Kurzgeschichte: Sommerhaus, später (1998)
Autor/in: Judith HermannEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In der Erzählung „Sommerhaus, später“ aus dem Jahr 1998, geschrieben von Judith Hermann, geht es um eine namenlose Ich-Erzählerin, die ein Haus mit ihrem damaligen Beziehungspartner, dem obdachlosen Taxifahrer Stein, besichtigt. Dabei werden Beziehungs- und Kommunikationsunfähigkeit sowie Gesellschaftskritik der desinteressierten jungen Erwachsenen der 90er-Jahre thematisiert.
Die Szene beginnt mit der Hausbesichtigung im Inneren des Hauses. Die Ich-Erzählerin hat dabei Bedenken, dass das Haus einstürzen könnte, während Stein sie dazu auffordert, hereinzukommen. Dabei kommt es zu Annäherungsversuchen zwischen beiden Figuren. Sie laufen gemeinsam durch die Räume, doch Steins aggressives Verhalten nimmt leicht zu. Er behauptet anschließend, der Hauskauf wäre aufgrund der Freundesgruppe, doch die Ich-Erzählerin besitzt den Wunsch, dass Stein mit seiner Konfrontation aufhört. Daraufhin folgt eine zweite Annäherung, wobei die Ich-Erzählerin diesen auch zurückweist. Danach ist sie sauer, weil ihre Clique sie mit Stein alleine gelassen hat. Stein entschuldigt sich und zeigt ihr die Veranda. Sie versucht, etwas zur Situation beizutragen, doch betrachtet stattdessen Steins Verhalten. Anschließend stellt die Ich-Erzählerin Stein eine Frage, um von Stein ein Geständnis zu erhalten. Er blockt ab, betitelt das Haus als eine von vielen Möglichkeiten, woraufhin ein Moment der Stille folgt. Währenddessen sieht sie einen Schatten durch die Häuser verschwinden, welchen sie als das Kind aus Angermünde erkennt. Doch Stein fordert sie auf, mit ihm zurückzufahren. Die Ich-Erzählerin fragt ihn, ob er das Kind auch gesehen hat, jedoch, statt auf die Frage zu antworten, bedankt er sich bei ihr.
Bevor es zu der Situation gekommen ist, ruft Stein die Ich-Erzählerin an, um ihr zu berichten, dass er das Haus gefunden hat. Während der Fahrt erinnert sie sich an die Freundschaft und Beziehung mit dem obdachlosen Taxifahrer. Stein ist nie ein Teil ihrer Freundesgruppe gewesen; ihre Clique befasst sich während der Freizeit mit Drogenkonsum und Sexualpraktiken. Stein wechselt nach seiner dreiwöchigen Beziehung mit der Ich-Erzählerin die Schlafplätze und verkehrt währenddessen mit den Mitgliedern der Gruppe. Im Laufe der Fahrt nach Angermünde spürt sie ein wenig Interesse, die Beziehung erneut aufleben zu lassen, da die erste Annäherung folgt. Hinter Angermünde treffen die beiden auf Frau Andersson und ihr Kind, um den Schlüsselbund für das Haus zu erhalten. Als die Ich-Erzählerin das Haus in Canitz sieht, empfindet sie es als eine totale Ruine.
Nach der zu analysierenden Szene fahren beiden zurück. Die Ich-Erzählerin sieht Stein in ihrer Freizeit nur selten. Zusammen mit der Clique unternehmen sie weiterhin Aktivitäten, doch Stein erzählt niemanden, dass er das Haus gekauft hat. Auf dem Eis des Griebnitzsees kommen sich die Ich-Erzählerin und Stein ein letztes Mal näher, während ein Mitglied der Gruppe im Eis eingestürzt ist. Anschließend verschwindet Stein. Zurück in der Wohnung der Ich-Erzählerin erhält sie mehrfach Postkarten von Stein über den Renovierungsstand des Hauses. Sie sendet ihm keine Antworten auf seine Postkarten, erwartet jedoch immer ein „Komm!“. Später erhält sie einen Brief mit einem Zeitungsartikel über den Brand von Steins Haus. Die Ich-Erzählerin legt den Brief in eine Schublade und denkt: „später.“
Steins eiskalte Hand und ihre Wahrnehmung, dass ihr kalt ist, sind Zeichen für eine mangelnde emotionale Bindung (vgl. Z.297 363). Der Begriff „kalt“ lässt sich auf eine Oberflächlichkeit beider Charaktere zurückführen, da sie bei Annäherungen womöglich eher aufgeregt wären und deren Körper vor Nervosität und Anspannung warm werden würde. Somit deutet es auf eine nicht emotionale Basis sowie fehlenden authentische Gespräche hin, die bei beiden nichts außer Kälte spüren lässt.
