Autor/in: Friedrich Nietzsche Epoche: Symbolismus Strophen: 6, Verse: 24 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4, 5-4, 6-4
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt - ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, -
Weh dem, der keine Heimat hat!
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Vereinsamt“, das trägt etwas Düsteres, Trauriges und auch Leeres mit sich. Mir macht es sogar ein wenig Bange, weil ich die Einsamkeit zutiefst verabscheue. Dieser Titel ist dem Gedicht ein sehr negativ beladener Vorreiter.
„Vereinsamt“ stammt von Friedrich Nietzsche, einem Philosophen.
Als Philosoph spielen besonders Gedanken und das Denken eine große Rolle. Ich denke, das sollte in diesem Gedicht stark berücksichtigt werden, da auch einige Gedankenstriche (V. 3, 4, 9, 23) diese Vermutung schon unterstützen. Außerdem wer „Vereinsamt“, der hat viel Zeit zum Denken. Vereinsamen ist aber auch ein Prozess. Der Betroffene muss also einmal ein Teil der Gesellschaft gewesen sein.
Das Gedicht scheint mir im ersten Moment genauso kalt und leer wie sein Titel. Ohne wirkliche Aussage und nur als wirre, undurchsichtige, bildhafte Erzählung.
Bei näherer Auseinandersetzung mit dem Text wird mir jedoch die Bedeutung dieser bildhaften Sprache ersichtlich und das Gedicht erscheint mir wie eine einzig, große Chiffre1.
Das Lyrische Ich setzt sich mit Hilfe eines inneren Monologes fast schizophren („du“ V. 5, 7, 12, 13, 19) mit seinem inneren Zustand auseinander. Da aber die menschliche Psyche nun mal kein konkret beschreibbares Etwas ist, bleibt dem Lyrischen Ich nur das Mittel der bildhaften Umschreibung.
„Die Krähen schrein“ (V. 1) ist eine Feststellung des lyrischen Ichs und ein ziemlich heftiger Einstieg, denn Schreie tun weh, tun in der Seele oder in den Ohren weh. Das macht nicht nur mir Angst, sondern vielleicht auch dem lyrischen Ich.
„… und ziehen schwirren Flugs zur Stadt“ (V. 2) einerseits durch die Onamatopoesie („schrein“ V. 1, „schwirren“ V. 2) und durch den Zeilensprung drücken diese 2 Verse einen bewegten und lärmenden Vorgang aus.
„Krähen“ sind sehr negativ belastete Tiere mit Kälte und Todessehnsucht, oder auch Todesgedanken, die plötzlich im Kopf auf“ ziehen“ können. Meines Erachtens ist dies sogar noch genauer beschrieben, denn steckt doch im Wort „schwirren“ auch „wirr“ und „irr“.
Und bald wird es kalt, denn „bald wird es schnein“ (V. 3). Es wird innerlich kalt werden. Durch die kurze prägnante, aber zukunftsorientierte (durch Temporaladverb „bald“) Betonung scheint dieser Zustand einzutreten, weil die Todesgedanken aufkommen die zum Zentrum seines Wesens, seines momentanen Zustandes, seines Kopfes („Stadt“ V. 4) „schwirren“ Die Stadt als ein Zentrum, Monopol und auch zu Nietzsches Zeiten ein sehr chaotischer und dreckiger Ort. Und somit auch als Chiffre des ungeordneten, zerrütteten und dreckigen geistigen Zentrums des lyrischen Ichs.
Mit dem „Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat“ (V. 4) schließt er sich selbst aus, denn Heimat, als Ort des Wohlbefindens, des inneren Friedens steht in Kontrast zu der negativ belasteten Stadt, seinem Zustand. Als beneide er jene oder gratuliere denen, den es psychisch noch gut gehe. Durch den Gedankenstrich und der damit verbundenen Pause vor „Heimat hat“ (V. 4 Alliteration2 – betont den Zeilenteil noch zusätzlich) scheint es dem lyrischen Ich fast Schwierigkeiten diese zwei Worte zu artikulieren.
