Klausur:
Rede Wolfgang Schäubles zum Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin (1991)
Aufgaben:
1. Analysiere die Rede Schäubles. Gehe dabei besonders auf die argumentative und sprachliche Gestaltung der Rede ein.
2. Erörtere die Notwendigkeit der besonderen rhetorischen und sprachlichen Gestaltung von Reden vor dem Hintergrund deiner Ergebnisse der Aufgabe 1 und deiner persönlichen Erfahrungen.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation der Rede
Aufgabe 1: Analysiere die Rede Schäubles unter argumentativen und sprachlichen Gesichtspunkten
Die „Rede vom Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin“ ist am 20. Juni 1991 von Wolfgang Schäuble vor den Abgeordneten des Bundestages gehalten worden. Nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 haben über 100 Redner darüber debattiert, ob der Bundestag aus der provisorischen Hauptstadt Bonn der BRD wieder nach Berlin zurückziehen soll. Die Abgeordneten sind bei der Abstimmung nicht an ihre Parteien gebunden gewesen, sondern konnten frei abstimmen. Letztendlich entschied man sich mit knapper Mehrheit für Berlin als zukünftige deutsche Hauptstadt. Im Folgenden wird die Rede Wolfgang Schäubles mit besonderem Bezug auf die argumentative und sprachliche Gestaltung analysiert.
Schäubles Hauptthese ist, dass Berlin für die deutsche und europäische Einheit stehe und deshalb die Hauptstadt werden solle. Diese Entscheidung beeinflusse die Zukunft des Landes maßgeblich. Deswegen sei die Debatte um den Umzug des Regierungssitzes umso wichtiger. Um diese gemeinsame Einheit zu erreichen, müsse jeder bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und bei wichtigen Entscheidungen zusammenzuhalten. Schäubles Ansicht ist es also, möglichst viele Abgeordnete davon zu überzeugen, für Berlin als Hauptstadt zu stimmen. Er möchte aber nicht nur ihre Stimme gewinnen, sondern auch die Tragweite dieser Entscheidung betonen und erklären.
Zu Anfang seiner Rede unterstreicht Schäuble seine Überraschung über die schnelle und plötzliche Wiedervereinigung Deutschlands und über die Debatte um den Regierungssitz (vgl. Z. 1-9), da seiner Meinung nach Berlin in den vergangenen Jahren immer schon als Hauptstadt feststehe (vgl. Z. 10-14). Die Antwort auf die Frage nach dem Ort des Regierungssitzes sei „selbstverständlich in Berlin“ (Z. 14) gewesen. Trotzdem betont er die Notwendigkeit dieser Debatte, um die gegenseitige Meinung verstehen zu können und äußert Verständnis und Respekt gegenüber den Befürwortern für Bonn als Hauptstadt (vgl. Z. 17-24). Mit dieser Aussage zeigt sich Schäuble, bevor er seine eigentliche Argumentation beginnt, diplomatisch und loyal, wodurch er seine Gegner beschwichtigt. Jedoch stellt er auch fest, dass noch keine Entscheidung getroffen, dies nun aber notwendig sei (vgl. Z. 31-34).
Für Schäuble sei die Entscheidung nicht hauptsächlich wichtig für die Politik, sondern für die Zukunft Deutschlands (vgl. Z. 39-44). Mit einem Argumentum ad populum, versucht er bei den Zuhörern Emotionen und Verständnis zu wecken. Er selbst habe eine objektive Meinung, schließlich wohne er „ja weder in Bonn noch in Berlin“ (Z. 47-48). Jeder Abgeordnete trage Verantwortung für alle deutschen Bürger und müsse seine Entscheidung für Berlin oder Bonn demnach verantwortungsreich treffen (vgl. Z. 56-57). Durch diese Aussage baut Schäuble großen Druck auf, für die „richtige“ Stadt zu stimmen. Um die vollkommene Einheit Deutschlands erreichen zu können, sei viel Anstrengung nötig. Außerdem betont Schäuble den notwendigen Zusammenhalt der Abgeordneten. Die Veränderungen würden jeden betreffen (vgl. Z. 64-69) und müssten in allen Bundesländern vollzogen werden (vgl. Z. 72-76). Dadurch stellt er alle Regionen auf eine Ebene, verdeutlicht die Einheit Deutschlands und nimmt eine relativ neutrale Stellung ein, da er niemanden bevorzugt oder außen vor lässt. Somit versucht er schon im Voraus seine Gegner zu beschwichtigen. Der Redner folgert aus all seinen zuvor aufgestellten Folgerungen an die Regierung, dass Berlin der richtige Standort für den Bundestag sei (vgl. Z. 82-86). Er betont, dass man in den letzten 40 Jahren immer darauf vertraut habe, dass Berlin