Doch mithilfe der Wiederholung, dass die Ich-Erzählerin nach Steins Hand greift, lässt sich zeigen, dass sie sich in seiner Nähe wohlfühlt (vgl. Z.101). Sie greift nach seiner Hand, um ihre Wahrnehmung zu stärken und um eine sichernde Komponente in der Situation zu erhalten. Dies ist ein Moment der Annäherung, die Stein das Gefühl geben soll, dass er von ihr gebraucht wird, um eine Orientierung zu finden, weil sie im Moment des Wahrnehmungsverlustes nach seiner Hilfe und Unterstützung sucht.
Da die Ich-Erzählerin die Songzeile laut ausspricht, die an einer Wand steht, offenbart sie den geheimen Wunsch nach Nähe und Intimität (vgl. Z.321ff.). Das Lied aus der DDR handelt von sexuellen Handlungen, welches eine gewisse Intimität, Nähe und Geborgenheit mit sich bringt, die die Ich-Erzählerin Stein unterbewusst weitergeben möchte. Aufgrund ihrer fehlenden Wiederholung und Erläuterung nach Steins Verständnisfrage zeigt sich ebenfalls der extreme innere Konflikt und die Unsicherheit. Die Ich-Erzählerin zeigt dies dadurch, dass sie innerhalb von Sekunden ihren Schritt bereut und die Songzeile nicht wiederholt. Mit dieser Konversation deutet sie auf eine extreme Kommunikationsschwäche hin, die ihr nicht erlaubt, Gefühle und Wünsche auszudrücken. Dementsprechend flüchten beide aus der Situation und vergessen einen wichtigen Schritt in die Richtung zu einer auffrischenden Beziehung, da mit einer Erläuterung der Liedzeile der Wunsch von Nähe und Geborgenheit ausgedrückt werden könnte. Dadurch wäre ein tiefgründiges Gespräch zwischen ihr und Stein möglich.
Steins verbaler Gewaltausbruch zeigt aufgrund häufigem Vulgarismus seine wahre Meinung zum Freundeskreis der Clique (vgl. Z.330-340). Während er versucht, die Ich-Erzählerin für den Einzug in das Haus zu gewinnen, sie jedoch keine Euphorie zeigt, greift er auf die Gruppe zurück, um die Ich-Erzählerin mit diesem Aspekt zu überzeugen. Er spielt drauf an, dass sie keine eigene Meinung besitzt und nur mit ihren Freunden die gewohnte Komfortzone verlässt. Die wahre Meinung deutet jedoch auch darauf hin, dass Stein alles für die Ich-Erzählerin gemacht hat und nur denkt, dass die Mitglieder der Clique Belastung für die Beziehung zwischen den beiden sind. Statt mit ihm zu diskutieren, möchte sie Steins Aggressivität drosseln und gibt ihm unterbewusst mit, dass sie dieselbe Meinung besitzt, da sie ansonsten im Konflikt mit ihm geraten wäre. Dies spiegelt ebenfalls den inneren Konflikt der Ich-Erzählerin: sie ist sich der Situation mit der Freundesgruppe bewusst, gibt Stein jedoch keine Chance, sich ihn als sichernde Komponente an ihrer Seite zu stellen.
Die Wiederholung der Wörter „in Ordnung“ (Z.347f.), zeigt Steins große Unsicherheit und fehlende Stärke, um zu seiner Tat zu stehen, denn er distanziert sich schnell und kühlt die Situation ab, bis sie einen Moment der Unverständnis erlebt. Sie fühlt eine Fremdheit in den Taten Steins, obwohl sie ihn zurückgewiesen hat (vgl. Z. 349ff.). Ihre gespielte Objektivität trägt zur fehlenden emotionalen Bindung bei, die bei beiden herrscht.
Der Parallelismus unterstützt dabei die Widersprüchlichkeit der Ich-Erzählerin (vgl. Z. 353ff.). Sie zählt ihre Freunde auf, die sie im Stich gelassen haben, obwohl die Ich-Erzählerin die volle Verantwortung trägt, ob sie mitfährt oder nicht. Auch der Wunsch nach Schutz vor Stein ist ein Widerspruch: sie wünscht sich Nähe, doch möchte auch vor ihm beschützt werden. Es deutet auf eine extreme Verdrängung der eigenen Gefühle hin.
Die Ich-Erzählerin möchte den Efeu herunterreißen, der ein Symbol für Zuverlässigkeit, Treue und Unsterblichkeit ist (vgl. Z. 368ff.). Damit signalisiert sie, dass sie für die Zerstörung von festgewachsener Liebe ist, da Efeu beim Wachsen sehr hartnäckig ist. Wieder folgt ein widersprüchliches Faktum, der den inneren Konflikt deutlich macht: sie wünscht sich Liebe, aber auch Zerstörung von Treue und Ewigkeit.