In der zweiten Strophe ist zur bewegten 1. Strophe ein drastisch ruhender Punkt mit „starr“ stehen (V. 5) gesetzt. Dadurch, dass das lyrische Ich wie eine andere Person sich aber selbst anspricht, ja fast anklagt, wirkt die Situation besonders zwiegespalten. Mit „nun“ (V. 5) einem Temporaladverb des Präsens erscheint es als hätte das Lyrische Ich bzw. der Adressat des Gedichtes, womöglich das zweite Ich, erst jetzt seinen Zustand erfasst. Dass er, anstatt nach vorne (positiv, optimistisch) zu blicken, nur pessimistisch, negativ „rückwärts“ (V. 6) schaut. „…wie lange schon!“ (V. 6) ist eigentlich eine rhetorische Frage, schließt jedoch mit einem Ausrufezeichen ab und dadurch, dass dies durch eine Interjektion3 („ach“ V. 6)) eingeleitet wird, erscheint es wie ein anklagender Verzweiflungsruf an es selbst. Die Verzweiflung steigert sich noch indem nun eine rhetorische Frage anschließt. Verwirrend ist, dass man auf den ersten Blick glauben könnte, dass das Lyrische Ich fragen würde, was er ist (V. 7/8), aber da „Narr“ (V. 7) nicht mit Komma abgegrenzt ist, müsste es theoretisch heißen: „Was bist du für ein Narr, der vor Winters in die Welt entflohn ist?“ Nietzsche hat in diesem Fall auf Ellipsen4 zurückgegriffen, um sein strenges Versmaß, auf das ich später zurückkommen möchte, intakt zu halten.
Das Lyrische Ich klagt sich also an, wie stupide er ist, dass er vor seiner inneren Kälte (V. 8 „Winters“ Bezug zu „schnein“) flieht. Was meint „Welt“ (V. 8/9)? Es heißt ja auch die weite Welt und wird mit der Ferne oder auch Außenwelt in Verbindung gebracht.
In der dritten Strophe wird versucht diese „Welt“ (V. 8/9) näher zu definieren. Es ist „ein Tor“ (V. 9), wie auch üblich gesagt das . Ist die Welt/ Außenwelt ein Ausweg („Tor“ V. 9). Wieder eine Ellipse, anstatt eines ‚ist’ wurde ein Gedankenstrich (V. 9) gesetzt und lässt es somit auch wie eine Gegenüberstellung beider Worte aussehen. Dieser Vers (V. 9) bringt Hoffnung, denn ein Ausweg („Tor“ V. 9) birgt Gutes, wahrscheinlich war eben diese Welt/Außenwelt/Ferne für das Lyrische Ich ein Hoffnungsschimmer, aber es musste erkennen, dass sein anscheinender Ausweg nur zu leeren Orten („Wüsten“ V. 10) führte, die ihm keine Erfüllung brachten („stumm und kalt“ V. 10). Mit der Übertreibung/Hyperbel5 „tausend“ (V. 10) wird die Grenzenlosigkeit seines Elends unterstrichen, dass er nämlich nirgends einen Platz findet, wo es seine Erfüllung bekommt, weg von seiner innerlichen Kälte und der Todessehnsucht.
In der Erkenntnis der weiteren 2 Verse greift es genau diese Problematik noch einmal auf („nirgens“ V. 12), somit ist ein Bezug zu den „tausend Wüsten“ (V. 10 für „nirgends“) geschaffen. Aber er erklärt, weil etwas nicht mehr hat (V. 11/12), findet er keinen Platz mehr in der Gesellschaft (V. 10 „tausend Wüsten“, V. 12 „nirgends“ Nirgends fühlt er sich wohl, wahrscheinlich wird er sogar verstoßen, er findet keine soziale Wärme mehr (V. 10 „kalt und stumm“). Er erkennt, dass er vereinsamt ist und/weil er die Gesellschaftsfähigkeit „verloren“.
Durch den anaphern6ähnlichen Anfang der beiden Versen 11 und 12, wird die Wichtigkeit dieser 2 Verse noch betont.
Zuzüglich ist zu benennen, dass in dieser Strophe wieder Bewegung herrscht besonders durch „nirgends halt“, was Ruhelosigkeit verkörpert.
In der 4. Strophe wird das wieder zum Stillstand gebracht durch die Anapher „Nun stehst du bleich“ (V. 13) bezüglich Vers 5; hier, die Erweiterung zu jenem Vers. Sozusagen erfolgte eine erweiterte Erkenntnis, denn er „steht“ nicht mehr nur „starr“ , sondern jetzt ist er schon „bleich“ vor dem Grauen der Wahrheit. Das Lyrische Ich hält sich selbst aber sein nicht veränderbares („verflucht“ V. 14) Schicksal („Winter-Wanderschaft“ V. 14) vor Augen und bringt wieder Bewegung in den Gedichtverlauf. Er meint, er werde ewig vor seiner inneren Kälte („Winter-“ V. 14) fliehen („-Wanderschaft“ V. 14) müssen. Und so gleicht er doch einem Zugvogel, der auf „Winter-Wanderschaft“ ist um die Wärme zu erreichen, um zu überleben, nur das er nie dieses Ziel erreichen mag („verflucht“ V. 14). Er vergleicht sich deshalb auch mit dem „Rauch“ (V. 15), mit etwas, das unscheinbar und schwerelos umherweht, auch verwehen kann. Wie der Rauch würde er nach der Kälte streben/ziehen (V. 16), ohne es vielleicht zu wollen.
