Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Wenn nicht Zahlen und Figuren“ von Georg Friedrich von Hardenberg aus dem Jahr 1800. Von Hardenberg verfasste dieses Gedicht unter dem Pseudonym „Novalis“ zur Zeit der Frühromantik.
Das Gedicht besteht aus einer Strophe mit zwölf Versen. Es lässt sich ein vierhebiger Jambus und ein durchgängig verwendeter Paarreim erkennen. Auffällig bei diesem Gedicht ist, dass es aus einem einzigen Satz, genauer aus einem konditionalen Satzgefüge, besteht. Hierbei bilden die ersten zehn Verse die Bedingung und lediglich die letzten Beiden Verse die Konsequenz.
Direkt zu Anfang seines Gedichtes findet sich ein Bezug zur Aufklärung: „Wenn nicht Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen“ (V. 1 – 2). In diesen Versen kritisiert Novalis das Weltbild der Aufklärung, in dem Rationalität und Wissenschaft („Zahlen und Figuren“) alleinige Wege zum Inneren der Menschen bilden. Mit dem „Wenn nicht“ wird die Sehnsucht ausgedrückt, dieser Welt entfliehen zu können.
Diese Frage nach einer Welt, in der nicht allein Rationalität im Vordergrund steht, wird in folgenden Versen weitergeführt: „Wenn die, so singen und küssen,/ Mehr als Tiefgelehrte wissen“ (V. 3 – 4). Die, die „singen und küssen“ sind an dieser Stelle jene Künstler, Dichter und Liebende, für die irrationale Werte und Emotionalität eine weit wichtigere Rolle spielen, da sie daraus Lebens- und Schöpferkraft beziehen. Novalis malt sich hier ein Bild von einer Welt aus, in der diese Künstler den „Tiefgelehrten“, also den Wissenschaftlern, an Weisheit voraus sind. Mit dem „mehr wissen“ ist an dieser Stelle nicht das praktische Wissen gemeint, vielmehr geh es um eine Akzeptanz, auch der irrationalen Kräfte im Menschen. Die folgenden Verse machen die Sehnsucht nach einer solchen Veränderung nachmals deutlich: „Wenn sich die Welt ins freie Leben/ Und in die Welt wird zurückgeben“ (V. 5 – 6). An diesen Versen wird klar, dass Novalis die herrschenden Zustände als Zwang und Einschränkung sieht. Um „ins freie Leben“ gelangen zu können, also einen natürlichen und ursprünglichen Zustand des Lebens erreichen zu können, wünscht Novalis den Abwurf aller durch die Gesellschaft festgelegten Normen. Die Formulierung „in die Welt wird zurückgegeben“ macht deutlich, dass der Autor die Zustände als durchaus veränderbar ansieht, doch das „wenn“ drückt noch immer eine Vorstellung und nicht die Realität aus. Novalis zeigt mit den folgenden Versen auf, dass eine solche Veränderung nötig ist, um ein Gleichgewicht herzustellen: „Wenn dann sich wieder Licht und Schatten/ Zu echter Klarheit werden gatten“ (V. 7 – 8). Hier wird ausgedrückt, dass Licht und Schatten zusammengehören und einander trotz des großen Unterschieds bedingen wie Tag und Nacht. Das „wenn dann“ zeigt, dass dies in einer veränderten Welt, wie sie vorher beschrieben wurde, der Fall sein sollte, dem Ist – Zustand jedoch nicht entspricht.
Dies betont nochmals den Unterschied zwischen den herrschenden und den vom Autoren ersehnten Zuständen. Dort erkennt „[…] man in Märchen und Gedichten/ […] die ew’gen Weltgeschichten“ (V. 9 – 10). Novalis hebt an dieser Stelle die Wichtigkeit und Ausdruckskraft der Lyrik und Epik heraus und eschreibt diese als Ort ewiger Wahrheiten. Hiermit stellt er diese als Weg zur Erleuchtung dar und betont somit den Stellenwert, dem sie einnehmen sollten. Dies legt den Verdacht nahe, dass sich diese Künste momentan nur schwer als ernstzunehmende durchsetzen können und nicht als die tiefgreifenden Werke gesehen werden, die sie eigentlich darstellen. In Bezug zu vorangegangenen Versen wird nochmals deutlich, dass Novalis die Menschen, die mit der irrationalen Seite ihres Wesens arbeiten, in der Gesellschaft mehr angesehen sehen und so dem strengen Rationalismus entgegensetzen möchte.
In den letzten beiden Versen erst wird klar, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn die vorangegangenen Bedingungen erfüllt sind: „Dann fliegt vor einem geheimen Wort/ Das ganze verkehrte Wesen fort“ (V. 11 – 12). Obwohl nicht ausdrücklich erläutert wird, um welches Wort es sich handelt, ist schnell klar, dass hiermit die Werke der Künstler gemeint sind, welche endlich an Bedeutung gewinnen. Das „verkehrte Wesen“ der Welt, also entfremdete Verhältnisse der Gesellschaft weichen einer Befreiung des Daseins aus Zwängen und einem Zeitgeist strikter Verstandes- und Gesellschaftsnormen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass in Georg Friedrich von Hardenbergs Gedicht die Sehnsucht nach einem Wandel des allgemeinen Denkens und Wahrnehmens ausgedrückt wird, um von dem kalten Rationalismus zu einem harmonischeren und freieren Dasein zu gelangen. Dies wird neben dem Inhalt auch durch die Form des Gedichtes vermittelt. Der verwendete Paarreim erzeugt eine Harmonie, sowie eine Gefühlsbetontheit, die sich bis zuletzt fortsetzt. Auch die außergewöhnliche Form des Gedichtes als ein einziger Satz unterstreicht, dass es sich um ein in sich stimmiges Gedicht handelt und alle Sätze, stärker noch als normalerweise, zusammengehören. Auf diese Weise wird die Botschaft des Gedichtes optimal vermittelt.