Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Analyse und Erörterung
Die Bedeutung des Stein- und Würfelmotivs für das Verständnis das Protagonisten Antons in Mulischs „Das Attentat“.
Leitmotive sind sinnstiftende Verzahnungen, die auf übergeordneter Ebene die Entwicklung des Protagonisten veranschaulichen. Auch Mulisch verwendet unter anderem das Stein- und Würfelmotiv in „Das Attentat“ (1982), um dem Leser eine Interpretationshilfe für Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess zu liefern, wodurch Mulisch die Bedeutung der bewussten Auseinandersetzung mit Traumata aufzeigt. Harry Mulischs „Das Attentat“ (1982) handelt von Anton, der am Anfang des Romans seine Familie und sein Zuhause verliert und dieses traumatische Erlebnis im Laufe des Romans verarbeitet. Anhand von Antons Verarbeitungsprozess der Vergangenheit, der erst nach Jahrzehnten der Verdrängung einsetzt, thematisiert Mulisch die Auswirkungen des kindlichen Traumas auf das weitere Leben eines Menschen. Mulisch warnt vermutlich vor der Verdrängung, da sie die glückliche Ich-Werdung verhindert. Anhand des Leitmotivs des Steins und des Würfels veranschaulicht Mulisch dem Leser Antons Umgang mit dem Schmerz und der Zufälligkeit des Traumas und den Stand seines Verdrängungs- und Verarbeitungsprozesses. Ziel dieser Arbeit ist es anhand exemplarischer Analysen aufzuzeigen, wie das Stein- und Würfelmotiv in dem Roman verwendet werden, um das Leserverständnis für den Protagonisten und seine Entwicklung zu intensivieren.
In der Exposition vor dem Attentat verwendet Mulisch das Würfelmotiv, um die Zufälligkeit des Attentats und dessen Folgen (1945) zu versinnbildlichen. Als die Familie kurz vor dem Attentat „Mensch ärgere dich nicht“ spielt ist Anton symbolisch mit Würfeln dran. Anton will „gerade würfeln“ (S.21) als die ruhige Familienidylle von „einen sechsfachen scharfen Knall“ (S.21), die Schüsse auf den Nationalsozialisten Ploeg, gestört wird. Mulisch verbindet den Würfel, als Symbol des Zufalls, mit dem Attentat, um die Zufälligkeit des Attentats zu veranschaulichen. So wie der Würfel als Symbol des Zufalls sechs Seiten hat, so gibt es auch beim Attentat einen „sechsfachen“ (S.21) Knall. Durch das widerholte Aufbringen von Zufallssymbolen etabliert Mulisch das Attentat als ein Ereignis, dass Anton Zufällig trifft. Mulisch weist auf die Zufälligkeit von Antons Schicksal hin, um seine Intention, die Warnung vor der Verdrängung eines Schicksalsschlages, zu verdeutlichen, da sie keine Verarbeitung der eigenen Vergangenheit zulässt und somit die glückliche Ich-Werdung verhindert. Dadurch, dass Antons Schicksal ein Zufall ist, vermittelt Mulisch, dass solch ein traumatisches Erlebnis jeden treffen könnte. Dies verbessert das Leserverständnis von Anton, da das Würfelmotiv dem Leser vor Augen führt, dass Anton keinerlei Schuld oder Einfluss an dem Attentat hatte und das Attentat somit ein großer Schock für ihn ist. Der Schock, den Mulisch dem Leser hier veranschaulicht, erleichtert es dem Leser die Verdrängung Antons zu verstehen.
