Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Auf einmal war es schon das Leben!“ - Diese Angst kennt jeder. Angst davor, dass die Zeit nicht reicht, genug vom Leben erfahren zu haben, irgendwann das Gefühl zu haben, dass man das Leben mehr hätte genießen sollen.
„Mondnacht“, verfasst von Eva Strittmatter, ist ein Gedicht der Gedanken- oder Ideenlyrik, welches sich mit einer Situation beschäftigt, in der das Leben als aussichtslos erscheint. Es macht die Nostalgie spürbar, die einem widerfährt, wenn man davon ausgeht, dass der Alltag einen voll und ganz eingenommen hat und man nicht mehr in der Lage ist, selbst auf sein Leben mit den Idealen, die man hat einzuwirken.
Die erste Strophe beginnt mit den Worten „steuerlos“ und „ruderlos“ (V. 1), womit ein Schiff bezeichnet wird. Daraus schließt sich, dass die Richtung des Schiffes nicht mehr zu bestimmen ist, es weder gesteuert noch bewegt werden kann. Daher ist das Schiff „unbesegelt“ (V. 2) wie im zweiten Vers beschrieben wird. Es handelt sich also um eine unkontrollierte Situation, in der das lyrische Ich keine Kontrolle mehr über das Schiff hat und dieser ausgesetzt ist. Es wird davon gesprochen, dass das lyrische Ich, welches feminin ist (vgl. V. 5) unter großstehendem Mond schiffbrüchig ist. Es ist nicht im Stande, das Riff zu erklimmen (vgl. V. 4ff.), wodurch es in eine hilflose Situation gerät. Das lyrische Ich ist auf sich allein gestellt. Es hört zwar Menschen, jedoch kann es keinen Kontakt zu diesen aufnehmen (vgl. V. 7f.). Daraufhin gibt es auf und findet sich damit ab, gelassen auf das Ertrinken zu warten (vgl. V. 9). Jedoch hält sich das Schiff auf dem Grund (vgl. V. 9ff.), wodurch die Situation des lyrischen Ich unverändert bleibt. In der dritten Strophe wird deutlich, wie sich die Zeit des Wartens „im Mondlicht ohne Schatten“ (V. 13) auf eine Veränderung, für das lyrische Ich zieht (vgl. V. 12). Dadurch gerät es ins Schwelgen über das Leben und deren Vergänglichkeit. Es wird Sehnsucht nach Momenten spürbar, die das lyrische Ich mit jemandem verbringen möchte („An Meere, die wir vor uns hatten“, V. 15) und realisiert, dass die Zeit, „der Ozean an Jahren“ (V. 18), bereits davongelaufen ist. Die letzte Strophe stellt wiederum einen Kontrast zu der scheinbar unendlichen Zeit, wie sie in der dritten Strophe beschrieben wird, dar. Das lyrische Ich kommt zur Erkenntnis, wie schnell das Leben vergeht (vgl. V. 19). Das Gedicht besteht aus 4 Strophen und 19 Versen, welche ein wechselndes Reimschema aufweisen. Es beginnt mit einem umarmenden Reim, der die ersten vier Verse umfasst. Danach wird das Reimschema unterbrochen, wodurch der in diesem Vers genannte Aspekt, dass das lyrische Ich schiffbrüchig ist, verschärft dargestellt wird. Anschließend setzt sich das Gedicht mit einem Paarreim fort. Da es sich in der zweiten Strophe um einen umarmenden Reim handelt, der den letzten Vers der ersten Strophe einschließt, entsteht ein fließender Übergang zwischen den beiden ersten Strophen. Die dritte Strophe ist im Kreuzreim verfasst und bezieht den alleinstehenden Vers der letzten Strophe mit ein. Da dieser alleine die vierte Strophe bildet, steht seine Aussage für sich und wird dadurch stark betont („Auf einmal war es schon das Leben“, V. 19). Die unterschiedlich auftauchenden Reimschemata, verleihen dem Gedicht Abwechslung