Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Niemandem auffallen und durch die Welt gehen, ohne wirklich bemerkt zu werden. Unter den vielen Menschen unerkannt und unbekannt bleiben. Dieses Gefühl nicht beachtet zu werden, gar ausgeschlossen zu sein ist vielen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft bestimmt bekannt. In dem Gedicht „rechenschaft“ von Wolfgang Hilbig gibt das lyrische Ich seinen Mitmenschen Auskunft über sich, seinen Umgang mit Anderen und seine persönliche Situation.
Bereits der Titel lässt vermuten das im Folgenden Rechenschaft über etwas abgelegt wird. Diese Rechenschaft ist denen gewidmet, welche das lyr. Ich Fragen (vgl. V. 1). Es gibt an, mit manchen dieser Personen bereits „einen blick gewechselt“ (V. 2) zu haben, jedoch ist es nur „ müde zurückgegangen“ (V. 3) und verspürte den Drang zu schlafen (vgl. V. 5). Im zweiten Vers beantwortet das lyr. Ich die Fragen danach, wer es ist, wo es steht und geht (vgl. V. 6). Es beantwortet diese Fragen damit, dass es sich im „herrlichen herbst“ (V. 7) befindet. Das Jahr fällt in Trauben nieder und der Wald durch den es geht, löst sich am Weg auf (vgl. V. 8-9), welcher „ein ende nimmt hinterm horizont“ (V. 9-10). Im letzten Vers gibt das lyr. Ich die Antwort auf die Frage, wer es ist. Es beschreibt sich als „der unbekannte letzte“ (V. 11), welcher, ohne dass es jemand anderes merkt verschwinden kann (vgl. V. 12-13). Trotzdem hat er „euch“ (V. 14) gesehen, womit es sich an die Adressanten seiner abgelegten Rechenschaft wendet, welche ihn fragten (vgl. V. 1). Er war Teil der Gesellschaft, der Gruppe, doch er hat sich wenig dazugehörig gefühlt. Er hat sich gefühlt, „wie das schwächste glied in einer kette“ (V. 16).
Das Gedicht umfasst drei Strophen. Die ersten beiden Strophen haben 5 Verse und die letzte Strophe hat 6 Verse. Das Gedicht ist als Prosa geschrieben und besitzt so keine Reime und kein Metrum1. Formulierungen wie „der unbekannte“ (V. 11) lassen den Schluss zu das es sich beim lyrischen Ich um eine männliche Person handelt. Besonders auffällig an dem Gedicht ist, dass jedes Wort einschließlich des Titels kleingeschrieben ist. Außerdem wird der Text durch keine Satzzeichen strukturiert. Dadurch gehen die hypotaktischen Satzstrukturen fließend ineinander über und bilden einen nahtlosen, inhaltlich differenziert zu betrachtenden Text. Diese Strukturlosigkeit lässt kein Wort und keinen Satz herausstechen. So entsteht eine gewisse Bedeutungslosigkeit des Textes, welche die innere Lage, des lyrischen Ichs widerspiegelt, welches sich auch gewissermaßen bedeutungslos fühlt. Die einzige formale Trennung erfolgt durch die Versform des Gedichtes, welche den Text in drei Abschnitte gliedert. Durch die fehlenden Satzzeichen kommt es dazu, dass viele Textstellen auf verschiedene Weise gelesen werden können. Die einzige Begrenzung des Gedichtes bildet noch der Satzpunkt am Ende des Gedichtes, welcher den Text abschließt. Als Anfang und Einleitung dient nur die Überschrift.
Rechenschaft, kann man allgemein als Auskunft bezeichnen, welche man einer Person oder einer Gruppe von Personen schuldig ist. In diesem Gedicht scheint das lyrische Ich denen Rechenschaft schuldig zu sein, welche es Fragen (vgl. V. 1). Es geht dabei um mehrere Personen und vielleicht auch den Leser, welcher in Formulierungen wie „euch sag ich“ (V. 1) indirekt mitangesprochen wird. Die Auskunft umfasst die Antworten auf Fragen, die sich wahrscheinlich auch der Leser stellt. Wer ist das lyr. Ich, wo steht und geht es? Doch bevor das lyrische Ich auf die ihm gestellten Fragen antwortet, stellt es erstmal eine Verbindung zu seinen Mitmenschen her. Es scheint einige von Ihnen zu kennen, es hat „mit manchem einen blick gewechselt“ (V. 2). Doch diese Beschränkung auf lediglich einen Blick zeigt bereits, in welcher Distanz das lyrische Ich zu seiner Umwelt steht. Es wurde nicht mehr als ein Blick gewechselt. Kein Wort und keine Berührung, nur ein Blick. Doch selbst bei diesen geringen sozialen Interaktionen scheint schon Überforderung aufzutreten. Statt Freude am Kontakt mit Menschen zu haben, ist das lyrische nur „müde zurückgegangen“ (V. 3) und wollte sich auf die Erde werfen und schlafen (vgl. V. 4-5). Der Wunsch nach Schlaf, welcher in Folge des Kontakts mit anderen Menschen auftritt, zeigt den Wunsch nach Entgrenzung des lyrischen Ichs und den Wunsch nach Befreiung von der Gesellschaft. Im Schlaf ist der Mensch allein und ungestört, er zieht sich in sein Innerstes