In der Exposition (1945) vor dem Attentat führt Mulisch den Leser in das Steinmotiv ein, um vorauszudeuten, dass Anton sich mit seinen Erinnerungen konfrontieren muss, um zur glücklichen Ich-Werdung zu gelangen. Der Vater unterrichtet seine Söhne kurz vor dem Attentat, dass das „Symbolon“ (S.20) ein Stein war, „der in zwei Stücke zerschlagen wurde“ (S.20) und dass nur ein „Zueinanderkommen“ (S.20) der Fragmente erst ein stimmiges „Bild“ (S.20) ergeben kann. Mulisch verwendet das Leitmotiv des Steins in Form des „Symbolons“ (S.20), was für die Vergangenheit steht, um eine Voraussetzung zu versinnbildlichen, die dem Leser offenbart, dass Anton sich nach dem Trauma mit Fragmenten seiner Vergangenheit befassen muss, um sie schließlich zu verstehen und zu verarbeiten. So wie ein Symbolon ein geteilter Stein ist, der zusammengefügt werden muss, um wieder ein Ganzes zu sein, so wird auch Anton die harten, kalten und beständigen Erinnerungen zusammenfügen müssen, um zur glücklichen Ich-Werdung zu gelangen. Anton sagt selbst, dass er das „selbst mal machen“ (S.20) wird, wodurch Mulisch anhand des Steinmotivs antizipiert, dass Anton verarbeiten wird.
Des Weiteren verwendet Mulisch den niederländischen Nachnamen „Steenwijk“ (S.1), eine Variation des Steinmotivs, für Anton, um Antons schwierigen Weg der Verarbeitung zu antizipieren. „Steenwijk“ (S.1) bedeutet auf Deutsch übersetzt „steiniger Weg“, der für den steinigen und daher anstrengenden Weg der Verarbeitung steht. So wie sein Nachname es vorausdeutet wird Anton später den steinigen Weg zurück in seine Erinnerungen gehen müssen, um zur glücklichen Ich-Werdung zu gelangen. Durch die Etablierung des Steinmotivs in der Exposition antizipiert Mulisch somit Antons Verdrängung als auch eine Auseinandersetzung mit dem Attentat, die jedoch nicht auf einem einfachen Weg zur glücklichen Ich-Werdung führt.
Nach dem Attentat verdeutlicht Mulisch mithilfe des Würfelmotivs, dass Anton das Attentat vergessen hat, um den Grad seiner Verdrängung zu verdeutlichen. Nach dem Attentat wird Anton in ein Wehrmachtsheim gebracht, wo er auf seinen Onkel wartet. Als er dort „seine Hand in die Hosentasche steckte [fand er etwas], das er nicht einordnen konnte“ (S.57). Anton kann den Würfel, ein Symbol für das Attentat, bereits ein paar Stunden nach dem Attentat schon nicht mehr einordnen, wodurch Antons sehr schnelle Verdrängung des Traumas deutlich wird.
Zudem hebt der Würfel in dieser Situation hervor, dass Antons Schicksal besiegelt ist. Anton hat den Würfel nach dem Attentat eingesteckt und somit eine Erinnerung an das Trauma eingesteckt. Mulisch deutet somit voraus, dass Anton sich ein Leben lang mit dem Trauma und daher auch dem Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess beschäftigen wird. So wie Anton die Würfel noch mit sich rumträgt, so wird er auch das Trauma und den damit verbundenen Schmerz ein Leben lang mit sich rumtragen und lernen müssen damit umzugehen. Daher verwendet Mulisch das Würfelmotiv, um den Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess in der Exposition vorauszudeuten und den Leser somit auf Antons Entwicklung vorzubereiten.
Im Romanverlauf (1952) verwendet Mulisch eine Variation des Steinmotivs, um Antons fortschreitende Verdrängung zu verdeutlichen. 1952 besucht Anton seinen alten Wohnort, den Ort des Attentats. Dort vermutet er im „Schatten unter den Brennnesseln [...] Steine [und] Grundmauern“ (S.69). Durch diese Beschreibung veranschaulicht Mulisch dem Leser, wie weit Anton sein Trauma verdrängt hat. So wie der Schatten unter den Brennnesseln von außen nicht einsehbar ist, so ist auch Antons Unterbewusstsein, in das er das Attentat verdrängt hat, nicht leicht einzusehen. So wie sich Antons Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein befinden, so vermutet er auch die Steine, die die Härte und Beständigkeit des Attentats symbolisieren, unter den Brennnesseln. Allerdings schaut Anton nicht nach, ob die Steine wirklich unter den Brennnesseln liegen, was sichtbar macht, dass er sich auch mit den Erinnerungen an das Attentat nicht auseinandersetzt. Durch Antons fehlendes Erforschen seines alten Zuhauses offenbart Mulisch daher, dass Anton sich mit seiner Vergangenheit nicht auseinandersetzt und daher ausschließlich verdrängt.