und geben den einzelnen Strophen einen eigenen Charakter. Zusätzlich besitzt das Gedicht einen freien Rhythmus, der sich durch alle vier Strophen zieht. Die durch den alternativen Rhythmus entstehende Dynamik, aber auch Brüchigkeit, macht die Lage des lyrischen Ichs („schiffbrüchig“ V. 5) und die des Schiffes („steuerlos und ruderlos“ V. 1) spürbar und wirkt sehr ergreifend. So kann das „Schiff“ (V. 2), womit das Gedicht beginnt, als eine Art Symbol für das Leben des lyrischen Ichs stehen. „Steuerlos und ruderlos und unbesegelt ist das Schiff“ (V. 1f.), könnte ein Leben ohne Perspektiven beschreiben, ohne Aussicht, einen Blick ins Leere, der jede kleinste Hoffnung ausschlägt. Es scheint nichts zu geben, woran man sich festhalten kann und wofür es sich zu leben lohnt. Mit der Inversion1 „Auf Grund gelaufen, hält es sich“ (V. 11) wird der Aspekt, dass das Schiff festgefahren ist, betont. Das lyrische Ich befindet sich in einem Zustand, der unverändert ist, es befindet sich wie auf einem Riff (vgl. V. 3), bewegt sich zwar weiter, aber ohne, dass es das spürt. Der Neologismus2 „verwarten“ zeigt, dass sich das lyrische ich ebenfalls in einem Zustand des Wartens oder Verbleibens befindet, welcher diese beiden Verben zu einer Wortneuschöpfung verbindet („So verwart ich […]“ V. 12). Es verbringt die Nacht mit warten. Warten auf eine ursprüngliche Lebenslust, darauf einen Plan umzusetzten, aber anstatt diesem nachzugehen, vertut es sich die Zeit nur mit dem warten darauf. Es ist anzunehmen, dass das lyrische Ich seine Träume bisher noch nicht erfüllen konnte und ein Leben gelebt hat, das nicht seinem Gefallen entspricht. Es könnte einem Druck ausgesetzt sein und sich vom alltäglichen Leben eingeschränkt fühlen. So hat es zwar schon gelebt und gelebt, aber dies nicht bewusst getan und das Leben nur an sich vorbeiziehen lassen. Mit der Zeit wurde ihm möglicherweise klar, wie lange es schon lebt, aber dass das Leben nicht so verläuft, wie es sich vielleicht früher erhofft hat. Dieses Gefühl könnte auch durch ein Vorfall, welches das wünschenswerte Leben beeinflusst hat, entstanden sein, sodass es nie dazu kam, seinen Lebensplan umzusetzen. Das könnte der Tod oder die Trennung von einem wichtigen Menschen sein. Offenbar hat das lyrische Ich sein bisheriges Leben darauf gewartet, aus diesem eintönigen Leben herauszukommen, das ideale Leben zu spüren und an den Höhepunkt seines Lebens zu gelangen. „Der Horizont schien sich zu heben“ (V. 17) auch mit dieser Metapher3 deutet das lyrische Ich an, dass es sich einen Weg zu einem erfüllten, beziehungsweise gefühlt endlosem, Leben erhofft. Anscheinend strampelt es nach dem bestmöglichen Leben und besitzt immer noch das Bedürfnis, das Leben besser nutzen zu wollen. Dennoch ist es eingenommen von Verzweiflung, Enttäuschung und Hilflosigkeit. Es holt sich nicht aktiv Hilfe, um das Riff erklimmen zu können (vgl. V. 6f.), weil es vielleicht schon aufgeben hat. Trotzdem ist es durchzogen von Verzweiflung, Enttäuschung oder auch Empörung, welche mit der Alliteration4, dass es keiner„ruft und rettet“ (V. 8), spürbar wird. So kann man annehmen, dass sich das lyrische Ich in einer psychischen Labilität befindet und dadurch nicht klar und zielstrebig denken und handeln kann. Diese innerliche Zerrissenheit wird auch im Aufbau des Gedichtes verarbeitet.
