Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Stefan Zweig war ein bekannter und erfolgreicher Schriftsteller österreichischer Herkunft. Er wurde am 28.11.1881 als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern in Wien geboren. Nach Denunziation und einer Hausdurchsuchung im Jahr 1934 emigrierte Zweig nach London, seine Bücher wurden unter dem Nationalsozialismus verboten. Obwohl Zweig 1939 die beantragte britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, verließ er anfangs des Zweiten Weltkriegs aus Furcht vor einer Internierung als »feindlicher Ausländer« das Land und reiste mit seiner zweiten Ehefrau Charlotte auf den amerikanischen Kontinent, wo er sich zuletzt in Petrópolis im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro niederließ. In der Nacht vom 22./23.02.1942 nahm sich das Ehepaar Zweig mit Schlaftabletten gemeinsam das Leben.
Die Werke Stefan Zweigs sind weltweit verbreitet und in viele Sprachen übersetzt, darunter besonders die Textminiaturensammlung »Sternstunden der Menschheit«, erstmals erschienen 1927, sowie die »Schachnovelle«. Die »Schachnovelle« stellt die abschließende Arbeit Zweigs dar. Während er darüber hinaus unvollendete Buchprojekte, ein Romanfragment und weitere begonnene Texte zurückließ, sorgte er noch am Vortag seines zu diesem Zeitpunkt bereits geplanten Suizids dafür, dass sauber abgetippte und mit letzten Korrekturen versehene Manuskriptexemplare an Verleger und Übersetzer hinausgingen. Da die Veröffentlichung der »Schachnovelle« zufolge Zweigs Tod von niemandem mehr koordiniert wurde, liegen heute Ausgaben in voneinander abweichender Textgestalt und in unterschiedlichen nachträglichen Bearbeitungsformen vor.
Die »Schachnovelle« wurde 1960 mit Curd Jürgens in der Hauptrolle und mit Mario Adorf als professionellem Spieler und Schachgewalt verfilmt.
Übersicht
Erzählgegenwart: Einleitende Darstellung des Ich-Erzählers
Der Leser begegnet dem Ich-Erzähler der »Schachnovelle« zusammen mit dessen als Freund bezeichneten Bekannten auf dem Promenadedeck eines großen Passagierdampfers, der unmittelbar bevorstehend mitternächtlich von New York nach Buenos Aires auslaufen soll. Durch Reporter und Fotografen werden sie gewahr, dass eine prominente Person an Bord gekommen sein muss. Der Freund, der offenkundig nur zur Verabschiedung gekommen ist und die Fahrt nicht mitmachen wird, erkennt den Weltschachmeister Mirko Czentovic, der sich quer durch Amerika auf Turnierreise befindet.
Aus seiner eigenen, eher kursorischen Zeitungslektüre heraus und den von seinem Freund beigesteuerten Anekdoten und Details beschreibt der Ich-Erzähler Eigenschaften, Entwicklung und Werdegang des berühmten Mitpassagiers.
Rückblende: Der Ich-Erzähler berichtet aus der Lebensgeschichte Czentovics
Nachdem der junge Mirko, südslawischer Herkunft, mit zwölf Jahren seinen Vater durch einen Bootsunfall auf der Donau verloren hat, wird er vom örtlichen Pfarrer aufgenommen. Alle häuslichen und schulischen Bildungsversuche fruchten jedoch nichts. Der Junge ist dabei weder unwillig noch widerspenstig in seinem Wesen und erledigt gehorsam wie verlässlich - wenngleich teilnahmslos und in Langsamkeit -, was ihm aufgetragen wird. Doch Lesen, Rechnen, orthografisch richtiges Schreiben sind ihm feind, eigene Interessen und Selbstinitiative jeglicher Art fremd.
Durch sich ergebenden Zufall wird eines Abends die ganz außerordentliche Schachbegabung Czentovics offenbar. Der Pfarrer findet ihm daraufhin Unterstützung und einen finanzkräftigen Gönner, was dem nunmehr Heranwachsenden erlaubt, seine Fähigkeiten im königlichen Spiel zu vervollkommnen. Mit achtzehn Jahren wird Czentovic ungarischer Meister, mit zwanzig dann Weltmeister. Was ihm als Makel verbleibt: Dass er sich keine bloß gedankliche Vorstellung von einer Schachpartie machen kann - immer braucht er das Spielbrett mit der konkreten Stellung vor Augen.
Erzählgegenwart: Schachpartie zwischen dem Ich-Erzähler und McConnor
Czentovic ist nicht wohl gelitten. Die gehobene Schachwelt verübelt ihm seinen mangelnden Intellekt und seine fehlende Bildung und grenzt ihn daher aus; er wird allgemein als kalter und unzugänglicher Protz wahrgenommen, der geldgierig aus seiner Begabung und seinem erreichten Status alles materiell Mögliche bedenkenlos herausholt. Der Ich-Erzähler sieht in der Person des Weltschachmeisters und der Ausprägung seines Charakters ein lohnendes psychologisches Studienobjekt, was ihn dazu bringt, nähere Bekanntschaft zu suchen - auch deshalb, weil der Ich-Erzähler dem königlichen Spiel in seinen Beschränkungen jegliche Eignung zu dauerhafter intellektueller Herausforderung und erfüllendem Lebenszweck im Grundsatz völlig abspricht.
