Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Sprich aus der Ferne“, das um 1801 von Clemens Brentano veröffentlicht wurde, stellt den Zeitraum der Nacht als Verschmelzung des Irdischen mit dem Überirdischen dar, die es dem Menschen ermöglicht, sich für einen bestimmten Zeitraum in Einklang mit der Natur zu fühlen.
Das Gedicht ist durch eine Konditionalstruktur geprägt. Während in einer Strophe die Bedingungen aufgezeigt werden, die erfüllt sein müssen, um eine harmonische Einheit von Mensch und Natur zu erzeugen, wird in der darauffolgenden Strophe das entstehende Resultat erläutert. Alle neun Strophen sind in vier Versen unterschiedlicher Länge verfasst, sodass sich lange und kurze Strophen abwechseln. Die als Konditionalsatz aufgebauten Strophen, die stets mit „wenn“ (z. B. V. 5) eingeleitet werden, sind deutlich länger als die jeweils darauffolgende Strophe. Diese gleichmäßige Anordnung der Strophen erzeugt einen regelmäßigen Rhythmus, der den Wechsel von Tag zu Nacht, der in diesem Gedicht von großer Bedeutung ist, hervorhebt. Diese regelmäßige Struktur wird zusätzlich durch die Verwendung des Kreuzreimes verstärkt, der sich bis auf eine Ausnahme (Vgl. V. 24) im gesamten Gedicht gleichmäßig wiederfindet. Durch die Verwendung dieser formalen Gestaltungsmittel wird nicht nur ein regelmäßiger Rhythmus erzeugt, sondern auch die inhaltlich vorherrschende harmonische Atmosphäre verdeutlicht. Die letzte Strophe stellt eine Repetition der ersten dar, wodurch der äußeren Form und vor allem dem inhaltlichen Geschehen ein Rahmen verliehen wird.
Das für die Epoche der Romantik typische Nachtmotiv spielt in Brentanos Gedicht eine wesentliche Rolle. Das lyrische Ich beschreibt eine „himmlische Welt“ (V. 2), die im Verborgenen liegt und nur in regelmäßigen Abständen, nämlich bei Einbruch der Nacht, zum Vorschein kommt. Außerhalb des nächtlichen Zeitraums liegt diese verborgene Welt in weiter „Ferne“ (V. 1) und scheint kaum greifbar zu sein. Erst bei Einbruch der Nacht, wenn sich Dunkelheit über die Erde legt, offenbart sich diese zweite Welt. Die zur Illustration der absoluten Dunkelheit personifizierte Farbe weicht dem Schatten der Nacht, der nur durch Sternschnuppen am Himmel erhellt wird. Die Synästhesie der „still leuchtende[n]“ (V. 7) Funken, die zur genaueren Beschreibung der Sternschnuppen verwendet wird, verdeutlicht die vorherrschende Stimmung. Bei absoluter Stille zieht der funkelnde Nachthimmel jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Die personifizierte Nacht, die „Kränze“ (V. 7) aus Sternschnuppen „flicht“ (V. 8), erscheint dem Leser nahezu lebendig. Der „Heilige® Sinn“ (V. 10) der Sterne „wehet“ (V. 9) bis zum lyrischen Ich. Die verwendete Windmetaphorik vermittelt den Eindruck, das lyrische Ich könne das Sternenlicht wahrhaftig fühlen. Das Adjektiv heilig ist eine erste Anspielung auf die Religion. Viele Gläubige vertreten die Ansicht, dass Verstorbene nach dem Tod als Stern am Himmel erscheinen. Das lyrische Ich fühlt sich möglicherweise einer verstorbenen Person nahe. Diese Verbindung ist demnach nur während des dem lyrischen Ich magisch erscheinenden Zeitraums der Nacht möglich. In der vierten Strophe wird nun nicht nur die Nacht, sondern insbesondere der Mond personifiziert. Wenn das tröstliche Mondlicht die Nacht erhellt und dadurch die bedrohlich wirkende Dunkelheit lindert, dann ist „Friede[n]“ (V. 15) möglich. Der lebendig erscheinende Mond sowie die Nacht ermöglichen eine harmonische Einheit der Natur. Die Windmetaphorik kommt in Bezug auf den Frieden erneut zum Vorschein (Vgl. V. 15). Es scheint, als seien dem