Des Weiteren hebt das Steinmotiv im Romanverlauf die Dauerhaftigkeit des Traumas hervor, woran der Leser erkennt, dass Antons Verdrängung der Erinnerungen keine dauerhafte Lösung sein kann. Als Anton das Mahnmal für seine Eltern besucht, sieht er eine „graue Statue einer starr blickenden Frau“ (S.79), die auf einer „Mauer aus behauenen Backsteinen“ (S. 79) steht. Die farbmetaphorisch graue und daher alte Statue hebt hervor, dass das Attentat schon lange zurückliegt. Jedoch hat diese Statue „Nach vorne gestreckte Arme“ (S.79), was sie lebendig wirken lässt. Durch die Statue als Symbol für das Leid des Attentats versinnbildlicht Mulisch, dass das Trauma schon lange her ist, jedoch immer noch Antons Leben beherrscht, da es lebendig ist. Zudem steht die Statue auf einer Mauer „aus behauenen Backsteinen“ (S.79) und steht daher sicher. Durch die Dauerhaftigkeit der Mauer offenbart Mulisch auch, dass der Schmerz des Traumas trotz der Verdrängung standhaft in Anton bleibt. Daher verwendet Mulisch das Steinmotiv, um Dauerhaftigkeit des Traumas hervorzuheben und somit das Leserverständnis von Antons Verdrängung zu intensivieren.
Zudem verwendet Mulisch das Steinmotiv, um beginnende Verarbeitung anzudeuten. In einem Gespräch mit Frau van Liempt (1952), die Tante, die nach dem Tod seiner Eltern für Anton gesorgt hat, kann Anton sich auch nicht mehr daran erinnern, dass er bei der Enthüllung des Mahnmals nicht dabei sein wollte. Frau van Liempt erzählt Anton später, dass er bei der Enthüllung meinte, dass „die Steine [ihm] gestohlen bleiben können“ (S.80). Durch das Meiden der Erinnerungen wird deutlich, dass Anton lange Zeit stark verdrängt hat, so stark, dass er sich nicht einmal an die Verdrängung erinnern kann und somit die Verdrängung verdrängt hat. Die Tatsache, dass Anton jetzt das Mahnmal besucht, zeigt aber, dass er beginnt sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Daher verwendet Mulisch das Steinmotiv, um die beginnende Verarbeitung des Traumas anzudeuten und somit das Leserverständnis von Antons beginnender Entwicklung zu verbessern.
Im Kontrast dazu nutzt Mulisch das Leitmotiv des Steins auch, um dem Leser zu zeigen, dass sich Anton seiner Verdrängung der Vergangenheit bewusst wird. Am Ende des Gesprächs mit Frau van Liempt (1952) spürt Anton „eine Angst wie jemand, der einen Stein in einen Brunnen wirft und nie einen Aufschlag hört“ (S. 81). So wie Anton in seinem Vergleich einen Stein in einen Brunnen wirft, so hat er auch seine Erinnerungen tief in den Brunnen des Unterbewusstseins geworfen, ohne zu wissen, wo die Erinnerungen aufkommen. So wie er nie den Aufschlag des Steins hört, so weiß er auch nicht, wo die Erinnerungen sind. Anton erkennt hier erstmals, dass er seine Erinnerungen verdrängt und verspürt Angst dabei. Daher verwendet Mulisch das Steinmotiv, um dem Leser Antons Stand in seinem Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess zu offenbaren und somit das Leserverständnis von Antons Entwicklung zu intensivieren.
