Gedicht: Mondnacht (2009)
Autor/in: Jan ImgrundEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
Strophen: 4, Verse: 34
Verse pro Strophe: 1-3, 2-10, 3-9, 4-12
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Wenn der modern Mensch des 21. Jahrhunderts das Angebot bekäme, statt in die digitale Welt, in die analoge Natur zu gehen, würde er dieses Angebot annehmen? In seinem Gedicht „Mondnacht“ aus dem Jahr 2009 gibt Jan Imgrund seinem lyrischen Ich genau diese Möglichkeit. In der digitalen Welt sind „im Moment keine Kontaktplätze frei“ (V. 1) und dem lyrischen Ich wird offeriert, es könne doch „so lange / aufstehen und wandern“ (V. 2-3). Das lyrische Ich kommt nun in Kontakt mit der Natur und es offenbart sich dem Leser eine sonderbare Beziehung zwischen dem modernen Menschen und seiner natürlichen Umwelt. Am Ende bekommt das lyrische noch einmal das Angebot in die digitale Welt zu gehen, wie wird es sich entscheiden?
Nachdem das lyrische Ich im ersten Vers, wie bereits erwähnt, den Hinweis bekommt aufzustehen und wandern zu gehen (vgl.V. 3), akzeptiert es dieses Angebot im Zweiten Vers („natürlich – warum hatte ich nicht / gleich daran gedacht“ (V. 4-5)) und geht direkt los „ohne [sich] / klar zu machen, …“ (V. 6-7) worauf es sich einlässt. Es erkennt, wie viel es doch in der Natur zu tun gibt (vgl.V. 8) und erkennt im Anschluss auch, was der Wald so macht (vgl.V. 10-11). Das lyrische Ich ist „dankbar in der Natur vorzukommen“ (V. 14) und genießt die Ruhe (vgl. V. 15-17). Es fühlt sich verbunden mit der Natur („es ist als hätte ich […] erde geküsst“ (V. 18-19)) und doch fühlt es sich dabei so als hätte es nun „verpflichtungen“ (V. 20) gegenüber ihr. Es fühlt sich, als müsste es nun vor dem Mond niederknien, jedoch nur „vielleicht“ (V. 22). In der vierten Strophe wird das lyrische Ich „starr vor staunen“ (V. 25) vor den „plötzlichen lichtungen“ (V. 26). Es fühlt sich von diesen ausgelastet. Alles in allem ist es „quicklebendig“ (V. 28). Im letzten Vers ist das lyrische Ich nun wieder zurück von seiner Wanderung und denkt darüber nach, dass es vielleicht „sie“ (V. 29), die digitale Welt, sind „die uns zu hochform antreiben“ (V. 30) und zu einer „brand“ (V. 32“ werden lassen. Das lyrische Ich entscheidet sich dazu „ihn erst einmal“ (V. 34) wegzudrücken, womit wahrscheinlich der anfangs genannte Kontaktplatz gemeint ist. Es beschließt sich später zu entscheiden (vgl.V. 35), ob es nun ins die digitale Welt betreten möchte.
Das Gedicht mit fünf Strophen zu verschiedenen Verszahlen pro Strophe lässt den Leser teilhaben am Loslösen von der digitalen Welt und Erkundung der Natur durch das lyrische Ich. Welchen Wörtern Bedeutung zukommt wird durch die schier unkontrollierte Setzung von Satzzeichen gesteuert. So stechen eigentlich unbedeutende Wörter wie „vielleicht“ (V. 22) und „quicklebendig“ (V. 28) beim Lesen direkt ins Auge. Der Fokus auf die Zeichensetzung, wird besonders durch die durchgängige Kleinschreibung verstärkt. Der parataktische Satzbau, die freie Zeichensetzung, die Tatsache, dass der Text weder Reime noch Metrum1 besitz und die unterschiedlichen Verslängenstiften beim Leser eine gewisse Verwirrung. Der Leser weiß nicht worauf er sich beim Lesen konzentrieren soll, scheinbar sinnvolle Bedeutungsfetzen verlieren ihre Logik durch ein plötzlich gesetztes Kommata. Diese Verwirrung stimmt jedoch mit der Verwirrung überein, welche beim lyrischen Ich durch seine Konfrontation mit der analogen Welt gestiftet wird. Die erste Strophe sticht leicht heraus, da sie, trotz der Kleinschreibung, relativ klar strukturiert ist und eine geregelte Zeichensetzung besitzt.
