Übersicht
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation der Rede
Aufgabe 1 – Analyse zu Schäubles Rede zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin
Die zu analysierende politische „Rede zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin“ (1991) von Wolfgang Schäuble thematisiert den zukünftigen Sitz des deutschen Bundestages nach der deutschen Wiedervereinigung. Diese hitzige Debatte, die mit über 100 Rednern als einer der Sternstunden des deutschen Parlamentarismus gilt, beinhaltet somit auch die Fragestellung, ob Berlin demnach künftige Hauptstadt des vereinten Deutschlands sein soll. In seiner Rede vom 20. Juni 1991 plädiert Schäuble für Berlin als künftige Hauptstadt und somit Sitz des deutschen Bundestages. Dabei verfolgt er die Absicht, seine Zuhörer dazu zu bewegen, für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung zu stimmen.
Jene Debatten sind von historischer Bedeutsamkeit, da sie Einfluss auf die Einheit Deutschlands haben. Nach 40 Jahren nimmt der Ost-West-Konflikt sein Ende und die DDR als Satellitenstaat der kommunistischen Sowjetunion wird mit der westlichen Bundesrepublik vereint. Bisheriger Sitz von Parlament und Regierung der BRD (Bundesrepublik) war die nordrhein-westfälische Stadt Bonn. Berlin ist zentraler Ort der Wiedervereinigung, da es zunächst nach Ende des 2. Weltkrieges in vier Besatzungszonen der Siegermächte unterteilt war und anschließend im Jahre 1961 durch den Beginn des Mauerbaus geteilt wurde. Unter diesen Umständen wurden viele deutsche Familien getrennt oder zersplitterten in Anbetracht des Ost-West-Konflikts. Des Weiteren litten viele Deutsche unter den Methoden der Stasi, weshalb der Westen viele Menschen freikaufte.
Schäuble verfolgt unter Berücksichtigung dieser geschichtlichen Umstände die Intention, zum Prozess der Einheitsbildung Deutschlands beizutragen und Stimmen für Berlin als Hauptstadt der neuen Bundesrepublik bei dieser Sitzung zu gewinnen.
Zu seinem Adressatenkreis gehören fast ausschließlich Parlamentarier, die bei der Abstimmung über die Zukunft Deutschlands entscheiden werden. Aus diesem Grund hat er es mit verschiedenen Parteien wie der CDU/CSU, FDP, SPD und dem Bündnis 90/Grüne zu tun. Zwar sind die Abgeordneten nicht an den Fraktionszwang gebunden, dennoch teilen sich die Gemüter bei der Entscheidung. Durch den fehlenden Fraktionszwang handelt es sich nicht um eine komplizierte Redner-Zuhörer-Konstellation, da die Polarität verschiedener Gruppierungen fehlt. Dennoch muss Schäuble mit Hilfe seines Logos und Pathos Anhänger der Gegenseite kunstvoll überzeugen. Die politische Rede richtet sich nicht nur an die Parlamentarier, sondern auch an die deutsche Bevölkerung, über deren Schicksal in diesen Stunden entschieden wird. Schäuble verfolgt dabei die Intention – bei einer Mehrheitsabstimmung für Berlin – die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es sich um die richtige Wahl handelt. Ferner richtet sich die Rede an das Ausland, da die Entscheidung auch auf politischer Ebene Einfluss haben wird.
Die Rede lässt sich in vier Abschnitte unterteilen. Abschnitt 1 (Z.1-37) dient als Einleitung, die sich weiter einteilen lässt. Von Zeile eins bis 14 wird die Rede eingeleitet mit Bezug zur Teilung und Wiedervereinigung. Anschließend geht Schäuble auf die Gegenseite ein und betont das gemeinsame Verständnis (Z.17-24). Der dritte Unterabschnitt der Einleitung (Z.25-37) befasst sich mit dem Finden eines gemeinsamen Konsenses. Der zweite Abschnitt (Z.39-86) dient als Hauptteil mit Schäubles Argumentation. Es folgt ein historischer Bezug im dritten Abschnitt (Z.89-108). Der vorletzte Abschnitt (Z.111-122) bezieht sich auf die Rolle der europäischen Einheit. Im letzten Abschnitt (Z.125-134) fasst der Redner die Quintessenz zusammen und appelliert an seine Zuhörer, für Berlin zu stimmen. Das Abstimmungsergebnis fällt mit 338 zu 322 Stimmen knapp für Berlin aus.
Schäuble beginnt seine Rede, indem er seine Zuhörer mit einer kurzen Anrede „Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!“ (Z.1 f.) würdigt. Seine einleitenden Worte befassen sich mit der Wiedervereinigung, die für viele, wie auch die darauffolgenden Monate, überraschend ist (vgl. Z.1-7). Die Alliteration1 „Frieden und Freiheit“ (Z.5) repräsentiert dabei das Sinnbild der Einigung. Es ruft positive Assoziationen hervor und verdeutlicht das Ende des kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts einer Ära, die durch Krieg und Unterdrückung geprägt ist. Aus diesem Grund wirkt der Anlass sehr feierlich. Anschließend bezieht sich Schäuble darauf, wie überraschend die aktuelle Debatte sei (vgl. Z.7-9). Der Konjunktiv „[d]ass wir danach so sehr über den Sitz von Parlament und Regierung würden […] ringen“ (Z.7 f.) symbolisiert die Absurdität dieser Fragestellung und zeigt, dass es doch von Anfang an klar sei und diese Debatte somit absolut obsolet ist. Diese Lächerlichkeit wird durch die Formulierung „so sehr“ (ebd.) besonders betont. Den Konjunktiv verwendet der Redner weiterhin und führt an, dass die Mehrheit mit „Selbstverändlich[keit]“ (Z.14) gesagt „hätte“ (Z.11), dass der Sitz von Parlament und Regierung in Berlin sein wird. Diese ganze Kontroverse um die Debatte wird insofern ins Lächerliche gezogen, da Schäuble anführt, die Frage um den Sitz sei sogar unverständlich (vgl. Z.13 f.). In Anbetracht dessen erscheint das Ringen um die endgültige Entscheidung schon beinahe kindisch. Daraufhin bekommt er Beifall von allen Parteien (vgl. Z.15 f.). Dennoch zeigt sich Schäuble empathisch und geht verständnisvoll und respektvoll auf die Gegenseite ein. So betont er, dass er trotz der vermeintlichen Überflüssigkeit der Debatte sie zu nachhaltigem Verständnis beider Position beigetragen habe (vgl. Z.17-20). Dies impliziert, dass auch Schäuble sich sorgfältig mit allen Positionen auseinandergesetzt hat und so zu einem evaluierten Ergebnis kommen konnte. Unterstützt wird dies durch die Verwendung des Komparativs „besser“ (Z.21). Das „besser[e]“ (ebd.) Verständnis für seine Zuhörer führt zu mehr Sympathiegewinn unter seinen Zuhörern. Er betont „ausdrücklich“, dass er für die Gegenseite „[s]einen Respekt […] bekunde[t]“ (Z.24). Die positive Konnotation3 des Nomens „Respekt“ (ebd.) weckt ein ehrwürdiges Bild Schäubles, der diplomatisch Interessen vertritt. Dieses Bild wird durch das Loben der Gegenseite als „verdienstvoll“ (Z.25) bekräftigt. Konsens sei somit unabdingbar für nachhaltige politische Entscheidungen (vgl. Z.25-32). Mit der Aussage, dass dieser Konsens noch nicht gefunden sei (vgl. Z.32 ff.) appelliert er an die Parlamentarier, vernünftig zu handeln. Alles andere hätte schlimme „Folgen“ (Z.32). Sein Sprachgebrauch ist sehr auffällig, da er viele Floskeln wie „bei allem Respekt“ (Z.25) oder „Mit allem Respekt“ (Z.46) verwendet. Dadurch drückt Schäuble seine Hochachtung vor allen Parlamentariern aus. Mit seiner Metapher4 „Für mich ist es […] nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin“ (Z.35 ff.) macht er nicht nur eine historische Andeutung auf den Ost-West-Konflikt, der in allen Formen ein Ende finden muss, sondern betont auch, dass das Wohle Deutschlands in seiner Einheit im Vordergrund stehen muss. Die Deutschen müssen ihr Schicksal überwinden und in rationaler Einheit handeln. Sein Argument, es handele sich um eine Angelegenheit auf Bundesebene, die ein besonderer Fall sei, unterstützt er mit seiner Enumeratio „[e]s geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik“ (Z.39 f.). Zuruf und Bekräftigung bekommt er durch den SPD-Abgeordneten Otto Schilly. Dies betont er damit, dass diese Angelegenheit „[j]ede[n] von uns“ (Z.47) betrifft. Er kommt zu der rhetorischen Schlussfolgerung, dass, obwohl er seinen Wohnsitz weder in Bonn noch Berlin habe (vgl. Z.47 ff.), er Berlin dennoch für den bestmöglichen Sitz hält. Die Klimax5 „weder in Bonn noch in Berlin; […] nicht in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen“ (Z.48 f.) ist ein implizierter Appell an die Länder, dass sie ihre Interessen nicht in den Vordergrund stellen sollen, sondern stattdessen im Sinne des Gesamtwohles handeln sollen. Diesen Appell weitet er mit der Klimax „nicht nur Abgeordnete seines Wahlkreises und seines Landes, sondern wir sind Abgeordnete für das gesamte deutsche Volk“ (Z.51-53) aus. (Egoistische) Einzelinteressen oder kollektive Minderheitsinteressen sollen bei der Debatte zurück geschraubt werden, denn letztlich ist es die „Verantwortung“ (Z.56) eines Jedermann im Sinne der „Einheit unseres Volkes“ (Z.58) zu handeln. Schäuble schafft eine Analoge zur Wiedervereinigung, indem er sie und das Ergebnis der Debatte als mühselig beschreibt (vgl. Z.58-61).
Schäuble sichert sich weiteren Sympathiegewinn durch das Zitieren von Meinungsbildern. So stimmt er der Ansicht, man müsse teilen, um die Teilung zu überwinden, zu (vgl. Z.62 f.). Dennoch betont er mit dem Polysyndeton „mit Steuern und Abgaben oder Tarifverhandlungen und Eingruppierungen“ (Z.65 f.), dass der Prozess viel Arbeit kostet und nicht einfach ist und demnach auch nicht mit einfachen politischen Regelungen zu erreichen sei. Stattdessen müsse man „bereit sein“ (Z.67), „gemeinsam“ und „miteinander“ zum Prozess beizutragen. Es fällt auf, dass der Redner auch in den folgenden Redeabschnitten wiederholt Begriffe wie „gegenseitig“ (Z.81, 112), „gemeinsam“ (Z.67) und „miteinander“ (Z.68) verwendet, um ein Gruppengefühl zu kreieren und zur Einheit der Deutschen mit seiner Wortwahl beiträgt. Sein erneuter Appell, es könnt nicht alles beim Alten bleiben (vgl. Z.72 ff.) demonstriert, dass die Bildung der deutschen Einheit Kompromisse erfordert. Die sich steigernde Anapher6 „[w]enn wir die Teilung überwinden wollen, wenn wir die Einheit wirklich finden wollen“ (Z.79 f.) verdeutlicht, wie wichtig das gemeinsame „Vertrauen“ (Z.80) und der Verlass (vgl. Z.82) sind. Die Verwendung des Stilmittels verdeutlicht diese Aussage sehr demonstrativ. Seine verallgemeinernde rhetorische Schlussfolgerung, dass „in 40 Jahren niemand Zweifel hatte, dass Parlament und Regierung […] wider in Berlin“ (Z.84 ff.) sein werden, ist somit sein letztes und stärkstes Argument. Es impliziert, dass die Sache schon längst entschieden gewesen ist, bevor es überhaupt zur Debatte gekommen ist und dass die Entscheidung für Berlin im Sinne der allgemein anerkannten Meinung ist. Dieses Argument stützt er mit einer historischen Begründung. So schlussfolgert er logisch, dass das Grundgesetz nur einen provisorischen Zweck hat und zur Wiedervereinigung beitragen soll (vgl. Z.89 ff.). Demnach ist auch Bonn als Hauptstadt der (alten) BRD nur von provisorischer Bedeutung. Sie muss folglich durch eine neue Hauptstadt abgelöst werden. Berlin sei dabei die einzige akzeptable Möglichkeit. Dennoch gelte das Trikolon „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat“ (Z.92) nicht nur für Bonn und somit die BRD, sondern für ganz Deutschland (vgl. Z.93 f.), das auf die Wiedervereinigung hinarbeitet. Sein erneuter historischer Verweis, den er durch eine polysyndetisch und asyndetische Enumeratio „Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ (Z.94 f.) unterstützt, zeigt, dass eben schon „immer“ (Z.96) Berlin symbolisch für diese Wert steht. Das Adverb „immer“ (ebd.) schreibt Berlin somit eine ewige Rolle als Verfechter dieser Werte zu, so dass ein Anspruch auf den Hauptstadtstatus nur legitim erscheint. Sein Argument belegt er durch diverse historische Beispiele: „von der Luftbrücke […], den Mauerbau […] bis zum 9. November 1989 und bis zum 3. Oktober im vergangenen Jahr“ (Z.99-101). Berlin sei somit besonders in den letzten Jahrzehnten immer wieder Schauplatz der Freiheit gewesen. Die Freiheit der Berliner wurde zwar immer wieder auf die Probe gestellt, dennoch haben sie keine Hoffnung verloren. Besonders der Verweis auf den mauerfall unterstreicht dieses Argument. Die Mauer verlief genau durch Berlin, so dass Berlin als einzelne Stadt Deutschland teilte. Dementsprechend ist sie der Ort der Wiedervereinigung und symbolischer Ort der deutschen Einheit. Dies weitet Schäuble noch weiter aus, indem er von der „Einigung Europas“ (Z.102) spricht. Berlin ist die Nahtstelle dieser Einigung, da Berlin eben Grenze zwischen dem Westen und dem Ostblock sei. Dieses historische Argument legitimiert Berlins wichtigen und symbolhaften Charakter für Deutschland und Europa. Dieses Argument dient als „Totschlagargument“ und soll nun endgültig seine Zuhörer, die er bisher noch nicht überzeugen konnte, überzeugen. Sein Argument ist so stark, so dass er keine Gegenargumente aufführt, weshalb Bonn Hauptstadt sein solle. Dies impliziert, dass es Bonn an vergleichbaren Beispielen fehle, wodurch der Anspruch Bonns nicht legitim sei. Er unterstreicht sein Argument mit der rhetorischen Frage „ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären“ (Z.107 f.). Berlin sei demnach Grund für die Wiedervereinigung, so dass es mehr als legitim sei, diesen Erfolg als Hauptstadt zu repräsentieren. Obwohl die Beantwortung dieser rhetorischen Frage überflüssig erscheinen mag, so beantwortet der Redner sie mit den Worten „Ich glaube nicht“ (Z.108), um endgültige Zweifel zu beseitigen. Schlussfolgernd kann nur durch Berlin die deutsche Einheit errungen werden. Deutsche Einheit und europäische Einheit „bedingen sich selbst“ (Z.111 f.). Die deutsche Wiedervereinigung sei somit viel größer und wichtiger als angenommen, weil sie nicht nur ein einzelnes Volk, sondern einen gesamten Kontinent betrifft. Die Alliteration „europäische Einheit“ (Z.111) unterstreicht diese Verantwortung. Das Schicksal Deutschlands und Europas sei so delikat abzuwägen. Der Parallelismus „das haben wir immer gesagt und das hat sich immer bewahrheitet“ (Z.112 f.) zeigt, dass weitere Beweise gar nicht mehr notwendig sind, da die Erfahrung allein schon als Beweis dient und ausreichend ist. Es handelt sich somit um einen induktiven Beweis. Erneut schafft der Redner ein Gemeinschaftsgefühl, indem er betont, dass Europa mehr als Westeuropa sei (vgl. Z.114 f.). Diese Antiklimax betont, dass die Zeiten des Ost-West-Konflikts endgültig vorbei sind. Schäuble impliziert, dass die Integration des östlichen Europas und somit der ehemaligen DDR und den damit einhergehenden neuen Bundesländern höchste Priorität hat. Dies stärkt seine Person als Autorität, da er auch an benachteiligte Gebiete denkt und im Sinne der Progression handelt. Die europäische Gemeinschaft begründet er auch in der geographischen Nähe. Der Redner spricht von seiner Heimat in der Nähe von Straßburg (vgl. Z.114 f.). Sein Argument fasst er damit zusammen, dass Deutschland seine Einheit durch die Überwindung der europäischen Teilung gewonnen hat und dass die Entscheidung für Berlin eine Entscheidung im Sinne Europas sei (vgl. Z.118-121).
Seinen Schluss bildet eine direkte Ansprache an sein Publikum (vgl. Z.125). Mit der Formulierung „Ich sage noch einmal“ (ebd.) verleiht er seinem Appell, es gehe nicht um Bonn oder Berlin, sondern um „unsere Zukunft“ (Z.127), besonders Nachdruck. Besonders der letzte Abschnitt zeigt gehäufte Pronomen (vgl. Z.127-129), die betonen sollen, dass die Entscheidung weitreichende Folgen hat und jeden trifft. Es zeigt aber auch, dass individuelle Bedürfnisse berücksichtigt werden und im Sinne der Gemeinschaft gehandelt wird. Die Größe der Entscheidung illustriert die parallelistische Klimax „es geht […] um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss“ (Z.127-130). Dies impliziert, dass die deutsche Einheit durch Berlin gefunden werden und dass erst dann europäische Einheit verwirklicht werden kann. Erst durch deutsche Einheit kann europäische Einheit entstehen. Deutschland hält somit Europas Schicksal in den Händen. Diese enorme Verantwortung unterstreicht die Repetitio7 „um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft2 (Z.127). Eine glorreiche Zukunft stünde nur mit Berlin als Hauptstadt bevor. Ansonsten könne man den zuvor beschriebenen Werten nicht gerecht werden (vgl. Z.132). Diese Verantwortung fasst Schäuble im Trikolon „Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ (Z.131 f.) zusammen. Das Trikolon dient als mögliche Prognose für ein progressives Deutschland und Europa. Die Rede endet mit der direkten Ansprache und dem Appell „Deswegen bitte ich Sie herzlich: Stimmen sie mit mir für Berlin“ (Z.133 f.), um die Zuhörer zu einer Abstimmung für Berlin zu bewegen.
Die Syntax ist überwiegend hypotaktisch, dennoch leicht zu verfolgen, da sie viele Konnektoren aufweist. Schäuble macht viele Einschübe, wie beispielsweise in Zeile 26: „wenn sich viele –ich auch- bemüht haben“, um seinen Standpunkt eindrucksvoll zu untermauern. Bei entscheidenden und wichtigen Punkten, wechselt der Redner in einen parataktischen Satzbau, was in Zeile 42/43 zu sehen ist: „ […] in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.“
Es lässt sich festhalten, dass Schäuble viele historische Verweise benutzt, um seine Argumente durch Belege zu stützen und ihnen Authentizität zu verleihen. Die Verwendung von Pronomen schafft ein Gemeinschaftsgefühl und bezieht seine Zuhörer mit ein. Außerdem zeigt er sich der Gegenposition gegenüber empathisch, was seiner Argumentation mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Die leicht verständliche Sprache und die stringente Syntax ermöglichen ein leichtes Zuhören. Der Redner benutzt eine Vielzahl an Stilmitteln, die seine Argumente entscheiden unterstützen, betonen und finalen Ausdruck verleihen. Schäuble betont mehrfach, wie wichtig die Entscheidung sei – auch für ganz Europa -, weshalb die Entscheidung sorgfältig abgewogen werden sollte. Indirekt erscheint er als Redner mit seiner Position glaubwürdig und seine Argumentation gut durchdacht. Dies dient dazu, seine Intention, sein Publikum zu bewegen, zu verwirklichen.