zurück und kann seinen Problemen entrücken. Nach diesem Alleinsein sehnt sich das lyrische Ich. Im zweiten Vers werden erstmals die Fragen beantwortet, welche gestellt wurden. Als Erstes beantwortet das lyr. Ich die Frage danach, wo es steht und geht (vgl. V. 6). Es sieht sich metaphorisch gesehen „weitab im herrlichen herbst“ (V. 7). Die Ortangabe „weitab“ (V. 7) ist wahrscheinlich auf den Standpunkt der Fragesteller bezogen, von welchen es sich weitab befindet. Dies zeigt nun auch eine gewisse physische Distanz zur Gesellschaft auf. Die Alliteration2 „herrliche® Herbst“ (V. 7) legt jedoch auch einen Fokus auf die Jahreszeit und die positive Empfindung dieser, mit welcher das lyrische Ich seinen Standpunkt beschreibt. Im Herbst des lyrischen Ichs fällt das Jahr in Trauben nieder und das in einem Wald, der sich auflöst. Dieses Niederfallen der Trauben, welche das vergangene Jahr symbolisieren, zeigt eine Indifferenz gegenüber den Geschehnissen des letzten Jahres, da diese Erinnerungen an das Jahr einfach nur niederfallen ohne dass das lyrische Ich dem Ganzen überhaupt eine Bedeutung beimisst. Der Wald, in dem es läuft, löst sich auf und der Weg endet hinter dem Horizont (vgl. V. 11-12). Die Welt um das lyrische Ich herum löst sich auf und es sieht bereits wo sein der Weg endet, auf dem er läuft. In dieser metaphorischen Auflösung der Umgebung des lyrischen Ichs zeichnet sich eine Loslösung von der Welt und der Realität ab, welche durch die physische Umwelt dargestellt werden. Der Weg, auf dem es sich befindet, endet hinter dem Horizont, also sozusagen im Nichts. Doch dieser, für den Leser eher als negativ verstandener Zustand, wird vom lyrischen Ich als „herrlicher herbst“ (V. 7) bezeichnet. Der Zustand der Loslösung von der Welt scheint also für das lyrische Ich eher wünschenswert, als schlecht zu sein, wodurch eine depressive Sicht auf das Leben deutlich wird. Diese depressive Sicht wird jedoch vielleicht durch seine Wirkung und Stellung in der Gesellschaft, unter uns den Mitmenschen hervorgerufen. Seine Distanz und Abneigung gegenüber sozialen Interaktionen wurden bereits in der ersten Strophe deutlich, doch in der letzten Strophe gibt es nun eine Antwort auf die Frage, wer das lyrische Ich ist. Es gibt sich als „der unbekannte letzte“ (V. 11) zu erkennen. Er beschreibt sich als jemand „der plötzlich / seitab wegtritt der verschwinden kann / ohne spürbare spur“ (V. 12-14). Er wird also von seinen Mitmenschen scheinbar nicht wahrgenommen, er kann kurz verschwinden und niemandem fällt es auf. Er ist der „unbekannte“ (V. 11) , der zu Keinem Kontakt hat oder eine Beziehung pflegt. Er ist der „letzte“ (V. 11), welcher von Allen vergessen wird. Man könnte ihn als, von der Gesellschaft ausgeschlossen bezeichnen. Selbst fühlt er sich „wie das schwächste / glied in einer kette“ (V. 15-16), womit er sich selbst als Randmitglied der Gesellschaft bezeichnet und seine Distanz und fehlende Bindung zu seinen Mitmenschen induziert. Wie das Schwächste Glied in einer Kette (vgl. V. 15-16) hinkt er dauerhaft hinterher und fühlt sich so wahrscheinlich auch nicht wohl damit. Diese persönliche Stimmung wurde besonders in Strophe zwei deutlich, in welcher er seine depressive Haltung ausdrückt.
Obwohl wir ihn nicht beachten, hat das lyrische Ich uns doch gesehen und unseren fehlenden Halt gespürt (vgl. V. 13-15). Und so gibt er auch uns in gewisser Weise die Schuld an seinem Zustand, denn wir haben ihm den geringen Halt in der Gemeinschaft gegeben und haben ihn ignoriert, obwohl er die ganze Zeit über da war und sich uns gezeigt hat. Das lyrische Ich hat uns, auf unser Fragen hin Rechenschaft über seinen psychischen Zustand und seine höchstpersönliche Gefühlswelt gegeben. Obwohl das lyrische Ich seinen Mitmenschen nie aufgefallen ist, gibt es sich nun zu erkennen. Vielleicht war nicht das lyrische Ich seinen Mitmenschen die Rechenschaft schuldig, womöglich war es der Zustand des lyrischen Ichs, welcher danach verlangt hat, dass wir darauf aufmerksam gemacht werden.
In gewisser Weise ist Wolfgang Hilbigs Gedicht als Appell zu an uns zu betrachten. Er zeigt uns die Perspektive einer Person, welche nicht wirklich in der Gesellschaft ankommt und so ins Unsichtbare abrutscht. Von Negativität und Entgrenzung erfüllt, versucht es sich von der Welt zu lösen. Wir sollten probieren, auch das schwächste Glied, jenen „unerkannt[en] letzte[n]“ (V. 11) ein Gefühl der Teilnahme zu geben und sie nicht in einen psychischen Abgrund gleiten lassen.