Kurzgeschichte: Vera sitzt auf dem Balkon (1997)
Autor/in: Sibylle BergEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Die Kurzgeschichte „Vera sitzt auf dem Balkon“ von Sibylle Berg ist ein Beispiel für Kommunikationsprobleme zwischen Sender und Empfänger. Die Kurzgeschichte kann zum Anlass genommen werden, um im Unterricht mit Berücksichtigung des kommunikationstheoretischen Modells von Friedemann Schulz von Thun eine Kommunikationsanalyse durchzuführen. Das Modell von von Thun ist unter dem Namen Vier-Seiten-Modell, Vier-Ohren-Modell oder Nachrichten- bzw. Kommunikationsquadrat bekannt und es besteht aus 4 Aspekten oder Ebenen, nämlich der Sachebene (bzw. dem Sachinhalt), der Selbstoffenbarung, der Beziehungsebene und dem Appell.
Aufgabenstellung
Interpretieren Sie das Verhältnis von Vera und Helge in er folgenden Kurzgeschichte. Nutzen Sie dazu die Kommunikationsmodelle nach Watzlawick und Schulz von Thun.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Kurzgeschichte „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ von Sibylle Berg aus dem Jahr 1997 stellt das kleine Sozialsystem, bestehend aus Vera und Helge, vor und thematisiert das Dilemma ihrer langjährigen Ehe.
Berg beschreibt in ihrer Geschichte das Eheleben von Vera und Helge, einem Paar, das schon lange verheiratet ist und eigentlich gar nicht so recht weiß, warum. Der erste und längste Handlungsabschnitt spielt sich auf der heimischen Terrasse ab. Dort sitzen die Eheleute an einem warmen Abend schweigend nebeneinander. Helge trinkt Bier und ist in Gedanken versunken und Vera überlegt, wie sie eine Konversation mit ihrem Gatten beginnen könnte. Nach einem missglückten Versuch Veras mit Helge ins Gespräch zu kommen, geht diese in die Küche um den Abwasch zu erledigen und sich gedanklich auf den nächsten Tag im Büro vorzubereiten.
Die Unterüberschrift „Vera sitzt auf dem Balkon“ stellt den Leser auf die Protagonistin und den Hauptschauplatz der Geschichte ein. In der ersten Zeile bekommt man schon eine hinführende Ahnung, in welchem Verhältnis die Ehepartner zueinander stehen. Sie sind verheiratet, und zwar schon lange. Jedoch wissen beide eigentlich gar nicht, warum. Geheiratet haben Helge und Vera demnach schon in jungen Jahren, jedoch ist die Liebe wohl im Laufe der Zeit stark abgekühlt. Dies lässt sich an dem Satz „wissen eigentlich gar nicht warum“ (Z.1) festmachen. Aus Sicht der Beziehungsebene könnte die Ehe also nicht mehr auf Liebe sondern auf gesellschaftlichen Gründen basieren. Wer einmal heiratet, bleibt auch verheiratet.
Die Handlung ist meist aus der auktorialen Erzählperspektive geschrieben, vermischt sich jedoch oft mit der personellen Perspektive Veras. Dies fällt schon in der zweiten Zeile (ff.) auf. Die Personifikation1 der Luft lässt auf Veras sexuelle Bedürfnisse schließen. Dieses starke Gefühl löst in ihr den Drang aus, die Stille zu durchbrechen und etwas zu unternehmen. Jedoch weiß sie selbst nicht so recht, wie. Sie offenbart damit ihre Unentschlossenheit und Unsicherheit. Dieser Ausdruck Veras wird auch in den folgenden Zeilen nochmals unterstrichen (Z. 5-7). „Vera sieht Helge an“ (Z. 6) beschreibt den stillen Appell Veras an Helge, um ihm zu Verstehen zu geben, dass sie mit ihm in Kontakt treten möchte. Normalerweise müsste Helge Veras nonverbalen Versuch, eine Kommunikation zu beginnen, durch den Reiz, ihren Blick, wahrnehmen und reagieren. Dies jedoch ist nicht der Fall denn Helge sitzt nur neben ihr und ist „tausend Gedanken entfernt“ (Z. 6ff.) Seine Körpersprache wirkt durch die Unbeweglichkeit ablehnend und auch die Hyperbel2,tausend Gedanken entfernt“ beschreibt Helges abweisende Körpersprache. Helge ist demnach wirklich in einen Gedankenfluss vertieft, in dem er nicht gestört werden möchte, oder er möchte mittels seiner Haltung nonverbal an Vera appellieren und ausdrücken, dass er im Moment nicht an einem Austausch interessiert sei und allein gelassen werden möchte mit seinen Gedanken.
Die Zeilen 8-11 konzentrieren sich vor allem auf die innere Gedankenwelt Veras und ihren Konflikt mit sich selbst. Sie würde gerne mit Helge reden, jedoch offenbart sie ihre Hilflosigkeit, wie sie das Gespräch mit ihm beginnen soll. Hätten Vera und Helge eine symmetrische Beziehung zueinander, würde es ihr sicherlich nicht so ungemein schwer fallen, die Worte zu formulieren. Stehen Personen in einer Beziehung in einer starren Komplementarität zueinander, so wie es bei Vera, die Unterwürfige, und Helge, dem Dominierenden, der Fall ist, ist es für die „abhängige“ Person meist schwer, eine Kommunikation zu beginnen, da diese sich, meist unbewusst, unter die andere Person stellt.
