Roman: Das Attentat (1982)
Autor/in: Harry MulischEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Aufgabe
Bedeutung der Nebenfigur Truus Coster im Harry Mulischs Roman „Das Attentat“.
Welche Bedeutung hat die einmalige Begegnung mit Truus Coster für den Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess des Protagonisten Anton aus Harry Mulischs Roman „Das Attentat“ (1982)?
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Als Nebenfigur wird jene typisierte, zeitlich begrenzte Figur bezeichnet, die zur Intensivierung des Leserverständnisses des Protagonisten beträgt. Auch Harry Mulisch bedient sich in seinem Roman „Das Attentat“ (1982) an Nebenfiguren. Mulischs Roman handelt von Anton Steenwijk, der zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Alter von zwölf Jahren sein Haus und seine Familie als Folge eines Attentates verliert. Anton trifft die Freiheitskämpferin, Truus Coster in einer dunklen Zelle einer Polizeiwache unmittelbar nach seinem Trauma. Truus war an dem Attentat an den Nationalsozialisten Fake Ploeg maßgeblich beteiligt. Anton verdrängt dieses Trauma jahrelang, bis er es schließlich verarbeitet und zur glücklichen Ich-Werdung gelangt. Anhand von diesem Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess thematisiert Mulisch die Auswirkungen eines kindlichen Traumas auf das restliche Leben eines Menschen. Vermutlich warnt Müller vor der Verdrängung, die die glückliche Ich-Werdung verhindert. Anhand der Nebenfigur Truus Coster intensiviert Mulisch das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand exemplarischer Bedeutung aufzuweisen, wie Mulisch die Nebenfigur Truus benutzt, um das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess zu erweitern.
Zunächst übernimmt Truus die Rolle der Mutter, da sie Anton Geborgenheit, Trost und Nähe spendet, wodurch eine Ausgangsbasis für ihre späteren Ausführungen geschaffen wird. Als Anton ängstlich in die Zelle kommt und Truus „leise Frauenstimme“ hört, fühlt er sich, „als würde plötzlich eine große Gefahr von ihm abgewendet“. Trotz der „Dunkelheit“ der Zelle, die Lichtmetaphorisch für Angst und Ungewissheit steht, scheint Truus Anton sofort zu beruhigen und ihm Schutz zu geben. Diese sofortige Reaktion ist vergleichbar mit der Reaktion eines Kindes auf ihre Mutter: es scheint so, als sei Anton auf den Beruhigenden Effekt von Truus Stimme konditioniert. Truus spendet Anton im Laufe ihrer Begegnung noch mehr Geborgenheit, als sie Anton einen Platz neben sich anbietet und „seinen Kopf an ihre Brust“ drückt. Die körperliche Nähe zwischen Anton und Truus versinnbildlicht Truus mütterliche Geste des Trostes und Schutzes gegenüber Anton: sie spendet ihm Geborgenheit und Nähe. Außerdem legt Truus „ihre Decke um ihn“. Eine Decke spendet Wärme. Diese Wärme steht Wärmemetaphorisch für die Geborgenheit, die Truus Anton spendet. Folglich nimmt Truus die Rolle der Mutter ein. Zudem ist sie „nicht so war wie der Ofen oben im Wachlokal, und doch viel wärmer“. Der Kontrast zwischen Wärme und Kälte betont dass Truus trotz ihrer körperlichen Kälte Wärmemetaphorisch von innen, auf der Gefühlsebene, sehr warm und grazil ist, wie eine Mutter ihrem Kind gegenüber. Anton akzeptiert diese Gesten und lässt sich auf Truus ein, indem er weint. Diese emotionale Öffnung Antons zeugt davon, dass Truus Antons Vertrauen gewonnen hat, was die Basis für ihre späteren Ausführungen schafft. Später scheint Anton auch getröstet und beruhigt zu sein, als er vergisst „wo er sich [befindet] und warum“. Dies veranschaulicht, dass Truus mütterlichen Geesten positiv auf Antons ängstliche Gefühlssituation auswirken. Folglich ist eine Basis für die weiteren Ausführungen von Truus geschaffen, die das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess intensivieren.
