Kurzgeschichte: Sommerhaus, später (1998)
Autor/in: Judith HermannEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Analyse und Erörterung
Das Haus aus der Erzählung „Sommerhaus, später“, verfasst und veröffentlicht von Judith Hermann im Jahre 1998, spielt eine zentrale Rolle im Hinblick auf das Verständnis der Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Stein.
Zu Beginn kann herangezogen werden, dass allein die Tatsache, dass das Haus 50% des Titels ausmacht und dass die Euphorie, welche Stein expressiv zu Beginn aufgrund des Erwerbs des Hauses (vgl. Z. 1-8) nach langer Suche nach einem Solchen (vgl. Z. 9-15) kommunikativ der Ich-Erzählerin übermittelt, bereits die Signifikanz des Hauses für Stein für die Geschichte im Allgemeinen darstellt. Dass Stein die Ich-Erzählerin dann auch noch auf aufdringliche Weise und voller Faszination zu einer Hausbesichtigung einlädt (vgl. Z. 29-41), deutet auf eine bereits vollzogene emotionale Verknüpfung der Protagonistin mit dem Haus in Steins Gedanken hin.
Als kurzen Exkurs in den zeitgeschichtlichen Hintergrund, sollte am Rande erwähnt werden, dass Stein bei diesem bestimmten Haus nur aufgrund der zeitlichen Begebenheit die Möglichkeit hatte, dieses erwerben können. Denn nach der Wende wurde durch den der DDR enteignete Besitz zu „Volkseigentum“ an ehemalige Besitzer aus der BRD zurückgegeben.
Dementsprechend mussten Stein und die Ich-Erzählerin den Schlüssel bei der alten ostdeutschen Besitzerin abholen (vgl. Z. 226f.)
Das Haus steht stellvertretend für Steins Wunsch nach einer gemeinsamen, auf Langfristigkeit ausgerichteten, sesshaften Zukunft mit der Ich-Erzählerin, wofür es mehrere Anhaltspunkte gibt.
Zu Beginn kann zur Belegung der These angeführt werden, dass die beschriebene Größe des Hauses (vgl. Z. 273) bereits darauf hindeutet, dass Stein nicht allein in diesem wohnen möchte.
Würde er mit jemand anderem in diesem wohnen möchten, so würde er nicht dergestalt euphorisch und aufdringlich die Ich-Erzählerin in sein neu erworbenes Haus führen.
Besonderes ein gekauftes und nicht gemietetes Haus steht allgemein für eine Zukunftsinvestition, welche nicht oft vollzogen wird, bei der man lange und gemeinsam mindestens in Zweisamkeit wohnen möchte.
Des Weiteren versucht Stein durch Annäherung an die Ich-Erzählerin, als auch durch die Annäherung ihrer an das Haus, sie für seine Pläne zu gewinnen.
Er schafft es im ersten Moment die Ich-Erzählerin dazu zu bewegen, dass das Haus und die damit verbundene Vorstellung des gemeinsamen Wohnens positive Konnotationen1 bei ihr hervorruft, mit der Absicht seinem Ziel der gemeinsamen Zukunft näher zu kommen.
Denn als Stein ihr den Schlüsselbund zuwirft (vgl. Z. 232f.) tagträumt die Akteurin und kann empathisch Steins Euphorie nachempfinden und entwickelt in Folge dessen Vorfreude auf die Hausbesichtigung (vgl. Z.235-243).
Dennoch dringt bereits an dieser Stelle der innere Konflikt der Ich-Erzählerin hervor, welcher im Laufe der Erläuterung mit Bezug zum Haus und damit der Zukunft noch weiter exemplarisch belegt wird.
Denn die Ich-Erzählerin gibt sich diszipliniert, an ihren Prinzipien der „Freiheit und Unabhängigkeit“ festzuhalten, welche zweifellos im Widerspruch mit Steins Plänen einer geplanten festgelegten Zukunft stehen. Auf der einen Seite empfindet sie Vorfreude auf das Haus, welche mit einer ernstzunehmenden Erwägung Steins Plänen einhergeht.
Auf der anderen Seite beruft sie sich auf ihr verfestigtes Weltbild, welches die Zulassung dieser Gefühle gar nicht „gewollt hätte (Z. 240)“.
Zudem kann im Hinblick der emotionalen Annäherung der Ich-Erzählerin an das Haus hinzugezogen werden, dass, obwohl sie den ruinösen Zustand des Hauses beschreibt (vgl. Z. 275ff.), sie es dennoch als „schön (Z. 279)“erachtet.
Direkt im nächsten Satz beschreibt sie das Haus offenkundig als „Ruine (Z. 280)“, worin der innere Konflikt widergespiegelt wird, denn ihre Gefühle zu Stein, dessen Belegung nicht weiter ausgeführt wird, werden zum Einen auch durch das positive Behagen („schön“), bezogen auf das Haus, ausgedrückt, zum Anderen kann der Terminus Ruine einerseits für ihre alten abgelegten Prinzipien der Sesshaftigkeit, auch auf der Beziehungsebene und auch der Handlungs- und Planfähigkeit stehen, anderseits lässt es der Interpretationsspielraum auch zu, dass die Ruine für ihre bereits abgeschlossene, „alte“ und sesshafte Beziehung mit Stein steht.
In beiden Fällen steht die Ruine für etwas altertümliches und für etwas aus „langer vergangener Zeit (Z. 270f.)“, welches einen zum nächsten Aspekt führt.
