Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Abseits“ wurde ein Jahr nach Fertigstellung im Jahre 1848 von dem deutschen Lyriker und Autor Theodor Storm (1817 - 1888) veröffentlicht und thematisiert die Idylle einer abgelegenen Heide und die daraus resultierende Einsamkeit im direkten Bezug zur großen in der Nähe liegenden Stadt.
Mit Blick auf die Biografie des Autors entsteht schnell die Vermutung, dass er eigene visuelle Erfahrungen aus seiner Heimat für dieses vorliegende Werk mit einbezieht, denn der am 14. September 1817 in Husum geborene Dichter kennt die für Norddeutschland bekannten Heidelandschaften nur all zu gut. Seine frühe Begeisterung für Gedichte führte bereits 1834 dazu, dass erste Verschriftlichungen in dem Wochenblatt seines Heimatortes abgedruckt wurden. Statt diese Beschäftigung aber zum Beruf werden zu lassen, begann er zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften, bevor er 1843 als Rechtsanwalt mit eigener Anwaltskanzlei in Husum arbeitete. Einige Jahre später zog er nach Potsdam, wo er als Jurist tätig war, bis er 1864 wieder zurück nach Husum kehrte und dort als Amtsrichter angestellt wurde.
Heute gilt er mit seinen zahlreichen Novellen und Prosatexten als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Realismus. Oftmals sind sich Literaturwissenschaftler bei einigen wenigen seiner Werke jedoch uneins darüber, ob diese als Weltliteratur angesehen werden sollten, oder ob es sich nicht doch um Heimatliteratur, also um die Schilderung des heimatlichen Lebens, handelt. Dennoch ist er bis heute als einer der bedeutendsten Novellendichter noch nicht in Vergessenheit geraten und beeinflusste die Epoche des Realismus maßgeblich.
Diese ist dem Zeitraum zwischen ca. 1845 bis 1890 zuzuordnen, in dem die Literatur die Wirklichkeit nicht nur wiedergeben, sondern die Realität verarbeiten sollte. Als zentrales Merkmal galt eine formale und harmonische Einfachheit mit Handlungsorten wie zum Beispiel Dörfer oder kleinen, abgelegenen Orten und Figuren aus der Unter- und Mittelschicht wie zum Beispiel Bauern oder Handwerker. Durch die Hinwendung zum Alltäglichen wurde oftmals das einfache Bürgertum als Leserschaft in das Auge gefasst, wobei sich der Inhalt auf wenige Personen und einen überschaubaren, kleinen Raum begrenzte, zeitlich sowie geografisch. Hervorzuheben ist dabei, dass die Menschen so dargestellt wurden wie sie sind, und nicht wie sie sein sollten. Bei deutschsprachigen Werken gibt es jedoch eine Besonderheit in der Epoche: Der Unterschied zwischen dem reinen Realismus und dem poetischen Realismus (wie die deutsche Epoche des Realismus auch bezeichnet wird) liegt darin, dass ersterer sich auf eine sehr schlichte Sprache fokussiert, der poetische Realismus die Wirklichkeit hingegen künstlerisch verarbeitet.
Sein hier vorliegendes Gedicht setzt sich aus vier Strophen mit jeweils sechs Versen zusammen, in denen die ersten vier Verse einer Strophe aus zwei Kreuzreimen bestehen und die letzten beiden Verse einen Paarreim bilden (ababcc- Reim). Dabei wurde ein eher Jambus als Metrum1 gewählt, eingebunden in Verse, welche oftmals Enjambements2, also Zeilensprünge, enthalten. Die daraus resultierende hypotaktische Schreibweise kann vermutlich darauf abzielen, ein Gefühl des harmonischen Zusammenlebens in der Natur zu unterstreichen, die durch keine übermäßige Interpunktion, wie sie in einer parataktischen Schreibweise zu finden wäre, unterbrochen werden kann.
Mit Ausnahme des Verses 22 („Er träumt von seinen Honigernten“), in dem Storm die Träume des Kätners äußert, handelt es sich lediglich um eine reine Beschreibung. Das Schließen seiner Augen kann auch als ein demonstratives Verhalten gedeutet werden, durch das er inhaltlich quasi der großen Zivilisation in den Städten den Rücken kehrt.