Da Czentovic zufälligen Begegnungen an Bord keine Gelegenheit gibt, verfällt der Ich-Erzähler darauf, ihn durch öffentlich dargebotenes Schachspiel zu ködern. Zunächst gewinnt er die Aufmerksamkeit des schottischen Tiefbauingenieurs McConnor, eines ebenso unbedingt durchsetzungsbereiten, darüber hinaus schwerreichen Selfmade-man wie schlechten Verlierers. Man spielt, bis nach drei Tagen der Weltschachmeister tatsächlich von weitem einen prüfenden, im Ergebnis aber verächtlichen Blick auf das Spielgeschehen wirft. Bares Geld - und nur das - ist es endlich, was Czentovic tatsächlich an den Schachtisch bringt: Der Schotte zahlt ihm das geforderte Antrittshonorar von 250 Dollar (grob überschlägig 5.000 Euro nach heutigem Wert).
Der Weltschachmeister gewinnt mühelos gegen den versammelten Schachverstand seiner Herausforderer in einer Weise, die von den Betroffenen als tief demütigend empfunden wird. In der von McConnor ehrgeizzerfressen eingeforderten Revanchepartie scheint sich dann jedoch eine Chance zu eröffnen - bis im letzten Augenblick ein bislang Unbekannter aus dem Zuschauerkreis vor dem vergifteten Zug warnt und durch weitere Spielanweisungen für alle Anwesenden überraschend ein Remis anbahnt.
Rückblende: Dr. B. erzählt aus seiner Lebensgeschichte
Der Unbekannte stellt sich als Landsmann des Ich-Erzählers heraus, aus hochangesehener altösterreichischer Familie stammend. Seine verschwiegene anwaltliche Tätigkeit als Rechtsberater und Vermögensverwalter für kaiserliche und klerikale Kreise haben Dr. B. beim aufkommenden Nationalsozialismus in die Aufmerksamkeit rücken lassen, was zur Verhaftung am Tag vor Hitlers Einzug in Wien führt. Dr. B. kommt ins Hotel Metropole, das von der Gestapo beschlagnahmt und als ihr Hauptquartier bestimmt ist. Dort wird er in scharfe Isolationshaft genommen, um ihn gefügig und aussagewillig zu machen, unterbrochen nur durch Verhöre und abermals Verhöre.
Dr. B. gelingt es, ein Buch zu entwenden. Allerdings handelt es sich nicht um die so sehr ersehnte Lektüre, sondern um ein karges Schachrepetitorium. - Dr. B. ist keineswegs die Schachgröße, für die ihn die Schiffspassagiere nach seinem Eingreifen gegen Czentovic halten; seit seiner Gymnasialzeit hat er nicht mehr gespielt. Vielmehr haben sich 150 Meisterpartien in seinem Verstand eingebrannt, immer und immer wieder rekapituliert im verzweifelten Kampf gegen die grausame Monotonie und Einsamkeit seines Häftlingsdaseins.
Als nach langen Monaten auch der letzte Reiz jedoch verflogen ist, schlägt Dr. B. einen gefährlichen Weg ein: Er beginnt im Geiste, gegen sich selbst zu anzutreten, spaltet sein bewusstes Denken in ein Ich Weiß und ein Ich Schwarz und verliert sich mehr und mehr in seinen Kämpfen gegen sich selbst. Er setzt aufs Spiel, worum es ihm ursprünglich gegangen war - den Erhalt seiner geistigen Stabilität und Gesundheit. Es kommt zu Krise, Nervenfieber, Furor, Zusammenbruch. Dr. B. ist seither wiederhergestellt, aber letztlich nicht geheilt; in sich trägt er den Keim dessen, was er mangels anderer Bezeichnung selbst »Schachvergiftung« nennt.
Erzählgegenwart: 2 Schachpartien zwischen Czentovic und Dr. B.
Entgegen seiner ursprünglichen Verweigerung tritt Dr. B. einen Tag später gegen Czentovic an. Er will dabei prüfen, ob er mit wirklichen Figuren auf einem Brett gegen eine fremde Person, einen realen Gegner und ganz allein auf sich gestellt tatsächlich bestehen kann, oder ob ihm ein Wahn aus der Haftzeit nachhängt. Auch soll es bei einer einzigen Partie bleiben, aus Furcht und nach ärztlicher Warnung, die »Schachvergiftung« könnte ihn wieder überkommen.
Das Unwahrscheinliche tritt ein: Nach langwieriger Partie und mehr als vierzig Spielzügen wischt der Weltschachmeister die Figuren vom Brett. Er gibt sich geschlagen.
Dr. B. hat indessen die gefährliche Erregtheit aus seiner Isolationszeit wieder ergriffen. Er lässt sich auf eine Revanche ein. Czentovic kehrt heraus, was seine Stärke ist, spielt mit aufreibender Langsamkeit und zermürbt dadurch Dr. B., der - wie zurückgeworfen in die Haft - anscheinend geistig Parallelpartien durchgeht, dabei immer irritabler wird und den Bezug zur Realität verliert. Erst eine entschiedene Intervention durch den Ich-Erzähler rettet Dr. B vor dem Schlimmsten und vor sich selbst. Er bricht das Spiel ab und will sich künftig dem Schach fernhalten. Czentovic hat überdauert; ihm bleibt der Sieg - und in der Erzählung auch das Abschlusswort.