Veras Versuch, mit ihrer Hand auf Helges Hand, zu offenbaren und auszudrücken, dass sie mit ihrem Ehemann psychisch und physisch in Kontakt treten will, wird vollkommen ignoriert. Diese Ignoranz Helges unterstreicht nochmals seine Abwesenheit und seinen Appell, in Ruhe gelassen zu werden(Z.18: Helges Hand bewegt sich nicht).
Doch dann ändert sich auch Veras Verhalten. Sie merkt, dass ihr die Situation unangenehm ist (Z. 19ff.). Ihre Hand wird personifiziert, um die innere Zerrissenheit Veras deutlich zu machen. Ihre sexuellen Bedürfnisse, und wohl auch die gesellschaftlichen Konventionen verleiten Vera dazu, sich ihrem Ehemann nähern zu wollen, doch ein anderer Teil ihres Körpers wehrt sich vehement dagegen. Dem Leser wird deutlich bewusst, dass sie sich in der Beziehung mit ihrem Mann unbewusst schon sehr distanziert hat, oder es nie eine wirkliche Nähe zu ihm gab. Dies wird ihr erst wieder bewusst, als sich ihre Hände berühren und Vera förmlich Ekel verspürt, ihren Mann anzufassen (Z. 19-22). Als ihr die Verfremdung des eigenen Selbst bewusst wird, wischt sie sich eine Strähne aus dem Haar, ein Vorwand, um die Hand wieder wegnehmen zu können. Vera offenbart damit, dass sie, trotz der komplizierten Beziehung, ihren Ehemann dennoch nicht verletzen möchte. Außerdem schämt sie sich (Z. 22) und möchte dies Helge nicht offen zeigen. Um sich mental wieder zu fangen, verwirft sie den Gedanken, etwas mit Helge zu unternehmen oder überhaupt irgendetwas zu unternehmen. Sie deckt das negative Faktum ihrer Beziehung vollkommen ab um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden und weist die Schuld an dem ganzen Dilemma nicht etwa ihrer gestörten Beziehung zu, sondern nichtigen Dingen, wie dem Himmel oder sogar Gott (Z. 16 ff.) Um der Situation zu entfliehen, geht sie in die Küche um den Abwasch zu machen, ein möglicher Appell an Helge, endlich die Initiative zu ergreifen und mit ihr zu sprechen. Während des Abwaschs lenkt sie sich mit nichtigen Gedanken ab, wie der Geburtstag ihrer Bekannten Nora oder der Überlegung, wie sie sich am nächsten Tag für das Büro kleiden sollte. Damit offenbart der Erzähler nochmals die Verwirrung und Gespaltenheit Veras mit ihrer Lebenssituation.
Obwohl während der gesamten Kurzgeschichte kaum, und wenn dann nur von Vera, gesprochen wird, fällt sofort die gestörte Kommunikation zwischen den Eheleuten auf. In einer sozialen Situation kann nicht nicht kommuniziert werden, dies fällt in dieser Geschichte besonders gut auf. Auch wenn kein verbaler Austausch zwischen Vera und Helge stattfindet, so drückt schon allein die Körpersprache einiges aus, wie zum Beispiel Helges, der durch seine Reaktionslosigkeit und Ignoranz sein Desinteresse an einer Kommunikation deutlich macht. In einer positiven emotionalen Beziehung, in der Klarheit über die übermittelten Botschaften herrscht, müssten sich beide Partner über die Entschlüsselung einig sein, was jedoch bei Helge und Vera nicht der Fall ist. Auf Seiten des Sachinhalts ist sich Vera nicht einmal sicher, was sie überhaupt reden soll, Helge bleibt von Anfang bis Ende komplett stumm. Ausdruck und Appell in der Kurzgeschichte lassen auf eine negative Beziehung der Partner schließen und die Uneinigkeit, die in dieser herrscht.
Kommunikationsforscher wie Paul Watzlawick oder Friedemann Schulz von Thun halten es für das Wichtigste, dass man laufend über seine Beziehung zueinander spricht, nicht nur, um Klarheit über diese zu bekommen, sondern auch um Kommunikationsstörungen vorzubeugen, beziehungsweise diese zu beheben. Nahezu alle Störungen beginnen mit der Unfähigkeit, über die jeweilige Art und Weise der Beziehung zu sprechen. Dies ist auch der Fall bei Helge und Vera. Die Gründe über die gestörte Kommunikation und somit auch die lieblose Beziehung werden nicht offen dargelegt, jedoch weiß der Leser schon ab der ersten Zeile, dass eine solche vorliegt. Egal was der Auslöser für diese unglückliche Beziehung der beiden war, der gegenseitige Austausch über die Gründe und die weitere Vorgehensweise in der Zukunft sind elementar, um den Konflikt der beiden zueinander zu lösen. Dies ist womöglich auch die Botschaft, die Berg mit dieser Kurzgeschichte vermitteln möchte. Denn das gesamte Problem der gestörten Kommunikation besteht darin, sich in einer Kommunikation mit sich selbst du etablieren und dies ist nur durch einen Austausch mit seinem Partner möglich. Die eigene Zufriedenheit und eine erfolgreiche Kommunikation stehen demnach in Wechselwirkung zueinander und können nur durch Reden zu einem positiven Ende gelangen.