wieder Regierungssitz wird (vgl. Z. 82-86). Zudem stehe Berlin nicht nur für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie es Bonn tun würde, sondern auch für die Einheit Deutschlands (vgl. Z. 89-96).Dies ist ein normatives Argument, da sich Schäuble auf gemeinsame gesellschaftliche Werte und Normen bezieht, die es zu erreichen gilt. Diese Werte seien von Berlin schon immer verkörpert worden, von der Luftbrücke 1953 bis zu 3. Oktober 1990 (vgl. Z. 99-101). Schäuble erstellt also eine Analogie zu vergangenen Ereignissen, um seine Behauptung zu unterstützen. Ohne Berlin als Symbol der gemeinsamen Werte und Normen wäre einer Wiedervereinigung also, so Schäuble, nicht möglich gewesen (vgl. Z. 101-104). Zudem sei die deutsche Einheit auch wichtig für Europa: „Das habe man immer gesagt und das habe sich bewahrheitet“ (Z. 111-112). Dies ist ebenfalls ein normatives Argument, da Schäuble von angeblich gemeinsamen Normen ausgeht und diese nicht hinterfragt. So stehe Berlin für ganz Europa (vgl. Z. 120-122). Abschließend wiederholt Schäuble seine Hauptthese bzw. fasst diese noch einmal zusammen. Es gehe um die Zukunft Berlins und Europas, sodass diese Entscheidung weitreichende Folgen habe. Deswegen sei Berlin als Regierungssitz die richtige Entscheidung. Er fordert noch einmal auf für Berlin zu stimmen.
Der Redner argumentiert somit linear, da die Argumente aufeinander aufbauen, und deduktiv, da er seine These zu Anfang direkt nennt, diese dann durch Argumente stützt und sie am Schluss noch einmal zusammenfasst. Somit folgt er einer eindeutigen argumentativen Struktur.
Die sprachliche und rhetorische Gestaltung der Rede ist nicht sehr auffällig, aber trotzdem wirksam. Schäuble verwendet häufig das Personalpronomen1 „wir“, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Zudem spricht er von sich selbst als Teil dieser Gruppe (vgl. Z. 20-24), damit sich die Zuhörer mit ihm identifizieren. Dies geschieht auch durch seinen Ausdruck „jeder von uns“ (Z. 47, 56). So behauptet er , dass seine Entscheidung die richtige für alle sei. Außerdem betont er, dass nur Berlin Einheit, Frieden und Freiheit verkörpern würde, ohne dafür jedoch Argumente mit viel Aussagekraft zu verwenden. Er bezieht sich auf normative Argumente und mehrer Argumenti ad populi, wodurch er eher versucht zu überreden als zu überzeugen. Dies wird auch deutlich, da eines von Schäubles Hauptargumenten ist, dass es „schon immer Berlin“ (Z. 96) gewesen sei und man dies deswegen nicht verändern solle. Fakten oder konkrete Tatsachen nennt er nicht. Trotzdem gelingt es Schäuble, die Abgeordneten der Parteien von seiner Meinung zu überzeugen. So erntet er zustimmende Zurufe der FDP und SPD (vgl. Z. 38, 42) und immer wieder Beifall. Dies gelingt ihm aufgrund seiner, den Gegner respektierenden Art (vgl. Z. 17-24) und seine kurzen, prägnanten Sätzen, sowie eindeutiger Aussagen. So sei die Zukunft Deutschlands „die entscheidende Frage“ (Z. 44) und die Einheit „koste noch viel Mühe“ (Z. 61). Auch die Häufige Wiederholung des Wortes „Einheit“ zeigt Schäubles eindeutige Position, welche der Zuhörer gut verstehen kann. Er gibt eindeutige Ziele vor, die es zu erreichen gilt.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Schäuble versucht, die Abgeordneten davon zu überzeugen, für Berlin als Hauptstadt zu stimmen, indem er durch seine Argumente Druck aufbaut, da er deren Verantwortung gegenüber dem eigenen Land betont. Außerdem erzeugt er durch seine sprachliche Gestaltung ein Gemeinschaftsgefühl und kann somit aufgrund der mitreißenden Stimmung im Saal, dem Massenphänomen, viele Abgeordnete überzeugen und bekommt viel Beifall. Obwohl Schäubles Argumente an sich wenig Aussagekraft haben, schafft er es, dass seine Rede wegen der einfachen und direkten sprachlichen Gestaltung und seiner ansprechenden Selbstdarstellung auf Zustimmung trifft. Schäubles Rede könnte also ein entscheidender Faktor für die knappe Entscheidung für den Umzug des Bundestages nach Berlin gewesen sein. Ohne seine erfolgreiche Rede wäre die Abstimmung vielleicht anders ausgefallen und die heutige Hauptstadt wäre Bonn. Somit hat Schäubles Rede großen Einfluss auf unsere heutige Gegenwart.