Aufgabe 2 – Vergleich zu weiteren Reden des 20. Jhd.
Schäubles Rede stellt einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte dar. Dennoch lässt sich die Rede anlässlich der Wiedervereinigung mit weiteren Reden des 20. Jahrhunderts, besonders Reden aus der Zeit des Ost-West-Konflikts, vergleichen.
Wie bereits erwähnt macht Schäuble etliche historische Verweise. So bezieht er sich auf den Berliner Mauerbau und die Berliner Luftbrücke. Es lassen sich Verknüpfungen mit Kennedys Rede „Ich bin ein Berliner“, in der er die Berliner Luftbrücke thematisiert, herstellen. Kennedy spricht von Berlin als „Insel der Freiheit“, ein Element, das auch Schäuble sich zu Nutze macht. Schäuble stellt dar, dass Berlin schon immer Symbol für Einheit, Freiheit und Demokratie gewesen ist. Kennedy verwendet nicht nur das Symbol der Freiheit, sondern auch das der Einheit und betont, dass die Berliner trotz der Schwierigkeiten (Unterteilung in Besatzungszonen, Luftbrücke usw.) ihre Einheit nicht aufgegeben haben. Aus Sicht Kennedys steht gerade West-Berlin als Zeichen der Demokratie. Diese auffällige Symbolik findet sich demnach nicht nur in Schäubles Rede wieder, sondern in vielen anderen des 20. Jahrhunderts, wie z. B. in Kennedys berühmter Rede.
Schäubles inhaltliche Themenbereiche betreffen die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und finden sich somit auch in anderen Reden wieder. Dominantes Beispiel hierfür ist der Mauerbau der in vielen Reden thematisiert worden ist. Es lassen sich Bezüge zu Walther Ulbrichts Rede anlässlich des bevorstehenden Mauerbaus herleiten. Aus seinem berühmten Satz „Keiner hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ erfolgte eine Zeit der starken Zersplitterung, die sich selbst drei Jahrzehnte später in Reden wie von Schäuble wiederfinden lässt.
Solidarität war das dominante Merkmal der Reden des 20. Jahrhunderts. Sowohl Schäuble als auch Kennedy und Ulbricht instrumentalisieren sie. Kennedy bekennt sich selbst als Amerikaner zu Berlin („Ich bin ein Berliner“) und sichert Deutschland die westliche Hilfe zu. Ulbricht gibt sich als hilfsbereit und bietet Westdeutschen Schutz und Platz in der DDR, indem er seine Adressaten auffordert, westdeutsche Bekannte und Verwandte in die DDR kommen zu lassen. Schäuble vereint beide Gesichtspunkte der Solidarität – sowohl östlich als auch westlich – zu einer einheitlichen Solidarität, die ganz Europa vereinen wird und so Frieden und Freiheit sichert.
Der Ost-West-Konflikt bestimmte nicht nur die Reden fast 40 Jahre lang, sondern findet selbst bei Schäuble noch Anklang. Er polarisiert nicht wie Redner zuvor und schafft ein Freund-Feind-Bild, sondern vereint das zersplitterte Europa zu einem Gesamteuropa („Aber Europa ist mehr als Westeuropa.“).
Es finden sich, abgesehen von den zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen, auch sprachliche Gemeinsamkeiten wieder.
Besonders auffällig ist, dass Schäuble einen starken Wir-Bezug schafft, beispielsweise durch die Verwendung vieler Pronomen. So vermittelt er das Bild „Wir gemeinsam für ein Europa“. Diese sprachliche Auffälligkeit findet sich in fast jeder Rede wieder. Kennedy plädiert für ein gemeinsames, sicheres Westeuropa; Ulbricht steht für ein gemeinsames sicheres Osteuropa. In allen drei Fällen wird für eine gemeinsame Sache, ein gemeinsames Ziel gekämpft.