Darüber hinaus ist Truus während ihrer einmaligen Begegnung in der Zelle nicht nur eine Art Mutterfigur für Anton, sondern nimmt auch die Rolle einer Freundin an, wodurch Antons Einstellung zum Attentat beeinflusst wird. Zunächst vertraut Truus Anton ihre politischen Ansichten über die Nationalsozialisten an. Als Anton Truus über den Vorfall erzählt, erwidert Truus mit: „Verdammt…“. Truus, die einen Wissensvorsprung über die Geschehnisse hat, ist bewusst, dass sie maßgeblich an Antons Schicksal beteiligt ist. Deshalb weist sie im Laufe der Begegnung den Nationalsozialisten die Schuld an Antons Schicksal zu. Sie verdeutlicht Anton, dass „es die Deutschen waren, die [sein] Haus angsteckt haben“ und warnt davor, dass die Nationalsozialisten „die Schuld jetzt den Illegalen in die Schuhe schieben“ werden. Zudem wertet Truus die Nationalsozialisten als „Pack“ ab. Diese räuberische Assoziation lässt auf die Brutalität der Nationalsozialisten schließen, was auf die Schuld der Nationalsozialisten and Antons Schicksal schließen lässt. Im Romanverlauf spiegelt sich diese Einstellung auch bei Anton wider. Dieser behauptet bei einem Treffen mit Ploegs Sohn, Fake, Ploeg sei „absolut auf der falschen Seite“ gewesen. Um den Geschehnissen einen Sinn zu geben, rechtfertigt Truus in der Zelle die Taten der Widerstandskämpfer, die „im Namen des Lichtes hassen, während [die Nationalsozialisten] im Namen der Dunkelheit hassen“. Der lichtmetaphorische Kontrast zwischen Hell und Dunkel betont, dass die Widerstandskämpfer, also auch Truus selbst, aus Liebe und Hoffnung handeln. Dies wird durch das Vergleichen des „[Lichtes] mit der Liebe“ untermalt. Die Nationalsozialisten handeln dahingegen aus blindem Hass heraus. Darüber hinaus gibt Truus dem Tod Antons Eltern einen Sinn indem sie anmerkt: „wenn die Illegalen das nicht getan hätten, hätte Ploeg noch eine ganze Menge mehr Leute umgebracht“. Mulisch lässt Truus den Konjunktiv irreales benutzen, um die Negativfolgen von einem, noch am lebenden, Ploeg zu vermitteln. Dies veranschaulicht, dass Truus einerseits versucht ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, aber auch versucht dem Tod Antons Eltern einen Sinn zu geben: sie stellt den Tod der Eltern als ‚notwendiges Opfer‘ dar, der weitere Tode verhindert hat. Anton wird dadurch beeinflusst, sodass er bei einem Gespräch mit Cor Takes, Truus Komplizen, weder Anzeichen der Beschuldigung noch des Attackieren macht. Er wird lediglich „von einer Art Lachkrampf geschüttelt“ , unterhält sich mit ihm und weint sogar vor ihm. Dies impliziert, dass Anton durch Truus Beeinflussung die Verursacher des Attentats, das seiner Familie das Leben kostete, mehr als Verbündete als Feinde ansieht. Folglich wird Antons Verdrängung zu diesem Zeitpunkt in dem Roman veranschaulicht. Truus intensiviert deshalb in ihrer Rolle als Verbündete von Anton das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess.
Außerdem erzählt Truus, als Freundin von Anton, über Cor. Sie beschreibt ihn als „einen Mann der [sie] liebt“. Solche private Informationen betonen, dass Truus die Rolle als Freundin einnimmt. Sie fährt fort: „[Cor] glaubt, dass ich ihn nicht liebe, aber ich liebe ihn“. Hiermit gesteht Truus Anton, dass sie Cor liebt. Im Romanverlauf kann sich Anton jedoch nicht daran erinnern. In einem Gespräch mit Cor „weiß [er] […] nicht mehr“ was Truus gesagt hat. Dementsprechend verdeutlicht Mulisch dem Leser, dass Anton seine Vergangenheit maßlos verdrängt hat. In Anton brechen die verdrängten Gefühle jedoch hoch, als „Anton den Kopf in den Nacken [legt], als hörte er in der Ferne eine vertrauten Ton“. Die Geräuschmetaphorik kennzeichnet eine beginnende Verarbeitung, das Verarbeiten der verdrängten Erinnerungen und Emotionen. Letztlich drückt Mulisch die stärkere Verarbeitung von Anton aus, indem sich Anton an das Eingeständnis der Liebe erinnert: „[er] hörte […] plötzlich ihre Stimme, ganz leise und weit weg: «Er glaubt, dass ich ihn nicht liebe, aber ich liebe ihn…»“. Mulisch greift die Geräuschmetaphorik nochmals auf, in diesem Fall jedoch als Stimme von Truus. Dies impliziert, dass Anton in seinem Verarbeitungsprozess weiter gekommen ist. Folglich ist Truus in der Rolle der Verbündeten und Freundin von Anton essentiell für das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess.
