Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Finnische Landschaft“ wurde 1940 von Bertolt Brecht verfasst und thematisiert die Gedanken eines Schriftstellers, der sich aufgrund des in Deutschland herrschenden Nationalsozialismus und des tobenden Krieges gezwungenermaßen im Exil befindet. Der Fokus wird hier vor allem auf die Gefühlssituation des lyrischen Ichs gelegt. Im Vergleich dazu steht das Gedicht „In der Fremde“ von Clemens Brentano, welches bereits 1810 veröffentlicht wurde und von einer wiedererlangten Einheit des Menschen mit der Natur handelt. Obwohl die grundlegende Ausgangssituation des lyrischen Ichs in beiden Gedichten sehr ähnlich ist, sind die Stimmung sowie die Gedanken und Gefühle der beiden sehr unterschiedlich. Außerdem kommen der Natur in beiden Gedichten unterschiedliche Rollen zu. Daher lassen sich die beiden lyrischen Texte sehr gut vergleichen, obwohl sie verschiedenen Epochen zuzuordnen sind.
In Brechts Gedicht „Finnische Landschaft“ erfolgt zu Beginn eine adjektivreiche Beschreibung der Natur. Die weitläufigen „fischreiche[n]“ (V.1) Gewässer und die großen dichten Wälder (Vgl. V.1) sind Ausdruck dessen, was das lyrische Ich mit seinen Augen wahrnimmt. Der Neologismus1 „schönbaumig“ (V.1), der für die genauere Beschreibung der Wälder verwendet wird, verdeutlicht die Faszination des lyrischen Ichs für die Natur. Die darauffolgende Alliteration2 „Birken- und Beerenduft“ (V. 2) beschreibt die Sinneseindrücke des Geruchssinns. Auch die Wahrnehmungen des Gehör- und Tastsinns werden in der Synästhesie3 des „vieltonige[n] Wind[es]“ (V.3), der die Luft „durchschaukel[t]“ (V.3) verdeutlicht. Die als angenehm empfundene Milde (Vgl. V.4) der Luft wird mithilfe eines Vergleichs hervorgehoben. Auf das lyrische Ich wirkt es „als stünden […] Milchbehälter“ (V.4) der umliegenden Bauernhöfe (Vgl. V.5) „offen“ (V.5). Dass die verschiedenartigen Sinneswahrnehmungen mit Ausrufezeichen versehen und daher wie Interjektionen4 erscheinen, verdeutlicht ebenfalls die Begeisterung des lyrischen Ichs und die Freude, die es an der Natur empfindet. Alle diese Sinneswahrnehmungen „verschwimm[en]“ (V. 6) nach kurzer Zeit jedoch. „Geruch und Ton und Bild und Sinn“ (V.6) können nun nicht mehr so wie zuvor klar voneinander differenziert werden. Es wird deutlich, dass das lyrische Ich ein „Flüchtling“ (V.7) ist, der „im Erlengrund“ sitzt und „sein schwieriges Handwerk“ (V.8) wieder aufnimmt. Diese Metapher5 verdeutlicht, dass das lyrische Ich, welches sich aufgrund des in Deutschland herrschenden Nationalsozialismus im Exil befindet, alltäglich von der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr geplagt wird. Diese Hoffnung ist „schwierig“, da man stets im Ungewissen über die Dauer des Exils bleibt. (Dieser Gedanke wird unter anderem auch in Brechts Gedicht „Gedanken über die Dauer des Exils“ deutlich.)
In der finnischen Natur kann das lyrische Ich seine Hoffnungen und Sorgen für kurze Zeit vergessen. Für einen kleinen Moment verschafft die Schönheit der Natur ihm inneren Frieden. Diese Harmonie ist jedoch nur von kurzer Dauer. Das lyrische Ich ist nicht in der Lage, sich nur noch auf die „schönheitsgehäufte[n] Ähre“ (V.9) oder den trinkenden Elch (Vgl. V.10) zu konzentrieren. Die Harmonie wird von den Gedanken an die Menschen in der Heimat und an die Opfer des Krieges, die ohne „Korn und Milch“ (V.11) sind, beeinträchtigt. Als sich das lyrische Ich nun langsam aus der unberührten Natur in Richtung Zivilisation bewegt, erblickt es eine mit Baumstämmen beladene Fähre (Vgl. V.12). Es fragt sich nun, ob „dies das Holz [ist], ohn das kein Holzbein wäre“ (V.13). Diese rhetorische Frage verdeutlicht die Ungewissheit des lyrischen Ichs. Es fragt sich, ob dieses Holz in die Heimat transportiert wird und ob Finnland als Holzlieferant für Kriegsgebiete dient. Außerdem „sieht“ es „ein Volk, das in zwei Sprachen schweigt“ (V.14). Dieses Paradoxon6 beinhaltet den Vorwurf an Finnland und an seine Bevölkerung, dass sie nichts gegen das Grauen des Krieges in Deutschland unternehmen, obwohl ihnen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Hiermit kritisiert Brecht alle, die von den Taten der Nationalsozialisten wussten und trotz allem geschwiegen haben.
