Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Mensch ist ein soziales Wesen, er braucht zwischenmenschliche Beziehungen, er sucht die Nähe zu seinesgleichen, und nur manchmal, wenn er sich besinnen will, die Einsamkeit. So verwundert doch dieses Werk Nietzsches zunächst beim Lesen.
Die erste Auffälligkeit des Gedichtes „Vereinsamt“ ist der Titel selbst. Bei genauerer Betrachtung des Wortes „vereinsamt“, stellt man fest, dass es anders als „einsam“ nicht einen Zustand, sondern einen Prozess beschreibt. Dieser Vereinsamungsprozess spiegelt sich in dem gesamten Gedicht wider.
Auffällig ist, dass die erste und letzte Strophe einen Rahmen um die zweite bis fünfte bilden. In den ersten vier Versen wird ein vorwinterliches, bedrohliches Bild beschrieben: „schreiende Krähen“, die in „schwirren Flug“ zu „Stadt ziehen“, kündigen als Unglücksboten den Winter an. Die Vorausdeutung „Bald wird es schnein.“ wird durch den folgenden Vers „Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!“ zu einer beunruhigenden Aussage. Die Lautmalerei mit den Vokalen „i“, „ei“ und „ä“ in den ersten drei Zeilen verstärken den Eindruck der Bedrohung. Im Gegensatz dazu steht der vierte Vers, der durch die Wärme ausstrahlenden Vokale „a“ und „o“ geprägt wird. Die Grundstimmung der gesamten Strophe ist genauso wie die der folgenden unruhig und rastlos, was vor allem den Zeilensprüngen und dem durchgehenden Jambus geschuldet ist.
In der zweiten Strophe schaut das lyrische Ich auf den Wanderer herab. Diese Perspektive lässt ihn klein und die unwirtliche Umgebung unendlich groß erscheinen. Bezeichnend hier ist, dass anders als in der vorherigen vier Versen diese Zeilen nicht durch eine physische Bewegung hin zu Stadt gekennzeichnet ist. Vielmehr verharrt der Wanderer und blickt zurück, es vollzieht sich also nur eine gedankliche Hinbewegung zur Heimat. Anders als die Krähen kann der Mensch nicht zurückfliegen. Er steht „starr“ und entfernt sich immer weiter von der „Stadt“, die als Metapher1 für Wärme, Geborgenheit und Heimat steht. Er, der „Narr“, hat diesen Prozess selbst ausgelöst, er ist „vor Winters in die Welt entflohn“. Die Starre und die vorwurfsvollen Fragen des lyrischen Ichs deuten auf die Unaufhaltsamkeit des Vereinsamungsprozesses hin. Der Begriff „Welt“ wird in der folgenden, dritten Strophe als Tor zu einer unendlich, feindliche Weite von „Wüsten“ beschrieben. Das Motiv der Wüste ist geprägt von Kälte und Stille. Die mit einer Wüste assoziierten Weite lässt den Wanderer noch kleiner und noch verlorener erscheinen. Das Motiv selbst bildet einen Gegensatz zur Stadt, die eng und überschaubar ist, sie symbolisiert Kälte und durch ihre Weite auch die Einsamkeit, auf die sich der Wanderer in seinem Vereinsamungsprozess zu bewegt. Dass dieser unaufhaltsam ist, machen die Verse „Wer das verlor, / was du verlorst, macht nirgends halt“ deutlich. Das Schicksal des Vereinsamenden ist die Ruhelosigkeit und die Unfähigkeit Halt zu finden.
Die vierte Strophe zeigt Parallelen zur zweiten auf. Auch sie beginnt mit „Nun stehst du“, nur diesmal verwendet der Dichter nicht das Adjektiv „starr“, sondern „bleich“, was darauf hinweist, dass während der letzten Verse ein Erkenntnisprozess stattgefunden hat. In der zweiten Strophe hält der Wanderer inne, in der vierten erkennt er, dass er vereinsamt und zur ruhelosen „Winter- Wanderschaft verflucht“ ist. Die Metapher des aufsteigenden „Rauchs“ beschreibt den Prozess, den er durchläuft. Der Rauch entfernt sich von einer wärmenden Flamme und steigt in immer „kältere Himmel“ auf, er entfernt sich also immer mehr von seinem Ursprungsort.
Die darauf folgende fünfte Strophe beginnt mit einer Aufforderung „flieg Vogel“. Hier sind nicht mehr die Krähen gemeint, die hin zu Stadt ziehen, man könnte eher annehmen, dass der Wanderer selbst dieser Vogel ist. Die Worte „schnarr / dein Lied im Wüstenvogel- Ton“ deuten auf eine Zugehörigkeit zu der weiten, kalten Landschaft hin. Die zweite Aufforderung, das „blutende Herz“ in „Eis und Hohn“ zu verstecken, zeigt die Endgültigkeit des Vereinsamungsprozesses und des Schicksals des Wanderers.
In der letzten Strophe, die den schon erwähnten Rahmen mit der ersten bildet, ziehen die Krähen erneut zur Stadt. Alle Wörter dieser Strophe gleichen denen der ersten, bis auf das „Weh“, das das „Wohl“ ersetzt. Durch diese einfache Änderung bekommen die letzten Zeilen einen drohenden Charakter, der davor warnt so töricht wie der Wanderer sich von der „Stadt“ zu entfernen.
Der gesamte Prozess, der in dem Gedicht durchlaufen wird, wirkt bedrohend, warnend und abschreckend zugleich. Durch die Perspektive der Draufsicht und die bildhafte Sprache wird die Vereinsamung spürbar und plastisch vor den Augen des Lesers. Bei einem Blick auf Nietzsches Philosophie erkennt man einige Parallelen: So prägte Nietzsche das Bild von den Metamorphosen vom Kamel zum Löwen und vom Löwen zum Kind. Der Prozess der Entfremdung von einer vorgegebenen Moral und ihrer Verneinung wird als die Metamorphose vom wiederkäuenden, hinnehmenden, Kamel hin zum aufbegehrenden Löwen, der sich von der Gemeinschaft entfernt, beschrieben. Der Mensch, der das tut, stürzt nach Nietzsches Philosophie zunächst ins Bodenlose, in dem er alles verneint und vereinsamt. Er befindet sich in der Wüste. Dieser Prozess wird in dem Gedicht beschrieben, er ist notwendig, bevor die zweite Metamorphose stattfinden kann, in der der nihilistische Löwe zum lebensbejahenden Kind wird. Unter diesem Aspekt erscheint das Gedicht nicht mehr ganz so bedrohlich, da die beschriebene Vereinsamung Teil eines Weges hin zum eigenen Frieden ist.