Aufgabe 2: Erörtere die Notwendigkeit der besonderen rhetorischen und sprachlichen Gestaltung von Reden vor dem Hintergrund deiner Ergebnisse der Aufgabe 1 und deiner persönlichen Erfahrungen.
Dass die rhetorische und sprachliche Gestaltung einer Rede manchmal notwendig ist, um die Zuhörer überzeugen zu können, lässt sich am Beispiel der „Rede zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin“ von Wolfgang Schäuble sehen. Schäuble kann selbst kaum Fakten und Tatsachen begründen, warum Berlin wieder die Hauptstadt seien soll. Trotzdem gelingt es ihm, langanhaltenden Beifall zu ernten und sogar Willy Brandt gratuliert ihm persönlich zu seinem Erfolg. Aber ist die besondere rhetorische und sprachliche Gestaltung wirklich immer notwendig?
Eine gute Rede, so könne man argumentieren, solle nicht durch die Sprache überzeugen, sondern durch Fakten und Tatsachen. Der Redner solle Argumente finden, die schwer zu widerlegen sind und Daten aufzeigen, gegen die niemand Einwand erheben kann. Nur so bleibt er sachlich und kann die meisten Menschen überzeugen, da er seine Persönlichkeit nicht mit in die Rede einbezieht. Besonders bei formellen Reden, wie in der Wirtschaft, scheint dies wichtig zu sein. Schließlich braucht der Redner dort meist niemanden zu überreden, die Zahlen für zum Beispiel den Verkauf eines bestimmten Produkts sprechen für sich. Seine Intention hierbei ist es also, Sachverhalte darzustellen.
Wie sieht die Situation aber aus, wenn man genau das Ziel hat, eine Mehrheit zu gewinnen, wie beispielsweise in der Politik? Würde man es dann schaffen, ganz ohne rhetorische und sprachliche Gestaltung einer Rede seine Intention erreichen zu können?
Meistens nein. Denn, wenn es genau die eigene Absicht ist, andere Leute von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen, reichen gute Argumente oft nicht aus. Besonders wichtig ist die sprachliche Gestaltung ja genau dann, wenn es auch für die Gegenseite genau so gute und feststehende Argumente und Tatsachen gibt, oder wenn die Argumente allgemein eher wenige sind. Genau das ist bei Schäubles Rede der Fall. Für den Umzug der Regierung nach Berlin gibt es kaum überzeugende Argumente. Aber durch seine sprachliche Gestaltung erzeugt Schäuble ein Wir-Gefühl, er betont den Zusammenhalt und kann somit die Masse überzeugen. Auch wenn er nicht viele rhetorische Mittel verwendet, verdeutlicht er mit seiner Sprache eine eindeutige Botschaft: Die Zukunft soll in Berlin stattfinden. Wenige, einprägende sprachliche Mittel führen also auch zum Ziel. Die Motivation der Masse kann dadurch schon erreicht werden. Zudem stellt man bei Reden nicht nur seine Meinung, sondern auch seine Persönlichkeit dar. Die sprachliche Gestaltung hat auch auf die Selbstdarstellung großen Einfluss. So betont Schäuble beispielsweise seinen ´Respekt gegenüber allen Abgeordneten und sieht sich selbst als Teil der Gemeinschaft.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Notwendigkeit der rhetorischen und sprachlichen Gestaltung von Reden von der Intention des Redners abhängt. Da er meist von seiner Meinung überzeugen möchte und dies auch durch Argumente allein oft schwierig ist, ist es oft notwendig, sprachliche und rhetorische Mittel in die Rede einzubauen. Das heißt nicht, dass eine Rede von solchen Mitteln überladen sein muss. Oft reichen einigen von ihnen aus, um die Masse zu begeistern. Auch formelle Reden, bei denen Fakten von sich aus überzeugen könnten, können durch sprachliche und rhetorische Mittel noch mehr Zuhörer überzeugt werden. Rhetorische und sprachliche Mittel sind also immer sinnvoll und auch oft notwendig.
Dieses Thema ist eigentlich zu jedem Zeitpunkt sehr aktuell. Schließlich ist der einfache Bürger derjenige, der beeinflusst wird. Parteien versuchen durch Reden neue Anhänger zu gewinnen oder Unternehmen, ihr Produkt zu verkaufen. Auch geschichtliche Ereignisse zeigen, wie stark Redner durch die sprachliche Gestaltung ihrer Reden Anhänger finden und Macht gewinnen. So hat es beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus oft Parteifeste gegeben, an denen Reden gehalten, die von den Mitgliedern jubelnd angenommen worden sind und die den Gemeinschaftssinn gestärkt haben. Ohne diese Reden hätte der Nationalsozialismus vielleicht gar nicht so viele Befürworter gehabt und die deutsche Geschichte wäre anders verlaufen.