Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Sonnenuntergang“ wurde 1914 von Oskar Kanehl geschrieben. Es thematisiert die Untergangsatmosphäre, die mit dem Ende des Tages einhergeht. Es ist zeitlich und auch inhaltlich der Literaturepoche des Expressionismus zuzuordnen.
Einem ersten Leseverständnis nach zu urteilen, möchte der Dichter zeigen, wie der Untergang der Sonne die wahre Gestalt der Welt symbolisiert. So wie das Ende des Tages nähert sich auch das Ende der Welt.
In dem Gedicht wird lediglich die negative Wahrnehmung des Sonnenuntergangs durch nicht chronologisch ablaufende Begebenheiten dargestellt. Das Gedicht besteht aus einer Strophe mit 13 Versen. Durch fehlende Reime wirkt das Gedicht nicht harmonisch, durch den Jambus als Metrum1 hat es aber einen sehr rhythmische und monotonen Klang.
Passend zu dem, durch die Form geschaffenen, monotonen Klang ist das Gedicht sprachlich sehr klar und einfach, welches die inhaltliche Atmosphäre betont.
In den Versen 1-3 erzählt das lyrische Ich, wie der Tag zu Ende geht. Es beschreibt ihn als „ausgekämpft“ (V. 2). Durch Personifikationen2 verleiht der Dichter diesem „Tag“ eine Stimmung, welche von Erschöpfung zeugt. Schon hier wird die Vorstellung eines Untergangs erzeugt.
In dem ersten Vers nutzt der Dichter den Neologismus3 „Wolkenflotten fliehen“ (V. 1), womit das Vorbeiziehen der Wolken eine negative Konnotation4 bekommt und durch den „dynamischen“ Ausdruck „fliehen“ die Angst vor einer möglichen Gefahr, hier dem Weltende erzeugt wird. Die Metapher5 kommt, zusammen mit dem dritten Vers, aus dem Bereich der Seefahrt oder des Kampfes, welch auf den Krieg hindeuten könnten.
In den Versen 4 und 5 steigert das lyrische Ich dann die Auswirkungen des „Kampfes“. Eigentlich als „schön“ empfundene Eigenschaften eines Sonnenuntergangs waren hier in einen negativen Bezug gesetzt: die „rote(n)“ (V. 4) Farben des Sonnenuntergangs assoziiert das lyrische Ich als „Blutlache“ (V. 4). Das Land darunter wird mit „Leichen“ (V. 5) verglichen - welches wieder seinen sehr starken Bezug zu einem Kampf und der damit verbundenen Verwüstung herstellt. Durch die Personifizierung „das Land (…) schwimmt“ (V. 5) wird dem Land die menschliche Eigenschaft des Sterbens zugeschrieben, welches das Ganze bedrohlicher wirken lässt. Somit deutet das lyrische Ich an, dass wie der Untergang der Sonne, auch der Untergang der Welt nahe steht.
In V. 6 wird der abstoßende Begriff „Eiter“ verwendet, welcher mit dem „Mond“ in Verbindung gesetzt wird. Durch den parataktischen Satzbau wird nicht ganz deutlich in welcher Weise; umso deutlicher zeigt er aber, wie wenig es das lyrische Ich mittlerweile zu kümmern scheint. Auch wenn es die Nacht verabscheut, drückt er dies auf sehr monotone Weise aus. Vielleicht soll dies auch seine Hoffnungslosigkeit veranschaulichen.
Das geht mit dem nächsten Vers einher, in dem das lyrische Ich feststellt, dass kein Gott über das Land oder den Himmel wache (vgl. V. 7). Somit ist die Welt schutzlos vor der bevorstehenden Gefahr.
Folgend verstärkt auch noch die Dunkelheit die negative Stimmung: In den Versen 8-10, die durch ein Enjambement6 verbunden sind, beschreibt das lyrische Ich die dunklen „ausgestochenen Sternenaugen“ (V. 8), welche er mit „Höhlen“ vergleicht. Auch den Sternen schreibt er hier durch die Personifikation die Eigenschaft des Sterbens zu - in ihren Augen „hockt dunkler Tod“ (V. 9).
Im nächsten Vers betont er dies noch einmal durch das „Verneinen“ von „Licht“ (vgl. V. 10).
Wie also der Sonnenuntergang den blutigen Kampf symbolisierte, würde mit Einbruch der Dunkelheit nun der endgültige Tod erreicht. Dazu deutet der Dichter die Gestirne (Sonne im Titel, Mond in V. 6 und Sterne in V. 8 in etwas Negatives um, was die Untergangsstimmung zusätzlich betont.
Das lyrische Ich vergleicht den Zustand der Welt mit dem „jüngsten Tag“ (V. 11). Dies bestätigt nun den sich vorher anbahnenden Untergang der Welt. Dazu besteht wieder ein religiöser Bezug, der zusahen mit V. 7 betont, dass die Welt nicht unter Schutz Gottes steht und wirft somit die Theodizee-Frage auf. Das lyrische Ich sieht das Ende der Welt, für das es keine Hoffnung mehr gibt, nicht einmal durch Gott.