In der 5. Strophe spricht er seine Gedanken/Todessehnsucht an und provoziert sie anscheinend noch durch die Aufforderung („Flieg“ (V. 17) und „schnarr“ (V. 17) […] !(V. 18)“ ) das Lyrische Ich weiterhin innerlich zu zerstören und ihn sein Schicksal der Vereinsamung vorzuhalten („dein Lied im Wüstenvogel-Ton“ ) Wie in Strophe 2 spricht er sich in den letzten 2 Versen (19/20) der Strophe mit „Narr“ an, aber im Gegensatz zu dem ersten „Narr“ (V. 7) steht es hier mit „du“ als Anrede zwischen zwei Kommas gestellt.
Er gibt uns nun Auskunft über seine Erscheinung, wahrscheinlich auf die Gesellschaft, oder wie er denkt, dass er auf andere wirkt. Er erscheint nämlich kalt und höhnisch („in Eis und Hohn“ V. 18), aber hinter dieser Fassade fühlt er sensibel und ist verletzlich oder auch seine inneren Schmerzen (V. 19720 „Versteck[…] dein blutend Herz“ ). Die Verse erklingen in Selbstironie, da er sich selbst als „Narr“ bezeichnet und selbst seinen innerlichen Tod besiegelt, wie schon in den Versen davor auch noch dazu provoziert.
Die letzte Strophe gleicht der ersten bis auf den letzten Vers. Somit spannt er einen Bogen um sein Gedicht. Doch diesmal scheint er mit sich abzuschließen. Denn steckt in der ersten Strophe noch ein winziger Funken Hoffnung, etwas kleines Positiven, mit „Wohl dem“ so ist es in der letzten Strophe mit „Weh dem“ und „keine“ negativiert und alle Hoffnung scheint erloschen, denn zu denen scheint er sich mit einzubeziehen. Seine Todessehnsucht kommt auf, es wird innerlich kalt in ihm werden und er wird sich nicht mehr dagegenstellen, denn das Gedicht ist zu Ende. Sein Schicksal somit endgültig besiegelt.
Besonders auffallend ist die Form, die Nietzsche seinem Gedicht gegeben hat. Er verwandt den Kreuzreim und die Verse wechseln sich in einer 4-Silben und 8-Silben-Form ab. Um diese starre Form wirklich immer einzuhalten, setzte er Ellipsen (V. 7/8, V. 9/10) und Synkopen („schrein“ V. 1/21, „entflohn“ V. 8 u.a.) ein. Aber diese ungelenke Erscheinung steht im völligen Widerspruch zu dem chaotisch, geistig zerrissenen Inhalt, der auch noch ständig zwischen Bewegung und plötzlichen Stillstand abwechselt. Diese Fassung scheint den Inhalt einzusperren. Ich mag zu behaupten, dass dies eine Darstellung des Lyrischen Ich sein soll, der äußerlich vielleicht gefasst wirkt, aber innerlich/geistig zerrissen ist.
Letztendlich bestätigt sich meine Vermutung, dass das Gedicht eine Auseinandersetzung des Lyrischen Ichs mit seinem inneren Zustand darstellt. Aber ist es vielmehr noch eine Anklage, denn durch die auffallend zahlreichen Ausrufezeichen, scheint es als wolle das lyrische Ich sich im verlauf des Gedichtes selbst klar machen, dass er „Vereinsamt“ ist. Womit auch der Bezug zum Titel hergestellt wäre.
Anfangs scheint sein zweites ich ja nur von den Suizidgedanken („Krähen“ V. 1/21) und seiner innerlichen Kälte geplagt. Die Kälte des Gedichtes bzw. des Lyrischen Ichs wird häufig betont in diesem Gedicht, denn sind in 6 Strophen 7 Wörter der Kälte („schnein“ V. 3 „Winters“ V. 8 „kalt“ V. 10 „Winter-Wanderschaft“ V. 14 „kältern“ V. 16 „Eis“ V. 20 „schnein“ V. 23) verwandt worden. Im weiteren Verlauf des Inhalts erlangt der Adressat des Gedichtes immer mehr erweiterte Erkenntnis über seinen, seines Erachtens ausweglosen geistigen und sozialen Zustand und gibt sich schließlich selbst auf.
Das Gedicht ist voller Kälte!
Es macht mir Angst.
Je tiefer man in die Bedeutung der Verse dringt und somit auch in die Psyche des lyrischen Ichs, umso mehr erfüllt es mich mit Furcht.
21;
Bewertungen
Bisherige Besucher-Bewertung: 12 Punkte, gut (+) (12,4 Punkte bei 191 Stimmen) Deine Bewertung: