Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das zu analysierende barocke Gedicht „Tränen des Vaterlandes“, welches von Andreas Gryphius verfasst und 1636 veröffentlicht worden ist, thematisiert die Schrecken und Leiden des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Es wurde somit während der Kriegszeit verfasst.
Bei dem Antikriegsgedicht handelt es sich um ein Sonett1 mit dem Alexandriner (sechshebiger Jambus) als Versmaß. Beide Quartette beinhalten einen umarmenden Reim (abba abba), welcher in den beiden Terzetten fortgeführt wird, jedoch durch Paarreime unterbrochen wird (ccd eed).
Zunächst wird in der ersten Strophe die aktuelle Situation geschildert. Diese Beschreibung wird in der zweiten Strophe ausgeweitet. Es werden materielle Verluste beschrieben, wie auch die seelischen Auswirkungen. In der dritten Strophe konkretisiert Gryphius den Sachverhalt, indem er verdeutlicht, dass trotz 18 Jahren Krieg, der Krieg kein Ende findet. Die letzte Strophe bezieht sich auf die Zukunft, bleibt jedoch unklar.
Das Gedicht beginnt mit einer Klimax2 „Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!“ (V. 1). Dabei dient sie als Correctio3, um das Ausmaß der Zerstörung, welches durch das Adjektiv „verheeret“ (ebd.) beschrieben wird, zu verdeutlichen. Das Adjektiv dient somit nicht nur als negative Situationsbeschreibung, sondern stellt auch die Ursache dieser Grausamkeit dar, die in den (Kriegs-)Heeren liegt. Als ausführende Gewalt des Krieges verursachen sie jene Zerstörung. Es wird das Gefühl der Ausweglosigkeit demonstriert, da die Dopplung und die pejorative Beschreibung die Allgegenwärtigkeit des Krieges verdeutlichen. Der Autor bezieht durch das Pronomen „[w]ir“ (ebd.) seine Leser mit ein, so dass man von einem großen gemeinsamen Schicksal, das die gesamte Nation betrifft, sprechen kann. An dieser Stelle kann auf den Titel „Tränen des Vaterlandes“ verwiesen werden. Die vergossenen Tränen symbolisieren das Leid der Menschen und das Vaterland steht für Deutschland im Kriegszustand. Aus diesem Grund kann man von einem Rollengedicht sprechen, weil das lyrische Ich mit dem Autor, welcher ebenfalls zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges das Gedicht verfasste, gleichgesetzt werden kann. Besonders auffällig dabei ist die Verwendung der Pronomen auch in den folgenden Strophen. Die Dichte an grausamen Erlebnissen und Sinneseindrücke wird durch die Vielzahl an Alliterationen5 verdeutlicht („frechen Völker“, V. 2; „Schar (…) Schwert“, V. 2 f.). Dabei dienen die Adjektive „frech“ (V. 2) und „fett“ (V. 3.) und besonders die klingenden Adjektive „rasend“ (V. 2.) und „donnernd“ (V. 3.) als Beschreibung. Der Klangcharakter der Adjektive bewirkt, dass sich der Rezipient noch besser in die Kriegssituation versetzen kann und kreiert eine sehr bedrohliche Atmosphäre. Des Weiteren symbolisieren die Posaunen (vgl. V. 2) den Patriotismus, welcher zwar vermeintlich den Sieg bringen soll, aber letztlich sich selbst in seiner Raserei übertrifft und somit kritisch zu sehen ist. Auch das Asyndeton6 „Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun, / Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun“ (V. 2 f.) und das trikolorische Polysyndeton „Schweiß und Fließ und Vorrat“ (V. 4) unterstreichen die Masse an schlimmen Eindrücken, die auf den Menschen während des Krieges einwirken. Es gibt kein Entkommen und der Mensch ist mit all jener Grausamkeit konfrontiert. Die Metapher7 „vom Blut fette Schwert“ (V. 3) impliziert schon im ersten Quartett, dass der Krieg viele Menschenopfer fordert. Der Binnenreim „Schweiß und Fleiß“ (V. 4.) ridikülisiert die Kriegseuphorie, denn schließlich ist der Kriegsgewinn aussichtslos und Menschen werden zu unmenschlichen Tötungsmaschinen. Das Polysyndeton dient auch als Appell, dass sich der Krieg logischerweise zum Ende neigen muss, da alle Reserven, ob von materieller Art oder mentale Motivation oder physische Basis, aufgebraucht sind. Das Weiterführen des Krieges ist somit absolut obsolet und würde nur weitere Schrecken und Opfer bringen.