Weiterhin präsentiert Mulisch die Erde als Variation des Steinmotivs, um Antons Verarbeitung vorauszudeuten. Nach dem Gespräch mit der Nebenfigur Frau van Liempt (1952) denkt Anton darüber nach, was passieren würde „wenn er einen Schacht quer durch die Erde bohrte und dann in einem feuerfesten Anzug hineinspränge“ (S. 81). Anton kommt zu dem Ergebnis, dass er irgendwann „schwerelos schwebend im Mittelpunkt der Erde zum Stillstand kommen [würde]“ (S. 81). So wie der Schacht ein Weg in das Innere, Verborgene der Erde wäre, so würde Anton sich auch mit verborgenen Gedanken und Erinnerungen auseinandersetzen, wenn er verarbeiten würde. So wie er im Erdkern stehen bleiben würde, so würde er sich auch durch Verarbeitung mit dem Kern seines Traumas auseinandersetzen. Durch diesen Gedankengang Antons erkennt der Leser, dass Anton beginnt, über die Folgen der Verarbeitung nachzudenken. Daher verwendet Mulisch das Steinmotiv, um Antons voranschreitende Entwicklung zur Verarbeitung zu veranschaulichen und somit das Leserverständnis von Antons Entwicklung zu intensivieren.
Im weiteren Verlauf des Romans rücken die Steine, die Antons Umgang mit der Härte des Attentats symbolisieren, immer weiter in den Vordergrund, um Ansätze von Verarbeitung zu zeigen. In der Begegnung mit der Nebenfigur Fake, 1956, elf Jahre nach dem Attentat, trifft Anton zum ersten Mal eine Person aus seiner Vergangenheit, nämlich den Sohn des gleichnamigen erschossenen Nationalsozialisten Fake Ploeg. Fake kommt in Antons Wohnung mit einem Stein in der Hand und legt ihn zunächst auf Antons Flügel, jedoch wirft er diesen Stein im weiteren Verlauf des Gesprächs gegen einen Spiegel und zerstört diesen. Der „Stein“ (S.91) den Fake mitbringt erinnert den Leser an das „Symbolon“ (S.20), da Fake und Anton symbolisch zwei zerbrochene Teile sind. Beide haben durch das Attentat ein Trauma erlebt und sind daher durch das Attentat verbunden. Mulisch verwendet Rahmenbildung, um die Interaktion zwischen Anton und Nebenfiguren als mögliche Lösung für Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess zu präsentieren.
Außerdem verwendet Mulisch das Steinmotiv in der Interaktion mit Nebenfiguren, um Antons beginnende Verarbeitung zu versinnbildlichen. „Fake [legt] den Stein mit einem Geräusch [ab], das verriet, dass der Lack [des Flügels] beschädigt worden war“ (S.91). So wie Fake mit dem Stein den Lack des Flügels beschädigt, so beschädigt auch die Erinnerung an das Attentat, die durch Fake hervorgerufen werden, Antons Fassade der Verdrängung. Fake erinnert Anton an das Attentat, was dazu führt, dass Anton dieses nicht weiter verdrängen kann. Mulisch verwendet das Steinmotiv, um die beginnende Zerstörung der Verdrängung hervorzuheben. Am Ende des Gesprächs wirft Fake „den Stein durchs Zimmer, mitten in den Spiegel“ (S. 99) und zerstört diesen. So wie der Stein den Spiegel zerstört, so zerstören die Erinnerungen an das Attentat Antons inneren Spiegel, der das Unterbewusstsein verdeckt und dafür andere, erträglichere Gedanken reflektiert. In dieser Situation verwendet Mulisch das Steinmotiv erneut, um beginnende Verarbeitung anzudeuten. Daher verwendet Mulisch das Steinmotiv, um die Interaktion mit Nebenfiguren als Verarbeitungsmethode darzustellen und die beginnende Verarbeitung Antons zu veranschaulichen und somit das Leserverständnis von Antons Entwicklung zu intensivieren.
Ziel der Arbeit war es, die Bedeutung des Stein- und Würfelmotivs für das Verständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess zu untersuchen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Mulisch das Würfelmotiv verwendet, um die Zufälligkeit des Attentats zu veranschaulichen. Mulisch führt dem Leser vor Augen, dass Antons Schicksal jeden treffen kann und daher Verarbeitung für jeden der Schlüssel zur glücklichen Ich-Werdung ist. Das Steinmotiv versinnbildlicht die Härte des Attentats und Antons Umgang damit. Mithilfe der Leitmotivtechnik gelingt es Mulisch den veränderten Umgang mit der Härte des Traumas, Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess, zu verdeutlichen.