Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der römische Brunnen“ wurde 1882 von dem deutschsprachigen Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer, welcher am 11. Oktober 1825 in Zürich geboren wurde und dort am 28. November 1898 verstarb, veröffentlicht. Dabei entstehen nach zahlreichen Abänderungen in mehreren Jahren insgesamt sieben Fassungen (wobei es sich bei dem hier vorliegenden Text um die siebte Fassung handelt), welche von der ersten bis zur letzten Version immer stärker verdichtet wurden, um den Umfang von zwei Strophen auf eine einzige Strophe zu verringern. Wie bereits der Titel des Werkes unschwer erkennen lässt, wird thematisch die Beschreibung eines römischen Brunnens vorgenommen.
Nicht nur zeitlich durch die Veröffentlichung am Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich dieses Gedicht der literarischen Strömung des Realismus zuordnen, denn auch inhaltlich und formal sind solche Dinggedichte1 wie in dem hier vorliegenden Fall äußerst häufig verbreitet. Dabei handelt es sich um eine Art von Gedicht, welches ein Objekt in das Zentrum seiner Betrachtung rückt. Oft stehen hier Themen wie die Arbeitslosigkeit oder die Industrialisierung im Mittelpunkt, doch nicht selten wird auch über alltägliche Dinge wie bspw. die Beschreibung einer Landschaft oder Szene geschrieben, wie eben auch in dem hier vorliegenden Werk von Meyer. Durch diese sachliche und wertfreie Betrachtung der Gegenwart wird der Fokus auf die Objektivität gesetzt, was jedoch im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass aus dieser wirklichkeitsgetreuen Wahrnehmung keine tiefergründigen Interpretationsmöglichkeiten gezogen werden können. Die Aufteilung des Wassers innerhalb des römischen Brunnens kann hier bspw. im übertragenen Sinne für die Verteilung von Reichtümern innerhalb einer Gesellschaft stehen, welche nur dann gewissermaßen Gleichheit erlebt, wenn die Menschen untereinander gerecht miteinander umgehen.
Meyer nimmt diese genaue Beschreibung des leblosen Objektes innerhalb einer Strophe mit insgesamt acht Versen vor, welche über Kreuzreime miteinander in Verbindung stehen. Dabei beschreibt er den Aufbau eines römischen Brunnens, und zwar mit dem Fokus auf die Bewegungen des Wassers. Zunächst schießt der Wasserstrahl in die Höhe und fällt anschließend wieder herunter (vgl. V. 1). Um die Wechselwirkung der einzelnen Wasserstrahlen bzw. -wellen zu unterstreichen, verwendet Meyer starke Enjambements2 zwischen den Versen eins und zwei sowie zwischen den Versen drei und vier. Wenn eine Schale das Wasser nämlich nicht mehr halten kann, so strömt es unweigerlich in das darunterliegende Becken. Die erste „Marmorschale“ (V. 2) wird so zunächst durch den Wasserstrahl befüllt, welche aber im Vergleich zu den anderen Schalen so klein ist, dass sich das Wasser dort nicht lange hält und relativ schnell beginnt, Wellen zu erzeugen (vgl. V. 2f.). Das herabströmende Wasser der ersten Schale füllt nun die darunterliegende zweite Schale. Durch das herabprasselnde Wasser entsteht ein Schleier, welcher die erste Schale bedeckt bzw. „verschleier[t]“ (V. 3). Das zweite Becken ist dabei größer als das erste, sodass sich das Wasser hier ruhiger verhält. Über die dritte Schale verliert der Dichter zwar kein einziges Wort, doch analog zu den ersten beiden Becken bzw. zu deren Veränderungen durch ihre unterschiedlichen Größen lässt sich sehr stark vermuten, dass das Wasser hier verstärkt ruht. Durch die größere Fläche können sich die Wellen auch schneller “beruhigen“, wodurch der Hektik ein Ende gesetzt wird, auch wenn das Wasser dennoch weiterhin „strömt“ (v. 8). Die letzten beiden Verse stehen überdies als Verallgemeinerung sowie Sinnbild für das gesamte Leben, und werden durch die Anapher3 in den Versen sieben und acht hervorgehoben. Die eher schwachen Oxymora „nimmt und gibt“ (V. 7) sowie „strömt und ruht“ (V. 8) stehen sinnbildlich für viele Aspekte im Leben, welche zunächst gegensätzlich erscheinen, jedoch bei näherer Betrachtung erst eine gewisse Ganzheitlichkeit aufweisen. Hervorgehoben wird dies nicht zuletzt besonders durch die sehr auffällige Anhäufung des Wortes „Und“ (V. 7f.), die für eine ruhige und gleichmäßige Lesart sorgt. Vor diesem Hintergrund können die einzelnen Wassertropfen des Brunnens inhaltlich für die vielzähligen Menschen einer Gesellschaft stehen, welche nur im Kollektiv ein lebenswertiges Dasein führen können. Als Erklärung dafür könnte überdies angeführt werden, dass die Wasserschalen häufig personifiziert werden (vgl. „aufsteigt“ (V. 1), „sich verschleiernd“ (V. 3), „wird zu reich“ (V. 5), „nimmt“ (V. 7), „gibt“ (V. 7)), um so die Distanz zu einer möglichen Identifikation mit den Wassertropfen zu verringern. Die Verse sollen die Leserschaft dazu auffordern, ihr Leben zwar in vollen Zügen zu genießen, dabei jedoch nicht überheblich zu werden und stets zufrieden zu sein mit dem was man hat. Besonders zur damaligen Zeit der Industrialisierung leben viele Menschen in großer Armut und müssen mit den nötigsten Habseligkeiten auskommen. Ihre Arbeitsplätze werden häufig durch Maschinen ersetzt, wodurch es zu einer großen Massenarbeitslosigkeit in der breiten Bevölkerung kommt, mit der in den meisten Fällen eine verstärkte Armut einhergeht.
Auch heutzutage hat dieser Apell seitens Meyer nicht an Bedeutung verloren. Wenn man Dinge miteinander teilt und „jede® nimmt und gibt“ (V. 7), dann wird man durch eine solche Hilfsbereitschaft auch nicht ärmlicher, sondern gewinnt möglicherweise im Gegenzug noch zusätzlich u.a. neue Freunde. Der Drang nach (materiellen) Dingen kann zudem auch schnell zu einer nicht enden wollenden Sucht führen, da man ebenso wie die Schalen das Wasser nicht alles aufnehmen kann. Ähnlich dem Ausspruch „Weniger ist mehr“ sollten sich die Menschen verstärkt auf das Wesentliche konzentrieren wie bspw. Freude und Gemeinschaft, um so der Falle vom Überfluss zu entgehen.