Im Folgenden spezifiziert der Autor die Kriegsauswirkungen. Die Metapher „[d]ie Stürme stehn in Glut“ (V. 5) symbolisiert die Zerstörung der Stadt, welche in Flammen steht und somit jegliche Existenzgrundlage nimmt, da gerade Türme symbolisch für Sicherheit und Bewachung stehen. Die Menschen sind ihrer eigenen Unmenschlichkeit ausgeliefert. Es wird ferner eine Parallele zur Hölle geschaffen. Man kann von der menschengeschafften Hölle auf Erden sprechen. Auch die Metapher „die Kirch ist umgekehret“ (ebd.), zeigt dass die Kirche, die das geistliche Leben widerspiegelt, zweckentfremdet wurde. Da Religiosität einen hohen Stellenwert bei den Menschen hatte und die Kirche als geistliche Instanz über hohe Macht verfügte, zeigt es, dass der Krieg die bestehende Verhältnisse ins Wanken bringt und ein Stückweit die Autorität der Kirche in Frage stellt, da gerade religiöse Konflikte Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg waren. Die Zerstörung wird im zweiten Vers der Strophe weiter ausgeführt. So demonstriert die Metapher „[d]as Rathaus liegt im Graus“ (V. 6), dass auch weltliche Verwaltung in Gefahr ist und das politische Machtzentrum zerstört worden ist. Die Substantivierung „die Starken sind zerhaun“ (ebd.) unterstreicht, dass es nur Verlierer gibt und geben wird, da selbst die physisch überlegenen geschlagen sind. Die ersten Verse der Strophe können als Antiklimax verstanden werden, da alles von den schützenden Türmen (und somit auch Mauern) bis zu der Kirche, dem Rathaus und der Individuen zerstört es. Es trifft somit jedes Individuum und es gibt kein Entrinnen. Selbst Machtkonzentrationen wie die Kirche sind machtlos und verlieren ihr Moralverständnis. Die Vernichtung von moralischer und persönlicher Integrität betrifft nicht nur Institutionen, sondern die Menschen als Kollektiv. Vergewaltigungen sind allgegenwärtig, was das Oxymoron8 „[d]ie Jungfrauen sind geschänd’t“ (V. 7) zeigt. Der Krieg resultiert im Verlust von jeglicher Menschlichkeit, so dass stattdessen Barbarei den Lebensalltag charakterisiert. Der Autor bezieht sich auf den apokalyptischen Reiter aus dem Neuen Testament. Das lyrische Ich spricht von „Feuer, Pest und Tod“ (V. 8), eine Anspielung auf die Apokalyptischen Reiter aus biblischen Offenbarung des Johannes, bei der der erwartete Weltzusammenbruch beschrieben wird. Die negative Konnotation9 der Substantive betrifft dabei „Herz und Geist“ (ebd.) – also Physis und Psyche – gleichermaßen. Die apokalyptischen Reiter werden im Neuen Testament sehr spät erwähnt, so dass das lyrische Ich die nahende Apokalypse als unmittelbar bevorstehend schildert. Für gläubige Christen bedeutet es dennoch Hoffnung, da das Jüngste Gericht über das menschliche Schicksal schließlich entscheiden wird.
Das erste Terzett soll erneut das grauenvolle Elend eindrucksvoll schildern. Die Alliteration „Schanz und Stadt“ (V. 9) widmet ein besonderes Augenmerk auf das allzeit frische Blut, welches durch diese rinne (vgl. ebd.). Das Adverb „allzeit“ und das Adjektiv „frisch“ (ebd.) symbolisieren den nicht endenden Teufelskreis. Es fließt immer weiteres Blut, es sterben immer weitere Menschen und das schon seit „[d]reimal (…) sechs Jahr“ (V. 10), also ganzen 18 Jahren. Diese ungewöhnliche Ausdrucksweise soll nicht nur die gewaltige Zeitspanne von drei aufeinanderfolgenden acht Jahren verdeutlichen, sondern ist eine erneute Anspielung auf das nahende Weltende, da die Zahl „666“ für den Teufel steht. Die Welt ist nun endgültig verloren. Dies wird durch die Metapher „[v]on Leichen fast verstopft“ (V. 11) unterstrichen. Der Krieg erforderte so viele Opfer, dass neue Tote keinen Platz mehr haben, so dass ein Bild von Leichentürmen und Verwesung vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Dies resultiert in Ekel und Mitgefühl, so dass eine Antikriegshaltung beim Leser generiert wird.