Der starke Einbezug von Pronomina dient als Appell an den emotionalen Verstand des Zuhörers, im Sinne des Redners zu handeln. Demnach ist das Kollektiv, an das die Reden adressiert sind und an die sich die Appelle richten, verantwortlich für das Schicksal und die Zukunft. Schäuble betont die Wichtigkeit des Entscheids für Gesamtdeutschland und –europa. Diese Verantwortung der Adressaten findet man in vielen politischen Reden aus der NS-Zeit wieder. In Hitlers Rede an die Jugend wird die Verantwortung für eine glorreiche Zukunft Deutschlands auf die Jugend übertragen. Goebbels macht in seiner Propagandarede des totalen Kriegs den Kriegsgewinn von der Bereitschaft des deutschen Volkes abhängig. Dies schiebt nicht nur die Verantwortung vom Redner zum Adressaten, sondern ist auch ein psychologisches Mittel, um die Adressaten zu motivieren und die Absicht des Bewegens zu vollfüllen.
Schäuble untermauert – wie bereits erwähnt – seine Argumentation durch historische Verweise und Beispiele. Sie sollen als Beleg für die Argumente sein, z. B. dass aufgrund der Historie Berlin legitime Hauptstadt sei. Diese Methode ist während des 20. Jahrhunderts altbewährt. Kommunistische Politiker vergleichen zeitgenössische Politiker mit NS-Figuren wie Hitler oder Goebbels im Zeichen der Anti-Kapitalismus Kampagne. Des Weiteren befinden sich z. B. in kommunistischen Reden Verweise und Parallelen zum Attentat von Sarajevo 1914 oder Imperialismus9, wenn vom Kapitalismus die Rede ist.
Besonders auffällig und markant bleiben jedoch die Verweise zu Berlin. Berlin ist Schauplatz bekannter Reden (z. B. Kennedys „Ich bin ein Berliner“ vor dem Rathaus Schöneberg).
Auffällig ist, dass Schäuble z. B. von einer Teilung Europas in Berlin spricht. Er bezieht sich klar auf die Mauer, welche die BRD und die DDR und somit Ost- und Westeuropa teilt. Diese Separation geht auch mit unterschiedlichen, unvereinbaren Ideologien einher. Westliche Reden sprechen von westlicher Freiheit und Demokratie und bezeichnen Russland – stellvertretend für die UdSSR – als hungrigen Bären. Im Gegensatz dazu wird in kommunistischen Reden der Westen als böse und schlecht dargestellt. Schauplatz dieser Konfrontation ist immer wieder Berlin. Berlin symbolisiert die Nahtstelle dieser ideologischen Konfrontation. Kennedy spricht von Berlin als Paradebeispiel für die Freiheit der Menschen. Jeder, der davon nicht überzeugt sei, solle sich vom Gegenteil überzeugen lassen und nach Berlin kommen („Lasst sie nach Berlin kommen!“). Schäuble nimmt klar Stellung zu dieser Position, indem er die Meinung vertritt, nirgendwo sonst sei die Solidarität der freien Welt mit der Einheit und Freiheit der Deutschen so stark wie in Berlin. Dabei steht Berlin nicht alleine für diesen idealen Zustand, sondern verkörpert dabei das freiheitliche Deutschland.
Es lässt sich festhalten, dass viele Bezüge bestehen. Dabei tritt Berlin als Nahtstelle des Konflikts Ost-West und der Teilung immer wieder in den Vordergrund und muss an dieser Stelle bewältigt werden. Berlin steht symbolisch für eine freie, progressive Welt, in der Frieden, Freiheit und Demokratie –unabhängig von Position, d. h. sowohl aus westlicher, östlicher und ganz einheitlich europäische Sicht- herrschen. Berlin ist somit Ort der Überwindung von Schrecken.