Die unbeschwerte Stimmung von Freiheit und Frieden zu Beginn der ersten Strophe, die durch einen umarmenden Reim nochmals hervorgehoben wird, verschwindet ab dem Wendepunkt im sechsten Vers nach und nach, sobald die alltäglichen Sorgen zurückkehren. In der zweiten Strophe (insbesondere ab dem elften Vers) ist die Stimmung nachdenklich und bedrückend. Das abgewandelte Reimschema in der zweiten Strophe, welches nur noch Ähnlichkeiten mit einem umarmenden Reim erkennen lässt, verdeutlicht, dass der durch die Natur vermittelte Frieden stets von den Sorgen und Gedanken über die Heimat und den Krieg beeinträchtigt wird.
Dieses Gedicht ist typisch für die Exilliteratur des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit waren viele Schriftsteller genau wie Brecht aufgrund der Nazis und des 1939 ausbrechenden Zweiten Weltkriegs dazu gezwungen, ins Exil zu fliehen. Von dort aus wollten sie den Kampf gegen den Nationalsozialismus weiterführen, indem sie mithilfe ihrer Literatur auf die politischen Missstände und die Grausamkeit aufmerksam machten. Aufgrund dieser Intention sowie aufgrund der Tatsache, dass sich Brecht zur Entstehungszeit des Gedichts (1940) in Finnland im Exil befand, kann das lyrische Ich in „Finnische Landschaft“ mit Bertolt Brecht gleichgesetzt werden. Da Brecht zahlreiche Werke im Exil veröffentlichte, zum Beispiel das Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“, gilt er als typischer Vertreter der deutschen Exilliteratur.
Vergleich zu „In der Fremde“ von Clemens Brentano
Brechts Gedicht „Finnische Landschaft“ eignet sich für einen Vergleich mit dem Gedicht „In der Fremde“ des Romantikers Clemens Brentano. Die Ausgangssituation ist dieselbe. Das lyrische Ich befindet sich ebenfalls in der Natur, nachdem es von weit her gekommen ist. Es ist „über Berg und über Thal“ (V. 2) gewandert und macht nun im Wald Rast, der durch das Pars pro toto „unter Eichen unter Buchen“ (V. 5) dargestellt wird. Es kommt zur Ruhe „bis sich Schlaf und Traum und Friede“ (V. 11) „auf die müde Seele senkt“ (V. 12). Diese Klimax7 (Vgl. V.11) verdeutlicht die friedliche beruhigende Wirkung der Natur auf das lyrische Ich. Es erkennt, dass es nicht an einem bestimmten Ort, sondern einzig und allein in der Natur „zu Haus“ (V. 20) ist. „Hier wie dort“ (V. 16) „hör[t] [es] dieselben Klagen, dieselbe Lust“ (V. 13f). Solange es sich im Einklang mit der Natur befindet, verspürt es einen inneren Frieden. Diese Einstellung bildet einen starken Kontrast zu den Gefühlen des lyrischen Ichs aus Brechts Gedicht. Diesem ermöglicht die Natur zwar auch Frieden und eine innere Harmonie. Diese Wirkung ist jedoch nur von kurzer Dauer. Langfristig überwiegen das Heimweh und die Sehnsucht nach der Heimat. Diesem lyrischen Ich kann die Natur trotz ihrer beeindruckenden Schönheit niemals die ersehnte Heimat ersetzen, sowie sie es für das lyrische Ich in Brentanos Gedicht tut. Dieses ist glücklich und zufrieden mit seiner aktuellen Situation, während das lyrische Ich des ersten Gedichts, beziehungsweise Bertolt Brecht, im Exil unglücklich ist und so schnell wie möglich zurückkehren möchte, da nichts und niemand sein Zuhause ersetzen kann und er nur dort glücklich ist. Dahingegen hat dem lyrischen Ich des zweiten Gedichts diese Wanderung in die Ferne zur eigenen Selbstverwirklichung und innerem Frieden verholfen, sodass es nicht zurückkehren möchte, sondern an Ort und Stelle glücklich ist. Die einzige Voraussetzung für seinen inneren Frieden ist der Einklang mit der Natur. Diese wird in jeder einzelnen Strophe des Gedichts sehr lebhaft beschrieben, während sie in Brechts Gedicht zwar zu Beginn eindrucksvoll beschrieben wird, dann aber eher in den Hintergrund rückt. Brentano verwendet für die Beschreibung der Natur beispielsweise die Personifikation8 des „treue[n] Himmelsbogen“ (V. 3), der das lyrische Ich stets begleitet. Außerdem verwendet er die Metapher der „Frau Nachtigall“ (V. 8), die mit einer Wirtin oder Gastmutter, die „ihre Gäste wohl bedenkt“ (V. 10) verglichen und somit auch personifiziert wird. Desweiteren verwendet er in der fünften Strophe seines Gedichts einen sich über drei Verse erstreckenden Parallelismus (Vgl. V.13-15), der die Eindrücke und Wahrnehmungen des lyrischen Ichs an diesem neuen Ort beschreibt. Letztendlich werden noch einmal der Fluss, der „mit freudigem Gebraus [spielt]“ (V. 17f) und die „grüßen[den]“ (V. 19) Sterne personifiziert. Clemens Brentano bedient sich folglich zahlreicher rhetorischer Figuren, um die Natur und ihre Wirkung auf das lyrische Ich möglichst lebendig und eindrucksvoll erscheinen zu lassen. In Brechts Gedicht wird die Natur dahingegen zwar auch eindrucksvoll, allerdings keineswegs lebendig beschrieben. Während sie bei ihm nur Trost verleiht, ersetzt sie im zweiten Gedicht sogar die Heimat.