Nach dem eigentlichen „Abschluss“ gibt es noch zwei Verse, in denen die „Menschen umbrechen“ (V. 12), so wie Bäume „am Ufer“ (V. 13). Durch diese Verdinglichung zeigt der Dichter, dass die Menschen keinen Einfluss auf das Geschehen (mehr) haben und das Weltende unumgänglich ist.
Das lyrische Ich vergleicht den Sonnenuntergang mit einem blutigen Kampf, der allmählich sein Ende findet und darauffolgende die Nacht mit dem Tod, der daraus resultiert. Dabei gibt es keine Hoffnung auf die Hilfe von Gott für das Weltende, das die Menschen nicht beeinflussen können. Der Sonnenuntergang wird hier, anders als üblich, als etwas Schlechtes und das Symbol eines Endes gesehen. Somit kann die Deutungshypothese eines Endes der Welt, welches in der Natur symbolisiert wird, bestätigt werden.
Das Gedicht ist sehr deutlich dem Expressionismus zuzuordnen. Es wird das typische Thema des Weltuntergangs und -endes thematisiert, welches durch die negative Umdeutung der Natur unterstützt wird. Dazu spielt die Theodizee-Frage und die damit zusammenhängende Hoffnungslosigkeit eine rolle, welche durch den Ersten Weltkrieg bestärkt wurde.
Analyse von und Vergleich mit „Wenn die Sonne weggegangen“ von Clemens Brentano
Das Gedicht „Wenn die Sonne weggegangen“ von Clemens Brentano wurde 1803 geschrieben und kann somit der Epoche der Romantik zugeordnet werden. Es thematisiert den Verlust einer Liebe und stellt dies in Verbindung mit seiner Wahrnehmung der Natur. Die Gefühle werden so wie in Kanehls „Sonnenuntergang“ durch die Natur ausgedrückt und symbolisiert. Somit werden diese beiden Gedichte nun verglichen.
Das lyrische Ich in Brentano Gedicht hat seine Liebe verloren und spürt vor allem in der Nacht die Sehnsucht nach dieser.
Das Gedicht besteht aus Kreuzreimen und klingt somit viel harmonischer als das von Kanehl.
Das lyrische Ich erzählt davon, dass es seine Liebe verloren hat, welche er mit der Sonne vergleicht (vgl. V. 1, 5). So wie diese „weggegangen“ (V. 1, 5) ist, ging auch seine Liebe hinfort. Somit steht das Licht und der Tag für dieses lyrische Ich für Liebe und Hoffnung. In dem expressionistischem Gedicht gibt es auch tagsüber keine Hoffnung mehr, da die ganze Welt vor dem Ende steht. Jedoch symbolisiert der Einbruch der Nacht für beide etwas Negatives, da der „Romantiker“ Hoffnung in diese Sehnsucht verspürt und sich „verloren“ (V. 8) fühlt. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass der Romantiker Hoffnung durch die „Mond und Sterne“ (V. 11) verspürt, diese symbolisieren seine Liebe „in der Brust“ (V. 12); während die Nacht für den Expressionisten ein endgültiges Ende bedeutet.
Somit nimmt dieser die Nacht auch negativer wahr, wie zum Beispiel durch die „rote“ (V. 4) Farbe. Der Romantiker sieht trotz der tiefen Dunkelheit noch die „goldne Wangen“ (V. 3).
Auch der Zugang zu der Wahrnehmung der Nacht unterscheidet sich stark: Während der Expressionist die Nacht als ein allgemeingültiges Ende für die Welt symbolisiert, beschäftigt sich der Romantiker mit der subjektiven Wahrnehmung seiner Sinne.
Die Hoffnung z. B. „wohnet in seiner Brust“ (V. 12) und da er zu traurig zum Sprechen ist (vgl. V. 13), weint er nur noch (vgl. V. 15).
Parallel dazu sind somit die Gefühle des Expressionisten sehr viel kühler als die des Romantikers, obwohl ihm eine größere Katastrophe bevorsteht.
Beide lyrischen Ichs nehmen die Nacht wahr und deuten diese auf den Verlust der Welt („Sonnenuntergang“) oder der Liebe („Wenn die Sonne weggegangen“). Jedoch ist der Expressionist sehr viel pessimistischer.
Zu dieser Zeit war das typisch für die menschen, da sie von negativen Folgen der Industrialisierung oder dem Ersten Weltkrieg geprägt waren. Somit meinten sie, die Wahrheit hinter den Dingen sehen zu müssen, so wie dieses lyrische Ich das in der Natur versucht. Für ihn scheint es so, als würde die Welt unausweichlich untergehen.
In der Romantik beschäftigten sich die Menschen eher mit der subjektiven Wahrnehmung der Natur. Auch dieses lyrische Ich assoziiert die Natur mit seinen eigenen Gefühlen, sieht aber trotz der Dunkelheit Hoffnung in seinem Leben (vgl. V. 16).
Auch wenn die Menschen zum Anfang des 20. Jahrhunderts durch die schlimmere Umstände geprägt waren als die zur Zeit der Romantik, war ihr Zugang und somit ihre Wahrnehmung der „Realität“ sehr viel pessimistischer, wie sich in dem Vergleich beider Gedichte zeigt.