Bereits nach wenigen Sätzen stechen einem die vielen verwendeten Adjektive ins Auge, insbesondere die ausschmückenden Farben (vgl. V. 3, 6, 8), welche widerrum den poetischen Realismus kennzeichnen. In Verbindung mit dieser belebenden Farbsymbolik kann der Gegensatz von „alte(n) Grabmähler(n)“(V. 4) und blühenden Kräutern (vgl. V. 5) gedeutet werden, durch den sich die Wichtigkeit der Menschheit relativiert: Wenn die Menschen sterben, können sie nur materielle Rückstände hinterlassen, welche widerrum von der Natur erobert werden. So kehrt man nach dem Tod methaphorisch gesehen zu seinen Wurzeln zurück. Auch die Personifikation3 des stehenden Hauses (vgl. V. 13) zielt auf dieses Verhältnis von Mensch und Natur ab: Obwohl das Gebäude von Menschen in einer naturbelassenen Umwelt errichtet wurde, “harmoniert“ es mit der dortigen Umgebung. Dem gegenüber stehen die zahlreichen Mietshäuser in der (anscheinend) nahe gelegenen großen Stadt, bei der die Bevölkerung die Natur für ihren Nutzen immer mehr zerstört hat. Denn während des Veröffentlichungsjahres 1848 werden auch die etwas kleineren Städte Norddeutschlands allmählich in die Industrialisierung in Deutschland mit eingebunden, weshalb Theodor Storm sich eventuell Gedanken über die weitere Zukunft seiner geliebten Heimat machte. Besonders durch die in Ballungsgebieten erbauten Fabriken wurden hauptsächlich in Großstädten neue Arbeitsplätze geschaffen, sodass viele Menschen nicht mehr wie üblich in ihrem Heimatort Geld verdienten, sondern der Arbeit hinterher zogen. Die Alliteration4 „Behaglich blinzelnd nach den Bienen“ (V. 16) zeigt diesen Umgang zwischen beiden Seiten, bei dem keiner dem anderen Schaden hinzufügt, sondern am Ende einen gegenseitigen Nutzen ziehen. Somit läuft der Kätner in Storms Gedicht quasi gegen den Strom der Zeit, da er mit seinem Sohn abseits der großen Industriegebiete glücklich ist und dort vielleicht auch durch handwerkliche Arbeiten als Landarbeiter überleben kann, unter anderem durch Kräuter (vgl V. 5), das Kraut (vgl. V. 11), die Honigernten (vgl. V. 22) und durch das Schnitzen von Pfeifen (vgl. V. 18). Der „(...) Klang der aufgeregten Zeit“ (V. 23) symbolisiert zudem vielleicht auch die revolutionären Auswirkungen der Industrialisierung, ausgehend von dem zitternden „Schlag der Dorfuhr“ (V. 20). Die bis hierhin herrschende Mittagsruh wird somit plötzlich durch die verwendete Lautmalerei unterbrochen und bewegt den Kätner dazu, seine Augen zu schließen, um dieser Hektik der abseits gelegenen Großstadt innerlich zu entfliehen.
Besonders hervorzuheben sei außerdem noch die werkimmanente Wirkung des letzten Satzes. Die durch die Verse „Kein Klang der aufgeregten Zeit / Drang noch in diese Einsamkeit“ (V. 23f.) unterstrichene abgeschiedene Isolation spielt auf den Titel „Abseits“ an. In seiner Definition dieses Wortes werden zwei Seiten benötigt: Zum einen das “Abseitsliegende“, zum anderen aber auch das, was eben nicht abseits liegt (also quasi das “Zentrale“). Aus geografischer Sicht stehen sich hier vermutlich die große Stadt und die Heiden gegenüber, wohingegen atmosphärisch gesehen die „aufgeregte Zeit“ (V. 23) und die Stille (vgl. V. 1: „Es ist so still (...)“) im direkten Vergleich gezeigt werden sollen, wobei sich der inhaltlich dargestellte Kätner offensichtlich mit seinem Herzen für Letzteres entscheidet.