Auffällig ist, dass das lyrische Ich in den ersten drei Strophen Pronomen im Plural benutzt („wir“, V. 7; „unser“, V. 10) und nun in den Singular wechselt „[d]och schweig ich nun von dem“ (V. 12). Es bleibt unklar worauf sich das lyrische Ich bezieht, vor dem es schweigt. Aus dem letzten Terzett geht lediglich hervor, dass jenes „ärger als der Tod, (…) grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot“ (V. 12 f.) ist. Die Grausamkeit wird durch die Komparative11 „ärger“ und „grimmer“ (ebd.) besonders hervorgehoben. Möglicherweise fürchtet sich das lyrische Ich vor dem Jüngsten Gericht, da es „ärger als der Tod“ (ebd.) ist und somit –nachdem es den Glaube in aller Menschlichkeit verloren hat- das Leben nach dem Tod keine Besserung mit sich bringen kann und womöglich das Weiterleben in der Hölle erwartet wird. Das trikolorische Polysyndeton „Pest und Glut und Hungersnot“ beschreibt, dass der erwartende Zustand noch schlimmer als der aktuelle - ohnehin grausame – Kriegszustad ist. Dabei kommt die Zerstörungskraft, welche durch Feuer symbolisiert wird und das körperliche Leid zum Ausdruck. Der Krieg führt dazu, dass „der Seelen Schatz so vielen abgezwungen“ (V. 14). Wofür die Alliteration „Seelen Schatz“ (ebd.) steht, kann nur spekuliert werden. Es bleibt offen, ob sie für den christlichen Glaube oder den Himmel steht. Jedoch wurde diese positive Eigenschaft den Menschen abgenötigt. Das Gedicht endet somit hoffnungslos.
Auffällig ist die Verwendung der vielen Adjektive, welche die gewaltige Stimmung und somit Zerstörungskraft des Krieges unterstreichen. Durch die Enjambements12 führt der Hakenstil13 des Gedichts zu einem melodischen Charakter. Dies wird durch die klingenden Adjektive im ersten Quartett unterstützt, so dass das Gedicht dynamischer und eindrucksvoller wirkt, was die bedrohliche Eigenschaft des Krieges hervorhebt.
Aufgrund der Kriegsthematik und angesichts des historischen Kontexts, kann man darauf schließen, dass es sich um ein Gedicht aus der Epoche des Barocks handelt. Es wurde zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der die Lyrik weitgehend beeinflusste, verfasst. Des Weiteren werden viele Motive des Barocks aufgegriffen. Tod und Vergänglichkeit sind allgegenwärtig. Motive wie das des Vantias und Momento Mori finden sich ebenfalls in Vielzahl wider. Religiosität findet sich an mehreren Stellen im Gedicht wider. Besonders markant ist der Verweis auf die Offenbarung des Johannes, so wie Motive wie die Kirche als Repräsentant des christlichen Glaubens und der biblischen Zahl „666“.
Es kann festgehalten werden, dass es sich bei diesem typischen barocken Gedicht um ein Antikriegsgedicht handelt. Das lyrische Ich, welches in diesem Falle mit dem Auto Andreas Gryphius gleichgesetzt werden kann, nimmt kritisch Haltung zur Thematik des Krieges. Zusammenfassend, beschert der Krieg nur Elend und Verkümmerung des menschlichen Daseins. Schlimme seelische und körperliche Auswirkungen sind das Resultat langjähriger Kriegserfahrung. Es kommt zum Verlust von moralischer Integrität und die Menschheit ist mit dem Schlimmsten konfrontiert. Die geschilderte Situation bleibt aussichtslos.