Weiterhin erzählt Truus, als Freundin und Verbündete von Anton, während ihrer Begegnung mit Anton eine Geschichte über das Verloren sein. Truus erzählt Anton von einer Nacht, in der es „so dunkel [war], dass [sie] eigentlich nicht sehen konnte“ , um Anton zu beruhigen und ihn abzulenken. In jener Nacht habe sie sich verlaufen, doch am nächsten Morgen im Hellen bemerkt, dass sie vor ihrem Haus gestanden habe. Mulisch lässt Truus diese Geschichte um auf Antons Zukunft vorauszudeuten: So wie Truus sich im Dunkeln verläuft, so wird sich auch Anton im Dunkeln der Verdrängung verlaufen. So wie Truus am nächsten Morgen jedoch vor ihrem Haus steht, so wird auch Anton zu sich finden, wenn er verarbeitet hat. Diese lichtmetaphorische Vorausdeutung findet sich im Romanverlauf wieder, als Anton merkt, dass seine Erinnerungen an Truus „einundzwanzig Jahre lang […] in der Dunkelheit“ verborgen waren. Die Erinnerungen hat er verdrängt und in die Dunkelheit abgeschoben. Später allerdings erinnert er sich in einem Gespräch mit Cor an die Geschichte und Truus scheint aus der Dunkelheit „hervorgetreten“ zu sein. Anton hat seine Erinnerungen aus der Dunkelheit herausgeholt und sie in Helligkeit gerückt: er verarbeitet seine Erinnerungen und sein Trauma. Folglich ist erkennbar, dass Truus das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess intensiviert.
Letztlich nimmt Truus die Rolle der Geliebten ein, da Anton während seines Aufenthalts in der Zelle seine ersten erotischen Erfahrungen macht, die sein späteres Frauenbild prägen. Zunächst nimmt Anton während seiner Begegnung mit Truus ihre Physis wahr. Er riecht ihr „[süßliches] […] Parfüm“ , fühlt „ihre weiche Brust“ und hört „ihr Herz schlagen“. Diese Beschreibungen zeigen, dass Anton Truus Physis ausgeprägt mit vielen Sinnen wahrnimmt. Dies impliziert, dass Anton sich Truus auf erotischer Weise angezogen fühlt. Dies wird durch die „unwirkliche Weichheit“ von Truus Brust betont. Mulisch untermalt hiermit Antons Faszination an Truus Körper. Des Weiteren führen Truus „Fingerspitzen über seine Stirn, die Augenbrauen, Wangen, Nase und Lippen“. Diese Aufzählung in Form einer asyndetischen Liste verdeutlicht die Antons intensive, erotische Wahrnehmung von Truus. Er empfindet es als etwas „sehr Feierliches“ , wie „eine Art Initiation“ , die er genießt, indem er „sie gewähren“ lässt. Anton beginnt sich auch ein imaginäres Bild von Truus zu machen: er fühlt ihr „dickes, widerborstiges Haar“ , das im „Lichtschein“ wirr erscheint. Der Lichtschien versinnbildlicht zudem lichtmetaphorisch Antons Gefühle für Truus. Dieses imaginäre Bild spiegelt sich später auch bei Antons Frauenwahl wider. Saskia, seine erste Frau, hat, wie Truus, „dichtes, widerspenstiges […] Haar“. Die intuitive Reaktion von Anton auf Saskia, dass beim ersten Ansehen „bereits alles entschieden“ war, impliziert, dass Anton ein unbewusstes, auf Truus basierendes Frauenbild aufgebaut hat. Die Tatsache, dass Anton jedoch nicht in der Lage ist dies zu erkennen verdeutlicht Antons Verdrängung während des Romans. Später beginnt er jedoch zu erkennen, dass „Saskia […] die Verkörperung einer Vorstellung“ ist, welches seine anfängliche Verarbeitung markiert: er erkennt, dass sein Frauenbild auf Truus basiert ist. Truus scheint „aus der Dunkelheit hervorgetreten [zu sein] – mit Saskias Blick“. Die Lichtmetaphorik verweist einerseits zur Begegnung zwischen Truus und Anton zurück, betont aber auch, ähnlich wie in der Geschichte des Verloren seins, die anfängliche Verarbeitung Antons. Zudem wird damit die Parallele zwischen Truus und Saskia betont. Die aktive Verarbeitung wird dann durch die spätere Trennung von Saskia postuliert veranschaulicht. Folglich ist intensiviert Truus in der Rolle der Geliebten das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Truus Coster als Nebenfigur in der einmaligen Begegnung mit Anton in Harry Mulischs Roman „Das Attentat“ (1982) die Rolle einer Mutter, einer Freundin und einer Geleibeten übernimmt. Anton wird dadurch von ihr beeinflusst, wodurch sein Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess deutlich wird. Dementsprechend fungiert Truus Coster als eine Nebenfigur, die das Leserverständnis von Antons Verdrängungs- und Verarbeitungsprozess intensiviert.
Mulisch, Harry: „Das Attentat“ (1982). 19. Auflage Juni 2018, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.