Es scheint so als handle es sich in dieser Strophe um die Nachricht eines Dritten, an das lyrische Ich. Dem lyrischen Ich wird mitgeteilt, dass es momentan keinen Zugang in die digitale Welt gibt (vgl.V. 1). Daraufhin kommt ein Hinweis, eine Idee. „[S]ie könnten“ (V. 2) wirkt wie ein Aufruf, eine suggestive Aufforderung an das lyrische Ich, statt dem Kontaktplatz in der digitalen Welt wird dem ihm eine Wanderung vorgeschlagen. Seine Antwort, „natürlich“ (V. 4), eine Interjektion2 scheint wie ein Geistesblitz. Die folgende rhetorische Frage („warum hatte ich nicht gleich daran gedacht“ (V. 4-5)) wird durch einen Bindestrich vom vorhergehenden Wort getrennt. Es scheint als hätte das lyrische Ich erst eine kleine Denkpause gemacht, bis sich ihm die Brillanz dieser Idee offenbart. Der Gang in die Natur ist eine Option, die ihm schon die ganze Zeit offenstand, welche es aber scheinbar von sich aus nicht in Angriff genommen hätte (vgl. V. 4-5). Die Natur scheint ihm noch fremd zu sein, es ist nichts womit das lyrische Ich häufig in Berührung kommt. Bereits als es über „die / gerade bestellten felder“ (V. 5-6) geht, ist ihm nicht bewusst, auf was es sich da einlässt (vgl.V. 6-7). Dem lyrischen Ich werden die Möglichkeiten bewusst, welche ihm offenstehen („es gibt viel zu tun“ (V. 8)). Überwältigt von den neuen Eindrücken stellt sich das lyrische Ich eine philosophische Frage („gewaltig endet so das nie?“ (V. 9)), in welcher deutlich wird, wie das lyrische Ich versucht die Umgebung und die Menge an neuen Erfahrungen einzuordnen und alles zu verstehen. Die Fragestellung wirkt ein wenig undeutlich, was ein Zeichen für die Reizüberforderung des lyrischen Ich sein könnte, welche keinen klaren Gedanken mehr zulässt. Erstmals erkennt das lyrische Ich auch die Funktion des Waldes. „[D]as macht der wald“ (V. 10), wirkt wie ein Ausruf der Erkenntnis, wie eine Offenbarung, ein „AhaMoment“. Die „moosigen eichen“ (V. 12) personifiziert das lyrische Ich als „starke, motivierte mitarbeiter“ (V. 13) des Waldes. Alles scheint neu für das lyrische Ich zu sein, sogar die Bäume, welche in klare, bekannte Muster eingeordnet werden. Doch trotz der Verwirrung des lyrischen Ichs durch die neuen Eindrücke, stellt sich eine gewisse Dankbarkeit für all das Erlebte in (vgl.V. 14). Alles ist so schön für das lyrische Ich, dass es „wie ein traum“ (V. 15) zu sein scheint. Es ist fast schon paradox, dass es so scheint, als wäre es ein Traum, denn ein Traum ist eher etwas realitätsfernes, wobei die Natur die physische Realität darstellt. Es scheint so, als wäre das lyrische Ich einer anderen Realität entglitten, welche für es wie die physische Realität war. Doch mit der Konfrontation des lyrischen Ichs mit der echten Welt und der Natur scheinen auch Verpflichtungen aufzukommen. Seine Begegnung mit der Natur wird mit dem Akt einer innigen Beziehung beschrieben. Für das lyrische Ich ist es so, als hätte es die „erde geküsst“ (V. 19) und damit eine Beziehung mit der Natur eingegangen, welche auch Verpflichtungen nach sich zieht, wie es in einer regulären, zwischenmenschlichen Beziehung auch ist. Der Mond scheint das lyrische Ich dazu zu bringen sich niederzuknien (vgl.V. 21-22), doch es weiß nicht, was es machen soll. Soll es den Verpflichtungen nachkommen? „[V]ielleicht“ (V. 22). Das lyrische Ich ist wie mitgerissen von der Macht der Natur, es weiß kaum, wie es mit