Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das 20. Jh. war für die deutsche Bevölkerung ein von zahlreichen Einschnitten geprägtes Jahrhundert. Nach den Traumata der beiden Weltkriege mit all ihren Opfern und Zerstörungen folgte mit dem Bau der Berliner Mauer die Teilung Deutschlands. Familien wurden zerrissen, Freunde voneinander getrennt, der Geburtsort für unzählige Menschen lange Zeit nicht aufsuchbar. Zusätzlich lebten die Menschen im Osten in einem System, in welchem die Macht von nur einer Partei ausging, in welchem sämtliche Wahlen manipuliert wurden, in welchem kritische Stimmen gewaltsam unterdrückt wurden. Es entstand eine Idee von Freiheit, die zunächst nur von wenigen, am Ende jedoch von Tausenden getragen wurde.
Der Wunsch nach Freiheit wird auch in dem Gedicht „Sieben Tage“ von Rolf Haufs aus dem Jahr 1986 zum Ausdruck gebracht. Dieses Werk ist der Gedankenlyrik zuzuordnen.
Das lyrische Ich ist von dem Wunsch nach Freiheit, nach Flucht aus dem Staat, in welchem Träume nur leise geträumt werden können, das Leben aller gleich ist und der Weg eines jeden vorgegeben ist, gedrängt. Dabei wird auch die Entfremdung von seiner nicht näher beschriebenen Partnerin in Kauf genommen.
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen, wobei die Anzahl der Verse variiert. Von Strophe zwei aus nimmt die Zahl der Verse konstant zu, bis in der fünften schließlich der Höhepunkt erreicht wird (zehn Verse). Die Strophen sechs und sieben weisen wieder eine abnehmende Versanzahl auf. Weiterhin ist kein festes Metrum1 sowie kein Reimschema erkennbar. Die Strophen bestehen aus Parataxen, Rolf Haufs nutzte lediglich kurze, meist abgehackt wirkende Hauptsätze. Dies passt zu der nüchternen Sprache; Emotionen wird kein Ausdruck verliehen, das lyrische Ich wirkt beschreibend und analysierend.
Der Titel „Sieben Tage“ lässt auf die Beschreibung einer Woche schließen, wobei zunächst spekulativ ist, ob es sich um einen Vorausblick, um die Beschreibung eines tatsächlichen Verlaufs oder um eine Erinnerung handelt. Es sind die Gedanken und Empfindungen von sieben Tagen, die vom lyrischen Ich wiedergegeben werden.
Die erste Strophe beginnt widersprüchlich. Das lyrische Ich berichtet vom Schleichen auf Zehenspitzen, es scheint jedoch als seien die zwei Personen in ihrer eigenen Wohnung (vgl. V. 1 f.). Das lyrische Ich wird zunehmend mutiger, während die Partnerin langsam den Anschluss verliert. Es entfernen sich beide voneinander. Auf die geschichtlichen Ereignisse übertragend, wird die Äußerung kritischer Stimmen anfänglich als leise, „schleichend“ beschrieben. Während einige vorangehen, sind andere zaghaft und bleiben zurück. Es folgt ein Gedankensprung in den Versen sechs und sieben, in welchen das Herausfallen von Büchern aus Regalen, infolge einer S-Bahn, thematisiert wird. Möglich, dass die Bücher nicht länger in den Regalen der Bürger stehen dürfen. In der DDR wurde kritische Kunst zum Teil verboten, Künstler inhaftiert oder ausgewiesen.
„Leise sprechen wir einander nach“ (V. 9); jemandem etwas nachsprechen zeugt häufig davon, keine eigene Meinung bzw. Position zu haben. Da dies in diesem Fall jedoch „leise“ geschieht, kann das Nachsprechen auf Unfreiwilligkeit beruhen. Unzählige Menschen teilten scheinbar die Partei-Ideologie, häufig aus Angst vor Nachteilen. Das Adjektiv wird in Vers zehn wiederholt, es wird von „leisen Träumen“ gesprochen. Leise, umgangssprachlich häufig synonym für vorsichtig bzw. behutsam verwendet, dürfen die Träume nur geträumt werden, um nicht doch als Feind des Systems aufzufallen. Um die Träume Tausender auch als solche zu wahren, existierten Grenzgebiete – in dem Gedicht metaphorisch als „tödliche Felder“ (V. 12) bezeichnet. Das lyrische Ich will weiter vorangehen, getrieben von Wünschen und Hoffnungen und Träumen.
In Strophe drei fällt zunächst die Akkumulation „Unser Atem unsere Worte […] unsere Bewegungen“ (V. 17 f.) auf. Auch sei alles „gleicher und gleicher“ (V. 18). Durch das Possessivpronomen unser(e) werden noch weitere Personen, vermutlich alle Bürger des Staates, mit in die Aussage einbezogen. Stehen bleibt die Behauptung, dass die Leben aller Menschen gleich seien. Zusammen mit der Entwicklung der Menschen stagnierte auch der Staat, es gab kaum mehr einen Fortschritt – lediglich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit (aus Sicht der Partei) wuchs beständig.