Frieden bei Nacht keine Grenzen gesetzt. Am Himmel, der durch die religiös angehauchte Metapher „himmlischer See“ (V. 16) beschreiben wird, erscheinen Verstorbene, die als „Geister in goldenen Kähnen“ (V. 15f) dargestellt werden. Dieses Sinnbild verdeutlicht erneut die christliche Auffassung, dass verstorbene Personen von der Erde in den Himmel gelangen, um dort im Jenseits weiterzuleben. Dieser Kreislauf zwischen Himmel und Erde wird auch in Strophe fünf hervorgehoben. Auch Musik kann als Verbindung zwischen Himmel und Erde fungieren. Die Synästhesie im Begriff der „glänzenden Lieder“ (V. 17), die sich zu Erde hinunter „ringeln“ (V. 19) und zum Himmel zurück „wallen“ (V. 20), verstärkt den magischen Eindruck des nächtlichen Geschehens. In der sechsten Strophe wird jegliche Bedrohung, die von der Nacht ausgehen könnte, entkräftet. Um Mitternacht, welche oftmals als Geisterstunde bezeichnet wird, sind die Pflanzen über das „heilige Grauen“ (V. 21) verwundert. Dieses Oxymoron2 sowie die Personifikationen3 sollen aufzeigen, dass Ängste, die oftmals in Bezug auf die Nacht oder die Dunkelheit auftreten, unbegründet sind. Das „bang[e]“ (V. 22) schleichende „Grauen“ (V. 21) entpuppt sich letztendlich als „freundliches Spiel“ (V. 26), vor dem sich niemand zu fürchten braucht, obwohl es zeitweise „finster“ (V. 24) erscheinen kann. Die Lichtmetaphorik kommt hier erneut zur Geltung, wenn „Lichter funkeln“ (V. 27) und die absolute Einheit als „schimmerndes Ziel“ (V. 28) aufgezeigt wird. Die vorletzte Strophe fungiert als Zusammenfassung dessen, was erzeugt wird, wenn alle im Laufe des Gedichts genannten Bedingungen erfüllt sind. „Alles“ (V. 29), also Natur und Mensch, Himmel und Erde sind „freundlich wohlwollend verbunden“ (V. 29). Es existiert eine harmonische Einheit. Jedoch „trauert“ (V. 30) die Natur, da diese Einheit nicht alltäglich oder dauerhaft ist und nicht von jedem Menschen erkannt und gefühlt wird. Es gilt zu erkennen, dass „alles […] ewig im Innern“ (V. 32) miteinander verbunden ist. Diese Verbundenheit kann zwar vergessen, jedoch niemals getrennt werden.
Brentano verwendet in seinem Gedicht typische romantische Motive, wie zum Beispiel das Motiv der Nacht als magischer Zeitraum und die Sehnsucht nach einer neuen Einheit mit der Natur. Außerdem bezieht er sich auch auf den christlichen Glauben, der vielen Romantikern bewundernswert erschien. Sprachlich schmückt er diese Motive durch zahlreiche Personifikationen, Synästhesien4, Inversionen5 (z. B. V. 9f) und Metaphern6 aus. Auf mich persönlich wirkt die Natur in diesem Gedicht durch Brentanos Darstellung äußerst lebendig. Dem Leser wird durchaus das Gefühl vermittelt, als wären Bestandteile der Natur, wie zum Beispiel der Mond oder eine Pflanze, fühlende Individuen. Desweiteren gelingt es dem Autor, eine magische Atmosphäre zu erzeugen und die Fantasie des Lesers anzuregen.
Brentanos Gedicht weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff auf. In diesem wird ebenfalls die Nacht als magischer Zeitraum dargestellt. Außerdem wird ebenfalls die sinnliche Wahrnehmung des lyrischen Ichs thematisiert, die von Freiheits- und Glücksgefühlen geprägt ist. Desweiteren stellt Eichendorff ebenfalls den Übergang von Tag und Nacht als Verschmelzung des Irdischen mit dem Überirdischen dar.
Beide Schriftsteller sind typische Vertreter der Epoche der Romantik. Sie sehnen sich danach, dass der Vernunfts- und wissenschaftsgläubige Mensch seinen verloren gegangenen Bezug zur Natur wiederherstellt. Außerdem erscheint für sie eine Verbindung von Kunst und Wissenschaft sowie von Gefühl und Verstand erstrebenswert.