Am Anfang entfaltet sich eine Spannung, die allerdings anschließend plötzlich abfällt. So kommt im Vers 1, 2 und 3 eine Anapher5 mit der Konjunktion „Und“ vor. „Und unbesegelt ist das Schiff/ Und ist gelaufen auf ein Riff/ Und leckgeschlagen“ (V. 1ff.) sind alles Aspekte, die aufgelistet werden, und das lyrische Ich letztendlich in die Situation bringen, dass es schiffbrüchig ist. An dieser Stelle wird eine Parenthese durch den Vers 4 in das Gedicht eingeschoben („Der Mond steht groß über mir, die schiffbrüchig ist“, V. 4). Das Symbol des „Mondes“ kann ein Hoffnungsträger für das lyrische Ich symbolisieren. Er bringt Licht ins Dunkle und verschönert die Situation. Der sechste Vers setzt wieder mit „Und“ fort und damit, dass das lyrische Ich nicht im Stande ist das Riff zu erklimmen (vgl. V. 6). So wird der Beginn des sechsten Verses von der Anapher miteingeschlossen, da diese durch die Parenthese unterbrochen wurde. Die durch das Licht des Mondes entstehende Hoffnung zerfällt, da das lyrische Ich es nicht schafft das Riff zu erklimmen. Jedoch wird wieder neue Hoffnung aufgebaut, durch Menschen, die das lyrische Ich wahrnimmt („Irgendwo gibt es Menschenstimmen“, V. 7), doch auch diese fällt wieder ab mit den Worten „Doch keiner ruft und rettet mich.“ (V. 8). So scheinen Menschen, um das lyrische Ich zu sein, die es aber nicht beachten. Auch in der zweiten Strophe wendet sich die Richtung schlagartig („Ich warte gelassen auf das Ertrinken/ Aber das Schiff kann gar nicht sinken.“, V. 9f.) und mit der Konjunktion „aber“ wird der ersten Aussage widersprochen. In der dritten Strophe spricht das lyrische Ich von dem Gefühl eines endlosem Leben. Dabei wird mit der Übertreibung, der „langen“ mondhellen Nacht (vgl. V. 12), die das Leben als langwierig darstellt, widerlegt, dass das Leben schnell vorbeigeht („Auf einmal war es schon das Leben“ V. 19). Das lyrische Ich spricht außerdem von „Meeren“, die es vor sich hatte (vgl. V. 15) und symbolisiert hier einige Erlebnisse. Mit der Wiederholung „Und endlos, endlos zu befahren“ (V. 16) wird die Annahme von einem nie endenden Leben bestärkt. „Dieser Ozean an Jahren“ (V. 18) steht ebenfalls als Metapher für ein sehr langes Leben, welches durch das „all“ („All dieser Ozean […] V. 18) zu einer Übertreibung der Größe des Ozeans führt. Die Begriffe „Ozean“, „Meer“ und „Schiff“ haben einen Einfluss auf die Stimmung des Gedichtes. Diese Wörter assoziieren Wasser, welches einerseits eine ruhige und melancholische Stimmung auslöst, aber auch wild, dynamisch und zerreißend sein kann. Ein Schiff welches von Wellen auf und ab getragen wird, symbolisiert die Hoffnung aber anschließend wieder Enttäuschung, die das lyrische Ich durchlebt. Dies spiegelt sich auch in dem nicht statischen Rhythmus des Gedichtes wieder, welcher durch seine Dynamik einen gewöhnlichen Rhythmus hinterfragt, wie es das lyrische Ich mit seinem Leben tut.
Durch den Schlussvers erhält das Gedicht eine Besonderheit. Die Aussage „Auf einmal war es schon das Leben“ (V. 19) übermittelt eine Lehre an den Leser. Dies ist eher unüblich und normalerweise am Ende einer Fabel bekannt, wurde hier allerdings auch genutzt. So wird der Leser zum Nachdenken angeregt und dazu sein eigenes Leben zu reflektieren. Das Gedicht, trägt zwar den Titel „Mondnacht“, dennoch handelt es sich nicht um ein Gedicht der Romantik, da eine ganz andere Thematik beleuchtet wird und es auch erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden ist. Die Autorin Eva Strittmatter (1930-2011) verlor in den Jahren 1993 und 1994 innerhalb von neun Monaten ihre Mutter, ihren Mann sowie ihren Sohn, wodurch die in dem Gedicht vorkommenden Gedanken und Gefühle möglicherweise beeinflusst wurden. Auch eine schwere Erkrankung, unter der sie gegen Ende ihres Lebens litt und sie sicherlich beschäftigte, könnte ein Anlass für dieses Gedicht gewesen sein.
Wenn man einmal anfängt sein eigenes Leben zu hinterfragen und zu reflektieren, kann dies zu einer sehr schweren Last werden. Man realisiert, dass etwas vielleicht nicht so verlaufen ist, wie erwünscht. Ein bestimmter Lebensabschnitt ist schon vergangen und man besitzt das Gefühl etwas verpasst zu haben. Zwar das Leben gelebt zu haben, aber es trotzdem irgendwie an sich vorbeiziehen lassen. Mit solchen Gedanken kann man in große Verzweiflung geraten. Ich finde es wichtig sein eigenes Leben so zu akzeptieren, wie es bisher verlaufen ist. Zu schätzen, was es einem geschenkt hat, auch wenn man vielleicht trotzdem noch von Sehnsucht nach mehr Erfüllung eingenommen ist. Im Endeffekt steht man sich nur selbst mit zu hohen Ansprüchen im Wege und sollte aufpassen, dass man sich nicht zu sehr an diesen festhält. Wie man das Leben richtig nutzt und am besten genießt, kann man erst zum Ende des Lebens wirklich wissen, aber man lebt nur einmal. So ist es nicht leicht einen Ausweg aus der Mondnacht, in der man vielleicht ab und zu gefangen ist, zu finden und wieder den Tag zu erkennen, der uns so viel Zeit schenkt, die wir voll und ganz nutzen und gestalten können, wie wir es möchten.