Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Ballade vom preußischen Ikarus ist ein Musikstück und Gedicht, welches 1976 von dem ostdeutschen Liedermacher und Musiker Wolf Biermann verfasst wurde. Sowie in vielen seiner Werke wird hier hauptsächlich die Ost-West Situation thematisiert. In dem folgenden Text werde ich versuchen, die verwendeten Stilmittel und Reimschemata zu analysieren, das Gesamtwerk im Detail zu interpretieren und die Intention des Verfassers deutlich zu machen.
Das vorliegende Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils zwölf Versen. Jede dieser Strophen besteht aus zwei Teilen, dem Vers und dem Refrain, der bis zur letzten Strophe unverändert bleibt. Es ist klar in abwechselnde Paar- und umarmende Reime aufgeteilt; das Versmaß, im Gegensatz dazu, welches sich schnell als vierhebiger Jambus herausstellt, wird jedoch nicht ganz so streng eingehalten. So finden sich in der ersten Strophe z. B. auch dreihebige Jamben und ein fünfhebiger Trochäus. Über das gesamte Gedicht finden sich viele Zeilensprünge, auch die Interpunktion fehlt des Öfteren. Da es in dem gesamten Gedicht grob betrachtet um einen Adler aus Eisen geht, ist es nicht weiter verwunderlich, dass in dem Gedicht eine Vielzahl von Personifikationen1 zu finden ist – „da hängt über der Spree / die Weidendammer Brücke“, und „dem [Ikarus] tun seine Arme so weh“, sind zwei davon. Das lyrische Ich verwendet über das gesamte Gedicht eine bildliche und ausformulierte Sprache; es lassen sich jedoch keine Inversionen2 finden, da eine Umgangssprache verwendet wird.
Am Anfang der dritten Strophe wendet sich das lyrische Ich durch die Verwendung der zweiten Person sogar direkt an den Leser. Das Gedicht weist außerdem Spuren von Euphemismus3 auf, zum Beispiel in Vers 26-27: „Ich hab schon viele abhaun‘ sehn‘ / aus unserm halben Land“. Das gesamte Gedicht hat einen hypotaktischen Satzbau, nicht ein einziger Satz passt in einen einzigen Vers. Zudem lassen sich einige Ellipsen4 finden, die Teil der erwähnten Umgangssprache sind, wie zum Beispiel in Vers 26: „schon viele abhaun‘ sehn“. Hier werden die Wörter kurzgefasst, um dem Versmaß zu entsprechen.
Bei der Analyse dieses Gedichtes wird sofort klar, dass der Autor einen starken persönlichen Bezug zu dem behandelten Thema hat – auch wenn es nicht eindeutig erwähnt wird, so ist dieses Werk eine Erzählung über seine Gefühle und Erfahrungen mit der DDR und gleichzeitig eine Botschaft an jene, die erwogen, aus dem „halben Land“ zu fliehen und jene, die es taten. Parallelen zu seinem zeitlichen und politischen Umfeld finden sich auch an vielen anderen Stellen – so beschreibt er zum Beispiel sein Land als „ein Inselland / umbrandet von bleiernen Wellen“ (Vers 17-18), womit selbstverständlich die Mauer gemeint ist, die bis 1989 die Einwohner Ostdeutschlands vom Auswandern abhielt. Auch der Autor schien, wie viele andere zu seiner Zeit, mit dem Fluchtgedanken zu spielen. Bereits in der ersten Strophe deutet das lyrische Ich an, dass es sich mit dem preußischen Adler, welcher im Gedicht durch den Refrain allgegenwärtig ist, identifiziert – „kannst du da Preußens Adler sehen/wenn ich da am Geländer steh“ (Vers 5). Dies wird in der letzten Strophe im leicht veränderten Refrain endgültig deutlich. Er nennt ‚preußischen Adler‘, welcher auch heute noch auf der Weidendammer Brücke in Ost-Berlin zu sehen ist, auch den „preußischen Ikarus“ und bringt damit etwas Klarheit in die Metapher5. Meiner Ansicht nach benutzt er diesen Vergleich, um auf sehr tiefgründiger Ebene auf den Ikarus aus der Mythologie anzuspielen. Dieser nämlich wurde – zusammen mit seinem Vater Dädalus – als Strafe vom König Minos in einem Labyrinth festgehalten, das er mithilfe von riesigen Flügeln, die aus Wachs-Federn bestanden, verließ. Schon an diesem Punkt ist die Parallele zu der Situation des Autors in Ost-Berlin klar zu erkennen, doch die eigentliche Botschaft und meiner Meinung nach der Schlüssel zur Interpretation dieses Werkes liegen in den folgenden Versen, die sich aus der übersetzten Erzählung der Legende von Dädalus und Ikarus zitieren werde und die ich in ähnlicher Weise in dem Refrain der dritten Strophe des thematisierten Gedichts finden lassen: „Schließlich starteten sie, und als sie eine Weile geflogen waren, gefiel Ikarus das Fliegen so sehr, dass er zu hoch hinausflog. […] Das Wachs schmolz, die Flügel lösten sich auf, er stürzte ab.“
Dies lässt sich zwar (und ist auch) als Warnung zu verstehen, gerichtet an alle, die so wie das lyrische Ich empfinden, jedoch sagt es auch aus, dass der Autor selbst machtlos ist, wenn ihn „dieser verhasste Vogel krallt“ (Vers 29), um ihn `über den Rand zu zerren‘ – selbst wenn er weiß, dass er abstürzen wird. Dieses Werk ist sehr ausdrucksstark und erfüllt den Zweck, für den es meiner Ansicht nach bestimmt ist mit Brillanz – soweit ich, der ich diese Zeit nicht miterlebte, dies zu beurteilen vermag.
Wenn man den historischen Hintergrund mit in Betracht zieht, könnte man zudem meinen, dass der Autor Wolf Biermann eine Vorahnung von seiner bevorstehenden Ausbürgerung hatte, die noch im selben Jahr der Publikation dieses Werkes stattfand und, wie manche sagen, den Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik einläutete.
Quelle der aus der griechischen Sage zitierten Passagen: www.grg21.ac.at/data/tva/daeda.doc (Link nicht mehr gültig!)