Für die Epoche der Romantik gilt das Wandern als eine Reise ins eigene Selbst als typisches Motiv. Dies gilt auch für die Sehnsucht der Romantiker nach einer neuen Einheit des Menschen mit der Natur. Diese Motive kommen in Brentanos Gedicht deutlich zum Vorschein. Das lyrische Ich findet seinen inneren Frieden durch die Einheit mit der Natur. Dahingegen überschatten in der Exilliteratur die Sehnsucht nach der Heimat und die ständige Angst und Bedrohung durch die Nazis und den Krieg alles andere.
Bei beiden Gedichten fällt auf, dass Aufbau und Form eng mit dem Inhalt verbunden sind. Brechts Gedicht besteht aus zwei Strophen, von denen die eine aus acht, die andere aus sechs sehr langen, oft zweiteiligen Versen besteht. Außerdem weicht das Reimschema in der zweiten Strophe von der Regelmäßigkeit ab. Diese Unregelmäßigkeit in Form und Aufbau des Gedichts, die zusätzlich durch überaus viele Satzzeichen verstärkt wird, verdeutlicht die Tatsache, dass das lyrische Ich seinen inneren Frieden nicht finden kann und die Begeisterung über die Schönheit der Natur stets von zahlreichen Sorgen beeinträchtigt wird. Im Gegensatz dazu weist Brentanos romantisches Gedicht in allen formalen Aspekten eine durchgängige Regelmäßigkeit auf. Alle fünf Strophen bestehen aus vier relativ gleich langen Versen. Außerdem wird durchgängig, ohne jegliche Ausnahme, ein Kreuzreim verwendet. Auch das Metrum9 des Gedichts ist stets ein regelmäßiger Trochäus. Diese Regelmäßigkeit verstärkt die inhaltliche Harmonie sowie den Frieden und die Ausgeglichenheit des lyrischen Ichs. Außerdem verwendet Brentano die Form der ersten Person Singular, um den Fokus auf den Menschen an sich und sein Verhältnis zur Natur zu legen.
Letztendlich weisen die beiden Gedichte trotz einiger Gemeinsamkeiten zahlreiche grundlegende Unterschiede auf. So ist beispielsweise die Bedeutung, die der Natur zukommt, in beiden Gedichten grundverschieden. Während sie in einem lediglich Trost spendet, ersetzt sie im anderen sogar die Heimat. Die Unterschiede lassen sich auf die verschiedenen Intentionen der beiden Autoren zurückführen, die jeweils von den historischen Gegebenheiten der damaligen Zeit beeinflusst wurden. So möchte Bertolt Brecht hauptsächlich Kritik am Nationalsozialismus und an all denen, die trotzdem schweigen, üben und zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrufen. Dahingegen möchte Clemens Brentano dem vernunfts- und wissenschaftsgläubigen Menschen seiner Zeit verdeutlichen, dass nur die Verbindung von Mensch und Natur, von Vernunft und Gefühl für inneren Frieden sorgen kann.
Nach Bertolt Brechts Lyrikverständnis ist es die Aufgabe von Lyrik, beziehungsweise die des Schriftstellers, die Wahrheit der tatsächlichen Realität aufzuzeigen und sie den Menschen vor Augen zu führen. Außerdem muss er an dieser Wahrheit positive oder negative Kritik üben. Einerseits soll dies vom Standpunkt der Gesellschaft aus geschehen. Andererseits darf aber der persönliche Standpunkt des Schriftstellers nicht vernachlässigt werden. Die Lyrik, beziehungsweise die Literatur an sich hat laut Brecht demnach eine aufklärende Kritikfunktion. In seinem Gedicht „Finnische Landschaft“ übt er beispielsweise Kritik an allen Menschen, die schweigen und rein gar nichts gegen das Grauen des Nationalsozialismus unternehmen. Er übt also Kritik in Form von Lyrik. Obwohl Brecht ebenfalls ein ähnliches Naturverständnis, beziehungsweise ähnliche Begeisterung für die Schönheit der Natur empfand, wie die Romantiker, die in Brentanos Gedicht „In der Fremde“ deutlich wird, ist es für ihn wichtiger, über aktuelle Probleme und Missstände aufzuklären. Dieses Bedürfnis Brechts kommt unter anderem in seinem Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ zum Vorschein. Obwohl er sehr gerne über die Schönheit der Natur schreiben würde, überwiegt das Bedürfnis, die wahre Realität und ihre Probleme aufzuzeigen. Allein dieses Bedürfnis „drängt ihn zum Schreibtisch“.