Auch die rhetorische Frage der der Ich-Erzählerin deutet auf einen Versuch der Kommunikation hin (vgl. Z.380f.). Sie versucht, aus Stein ein Geständnis zu locken, um seine Ansicht als Anreiz zu einem Gespräch zu verwenden, da sie eine Kommunikationsschwäche besitzt, die ihr nicht erlaubt, über ihre Emotionen und Wünsche zu sprechen.
Das verwendete Symbol des Schnees steht für das emotionale Vakuum, welches bei beiden Figuren vorhanden ist (vgl. Z. 382). Die extreme Kälte und die mangelnde Fähigkeit, einer lebensgefährlichen Situation wie dem Schnee zu entkommen, löst ein emotionales Vakuum bei beiden Figuren aus. Die Gedanken werden ihnen genommen, weshalb in diesem Moment keine Interaktion möglich ist.
Der durchgehende Kontrast zwischen Denken, Wollen und Handeln ist so präsent, dass es unausweichlich ist, die Situation zu ändern. Die Gedanken werden nicht den Wünschen angepasst und nicht ausgesprochen, weshalb sich die Kommunikation zwischen beiden Figuren wie kryptische Rätsel für den jeweiligen Partner anfühlen. Die dazu gewählte distanzierte Erzählhaltung der Ich-Erzählerin deutet auf eine Scheinobjektivität und unterkühlte Beziehung hin (vgl. Z. 303ff., Z. 349f., Z. 393). Aufgrund der distanzierten Haltung durchgehend vertreten wird, obwohl die erste Person Singular und eine personale Sicht vorliegt. Dies wird als Kontrast genutzt, um den inneren Wunsch der tatsächlichen Zuneigung darzustellen, doch nach außen hin lassen sich emotionale Kälte und mangelnde Interesse erkennen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Interaktion zwischen der Ich-Erzählerin und Stein sehr kompliziert ist: zeitweilige Annäherungen führen zu stillen Momenten der Verunsicherung. Die Ich-Erzählerin ist sehr widersprüchlich bezüglich ihrer Gedanken und Handlungen. Zudem geht sie nicht auf ihren Gesprächspartner ein, wodurch keine anständige Konversation möglich ist. Sie wünscht sich innerhalb Sekunden Nähe und Geborgenheit, doch im nächsten Moment Schutz vor Stein. Sie ist verunsichert, was eine Identitätskrise voraussetzt, die ihr keine Konversationen erlaubt. Dasselbe gilt für Stein: er hat den Wunsch nach Nähe und Liebe, doch fokussiert sich auf das Haus statt eine Konversation zu führen, die den inneren Konflikt der Ich-Erzählerin lösen könnte.
Die Bedeutung des Kindes in der Erzählung
Ein Kind ist ein Symbol für traditionelles Leben in einem Familienbund und Verpflichtungen im Sinne der Familie. Dies ist der Wunsch Steins. Die Ich-Erzählerin sieht dies jedoch gegenteilig und bewertet das Kind als „ekelig“ (Z. 231) und „blöd“ (Z. 402).
Es fungiert somit als Erinnerung an das zukünftige Leben, welches Stein anstrebt. Aufgrund der Erzählhaltung und die Benutzung der Adjektive wie „blöd“, lässt darauf schließen, dass der Wunsch nach Sesshaftigkeit und Familienleben bei ihr nicht vorhanden ist. Die distanzierte Haltung nimmt sie somit nicht nur zum Kind ein, sondern auch zur Lebenskonstellation mit einem festen Partner und Kind. Das Kind gibt jedoch auch das von Stein gewünschte Verhalten der Ich-Erzählerin wieder: während sich ein Kind fest an die eigene Mutter festhält, sucht es Liebe, Schutz und Geborgenheit. Sobald es sich von seiner gewohnten Komfortzone entfernt, ist die Mutter eine Art ständiger Begleiter und ein Symbol des Zurückkehrens zu dem Ort der Geborgenheit. Dieses Verhalten wünscht sich Stein von der Ich-Erzählerin: sie soll die Person sein, die nach Liebe, Schutz und Nähe strebt und nach jedem Tiefpunkt des Lebens zum Ort der Geborgenheit zurückkehrt. Steins fehlende Reaktion über die Rückkehr des Kindes führt dazu, dass er dies toleriert und erfreut ist, dass das Kind auch nach dem Auszug aus dem Haus an dem ihm bekannten Ort zurückkehrt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kind den Wunsch nach einem Familienleben und Sesshaftigkeit von Stein repräsentiert. Dazu zeigt die Haltung der Ich-Erzählerin bezüglich des Kindes, dass sie nicht bereit ist, ihre Komfortzone zu verlassen und sich zu binden. Das Verhalten des Kindes ist das von Stein gewünschte Verhalten bei der Ich-Erzählerin. Die Ich-Erzählerin soll nach Nähe und Geborgenheit streben und immer an dem Ort der Glückseligkeit zurückkehren, um das Glück der beiden zu vervollständigen.