all den Dingen umgehen soll, die ihm wiederfahren. Im nächsten Moment wechseln die Eindrücke wieder. Das lyrische Ich ist überwältigt von „diesen plötzlichen lichtungen“ (V. 26). Gegensatzpaare, wie „heiß und kalt“ (V. 24) zeigen die Zerrissenheit und Unfähigkeit die Eindrücke zu verarbeiten. Die „Ressourcen“ (V. 27) des lyrischen Ichs sind von diesen Lichtungen ausgelastet, welche plötzliche Offenbarungen der Natur sein könnten. Offenbarungen, welche das lyrische Ich „starr vor staunen“ (V. 25) werden lassen. Die Strophe endet mit dem Wort „quicklebendig“ (V. 28). Abgegrenzt vom strukturellen Zusammenhang beschreibt es die Natur und lyrisches Ich. Das lyrische Ich ist zwar überwältigt, doch ist es ausgelastet durch diese neuen Eindrücke der Welt und fühlt sich „quicklebendig“ (V. 28). In der letzten Strophe wendet das lyrische Ich seinen Blick gedanklich noch einmal zum Anfang. „Vielleicht sind sie es“ (V. 29), hier spricht das lyrische Ich jene an, welche ihm den Hinweis gaben rauszugehen, weil „keine kontaktplätze frei“ (V. 1) waren. Es meint die digitale Welt, von welcher es zwangsläufig Abstand nehmen musste, da keine momentan Möglichkeit bestand an dieser teilzuhaben. Diese Welt, mit welcher auch das Internet gemeint ist, ist es, welche „uns zu hochform antreib[t]“ (V. 30), sie versetzt uns in Stress und nimmt uns die Zeit. Das lyrische Ich erkennt, dass sie uns am Ende „zu einer brand“ (V. 32) werden lässt. Etwas unpersönliches, eine Marke, nicht mehr als eine kleine, unbedeutende Variable in der gewaltigen Maschinerie der Wirtschaft. Das lyrische Ich erkennt die Wirkung der digitalen Welt, doch es hat versucht sich davon kurzzeitig zu lösen, auch wenn es nicht wirklich funktioniert hat. Es hat die Natur kennengelernt und ihre vielen Facetten gesehen. Das lyrische Ich entscheidet sich dazu den Kontaktplatz („ihn“ (V. 33)) wegzudrücken und den Zugang zur digitalen Welt erst einmal nicht wahrzunehmen und später darüber zu entscheiden.
Durch den Zufall, dass das lyrische Ich keinen Zugang zu seiner digitalen Welt erhält, offenbart sich ihm eine ganz neue Welt. Es wird angeboten die Natur zu erkunden und das lyrische entscheidet sich dafür. Diese Konfrontation offenbart eine vollkommen neue Welt. Das lyrische Ich ist gar unfähig all diese Eindrücke zu verarbeiten und ist überwältigt. Es geht eine ganz neue Beziehung mit der Natur ein und erkennt wie viel es in der echten Welt noch zu tun gibt. Seine Wanderung ist eine Mischung aus Verwirrung und Erkenntnis, welche ihm die Schönheit abseits der digitalen Welt zeigt. Wieder zu Hause angekommen denkt das lyrische Ich erstmals über die Wirkung der digitalen Welt nach. Sie will den Mensch entpersonalisieren und zu einem Objekt der Wirtschaft machen. Letztendlich entscheidet es sich dazu die digitale Welt noch etwas warten zu lassen, warum auch nicht, wenn man gerade eine neue Welt voller überwältigender Schönheit entdeckt hat.
Jan Imgrund zeigt, wie fern der moderne Mensch der Natur geworden ist. Etwas überspitzt dargestellt scheint es so, als sei nicht mehr die digitale Welt Neuland für uns, sondern die echte Welt und die Natur. Statt uns immer zu „hochform antreiben“ (V. 30) zu lassen sollten auch wir öfter mal dem Rat der ersten Strophe folgen und „aufstehen und wandern“ (V. 3). Vielleicht entdecken wir dann auch, wie überwältigend die Welt fernab der Digitalität doch ist.