ihm löst, dringt ein Bild durch seine - nun wieder klare - Pupille. Seine angespannten Glieder verraten eine gewisse Überraschung und vielleicht auch Erwartung. Doch das Bild verblasst und wieder einmal ergreift den Panther die Ohnmacht: „und hört im Herzen auf zu sein.“ [V. 12]
Viele werden glauben, dass damit das Bild gemeint ist; dass es verblasst. Doch ich denke, dass es noch tiefer geht, dass nicht nur das Bild verblasst, sondern auch der Panther; sein Wesen, denn das Herz symbolisiert die Sehnsucht, Leidenschaft, Emotion - das Sein!
Hier wird Rilke konkreter und direkter als Grünbein, bei dem diese enorme Konsequenz aus allem nicht so deutlich wird.
Wie schon mehrfach angesprochen scheint hinter den Intentionen der beiden Schriftsteller - bei Grünbein offensichtlicher als bei Rilke - mehr zu stecken, als die bloße Darstellung eines gefangenen Tieres. Wie ich aufgezeigt habe, wird das Tier „vermenschlicht“; gleich gesetzt. Was unterscheidet uns denn von diesem eingesperrten Wesen, welches in die Ferne schweift? Sind wir nicht alle irgendwo Gepardinnen und Panther; wenigstens in unseren Träumen, wenn es uns herausreißt aus dem alltäglichen Zement? Ich denke, genau darum geht es! In jedem Menschen lauern Träume und Wünsche, die sich nie erfüllen werden. Ob im Kreml oder in Élysée; überall sitzen sie wie Panther - nur wissen sie es nicht. Jedes Leben ist eine Jagd im Kreis, ist „wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.“
Der Leser wird in beiden Fällen, in beiden Gedichten, zum Beobachter einer Gefangenschaft, mit der er mehr gemeinsam hat, als er zu wissen wünscht. Doch wenn wir von Erscheinungen wie Frust gelähmt in unseren Zimmern kreisen, dann wissen wir es und es macht uns rasend: wir sind nicht viel mehr als die Tiere in ihren Käfigen; nur dass wir sie uns selber anlegten und ihrer nicht gewahr werden können.