Dieselbe Schlüssigkeit mit Zusätzen lässt sich auch in der Schiffsmetapher2 wiederfinden, welche die Ich-Erzählerin für das Haus benutzt.
Die Ich-Erzählerin nennt das „Schiff (Z. 270)“ ein „stolzes (Z. 272)“ aber auch ein angejahrtes Schiff (vgl. Z. 272). Wie bereits erläutert, ruft auch das Schiff positive Konnotationen bei ihr hervor, jedoch hält sie es und damit die Idee einer gemeinsamen Zukunft für nicht mehr zeitgemäß.
Diese Unzeitgemäßheit wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die Akteurin das große Schiff als „gestrandet (vgl. Z.272)“ betrachtet, woraus sich die logische Konsequenz ergibt, dass die Protagonistin es für so gut wie unmöglich hält, dass das Schiff wieder in See sticht, welches auf der Metaebene wiederrum bedeutet, dass sie eine erneute Beziehung, eine neue, eine auf der See stattfindende, lange „Reise“ mit Stein auf diesem Schiff und damit in dem Haus für ausgeschlossen hält, dennoch muss weiterhin der innere Konflikt im Hinterkopf betrachtet werden.
Denn sie erkennt einerseits die große Chance des „Schiffes“, die sich ihr damit bietet, andererseits zeigt allerdings ihre Voreingenommenheit, dass sie weder handlungs-bzw. entscheidungsfähig, noch planungsfähig ist und alles auf „später“ prokrastiniert.
Als Stein und die Ich-Erzählerin durch das Haus gehen, verfällt Stein in Selbstgespräche, in denen er fasziniert das Haus bewundert. Seine Faszination und Begeisterung (vgl. z. B. Z. 308ff.) kann dahingehend als seine Empfindung für die Ich-Erzählerin gedeutet werden, da er Vorfreude und gleichzeitig vermutlich Visionen für und von deren gemeinsamen Zukunft hat.
Die Entschlossenheit Steins die Ich-Erzählerin für seine Pläne zu gewinnen spiegelt sich zum einen in der Tatsache wieder, dass Stein 80.000 Mark investiert hat, welches extrem viel Geld für einen Freiberufler ohne Wohnsitz, wodurch seine Bonität bei der Bank auch nicht besonders hoch ist, sein dürfte, nur um der Ich-Erzählerin eine „Möglichkeit (Z. 384)“ einer gemeinsamen Zukunft aufzuzeigen. Welche Hürden er auf sich nehmen musste, um das Haus zu finanzieren, will man sich gar nicht erst ausmalen.
Zum Anderen versucht Stein der Ich-Erzählerin das Haus so attraktiv wie möglich zu gestalten, indem er die Clique und ihre Aktivitäten, welche ihr nahe steht, mit in das Hausleben zu integrieren (vgl. Z. 332-342). Aufgrund der herabwürdigen Sprache (z. B. Z. 333f.) offenbart Stein, wie er wirklich zu der Clique steht und dass er Zeit mit ihr verbrachte und auch wie an dieser Stelle zu erkennen, bereit ist weiter mit ihr zu verbringen, nur um in der Nähe der Ich-Erzählerin bleiben zu können.
Stein möchte der Ich-Erzählerin das Haus als eine „Möglichkeit“ präsentieren, um ihr die Freiheit, die sie gewohnt ist, zum Entscheiden zu überlassen. Dennoch wird durch die Selbstfokussierung Steins im Haus der Ich- Erzählerin der Eindruck vermittelt, als wolle er diese gemeinsame Zukunft selbst und allein bestimmen.
Durch diese Feststellung und durch das kommunikative Debakel der Figuren kommt es bei Stein nicht zur Offenbarung seiner Gefühle und zur weitergelebten pathologischen Prokrastination und nicht zur Klärung des inneren Konfliktes der Ich-Erzählerin.
Nach der Hausbesichtigung trennen sich erstmal weitestgehend die Wege der Akteure, dennoch bleiben sie noch spärlich über Postkarten in Kontakt (vgl. Z. 471).
Dass Stein der Ich-Erzählerin einen Brief zukommen lässt, dass das Haus vermutlich Opfer von Brandstiftung geworden ist, wobei er wahrscheinlich selber der Täter war, übermittelt der Ich- Erzählerin die Nachricht, dass er nicht emotional abhängig von ihr und in der Lage ist Entscheidungen und Weiterentwicklungen zu treffen und zu unternehmen und damit ein Leben ohne sie zu führen, welches er bereits im Haus angedeutet hatte.
Denn entweder „können [sie] diese Möglichkeit zusammen wahrnehmen oder so tun als hätten [sie] sich nie gekannt (Z. 387f.)“. Er verbrannte das Haus um seine angedachte, gescheiterte Utopie hinter sich zu lassen und um nun seiner Wege zu gehen.
Abschließend kann unter Berücksichtigung der Arbeitsergebnisse festgehalten werden, dass der These, dass Stein das Haus als eine Option der gemeinsamen langfristigen Zukunft sieht, zugestimmt werden kann. In der Ausarbeitung wird deutlich, wie Stein versucht die Ich-Erzählerin von seinen Plänen überzeugen und wie Steins überhobene Selbstfokussiertheit und der innere Konflikt der Protagonistin dafür sorgen, dass dieser Traum nach gemeinsamer Sesshaftigkeit scheitert.