Dass sich durch diese Monotonie des Lebens eine Ziel- und Orientierungslosigkeit entwickelt, wird in der vierten Strophe deutlich. Es beginnt die Suche nach dem Antrieb, dem Halt im Leben. Die Liebe stellt dabei keinen Anker für das lyrische Ich dar. Es rennt quer durch das Leben der Gefährtin (vgl. V. 22 f.) – offensichtlich haltlos. Zum Halt kommt das lyrische Ich auch nicht infolge „[t]ausendfache® Warnung[en]“ (V. 24), die es wohl bewusst ignoriert. Ein Antrieb muss dennoch vorhanden sein, da sich das Paar in der Zukunft voneinander entfernen wird, so die Erwartung des lyrischen Ichs (V. 27 f.). Durch die Verwendung einer derart nüchternen Ausdrucksweise scheint die Entfremdung jedoch keine begleitenden Emotionen (Trauer, Schmerz) hervorzurufen. Ziel bleibt die Befreiung aus der Entblößung vor dem Staat.
Strophe fünf berichtet zunächst vom Fortgehen der Frau für wenige Stunden. Der lyrische Sprecher scheint beim Abschied teilweise gedanklich abwesend (vgl. V. 34 f.). Schließlich redet er sich und seiner Partnerin etwas ein, „[w]as schon vergangen ist“ (V. 37 f.); möglicherweise ein leidenschaftsloses „ich liebe dich“. Denn wohl die Liebe ist das Vergangene, von dem das lyrische Ich spricht. Die Liebe, die durch innere Wünsche und Träume auf der Strecke bleibt. Die Liebe, die doch nicht wichtiger als Freiheit ist.
Im Folgenden spricht das lyrische Ich von einer ebenen Erde (vgl. V. 40). Eben, d. h. ohne Hindernisse, ohne Höhen und Tiefen, ist die Welt, ist das einzelne Leben langweilig. Die Staatsführung gibt den einen gehbaren Weg vor. Das lyrische Ich atmet nur (noch) manchmal (vgl. V. 41 f.), es lebt nur (noch) in seltenen Augenblicken. Manchmal versucht der lyrische Erzähler jedoch auch, einen Sinn im Leben in der Vernunft der Ordnung zu finden – scheitert jedoch. Er scheint nicht in der Lage, sich selbst zu determinieren; Empfindungen sind hier stärker als Vernunft. Bspw. das Empfinden, aus dem weißen Schatten (vgl. V. 45 f.) auszubrechen. Das Oxymoron2 beschreibt nochmal die bestehende Entblößung, den fehlenden Rückzug.
Die siebte Strophe beginnt mit der Inversion3 „Liebe ewigliche“ (V. 48), die für das lyrische Ich und seine Partnerin nicht mehr greifbar ist (vgl. V. 49). Sie entschwindet in dem Augenblick, in dem sie nicht mehr festgehalten, nicht mehr gepflegt wird. Aus diesem Grund blieb die Liebe zwischen dem lyrischen Erzähler und seiner Partnerin zwangsläufig auf der Strecke, da dieser sich für das Festhalten an Träumen und Idealen, nicht aber an der Liebe entschied. Die Strophe und somit das Gedicht enden äußerst plötzlich. Ein erneuter Gedankensprung ist auszumachen, der Blick und die Gedanken des lyrischen Ichs bleiben an Steinen haften. Der Grund wird nicht deutlich. Möglicherweise sind die Steine das letzte was es im Zuge eines Fluchtversuchs über die „tödlichen Felder“ (V. 12) sieht.
Rolf Haufs gestaltete sein Werk unkonventionell. Beginnend mit den Zahlen, die den Beginn einer jeden Strophe markieren. Sie stehen für die Wochentage, in deren sich die vom lyrischen Ich geäußerten Gedanken abspielen. Die Gestaltung steht somit in enger Relation zum Titel. Auffällig ist weiterhin die Gestaltung der Strophenlängen. Durch das Ansteigen und den Fall der Anzahl an Versen, entsteht bei mir das Bild einer Welle. Eine solche steht für ein konstantes Weiterfließen und verdeutlicht auf das vorliegende Thema angewandt das monotone „Dahinfließen“ der Tage im Leben des lyrischen Erzählers. Er lebt, ohne wirklich am Leben zu sein (vgl. V. 41 f.). Das Leben selbst bietet keine Reize – ein Ausbrechen aus dem ständigen Geradeaus wird fokussiert.
Vom Ausbrechen aus dem eigenen Leben zu träumen, Kontrolle und Gleichheit aller hinter sich lassend, ist mir nicht bekannt. Somit auch nicht das vom lyrischen Ich vermittelte Lebensgefühl einer Person, die ohne Halt im Leben schlicht existiert, die für ihre Freiheit den Preis einer gescheiterten Liebe zahlt. Meine Generation hat das große Glück gehabt, Jahre nach dem Mauerfall geboren worden zu sein. Wir dürfen unser Leben leben, mit all seinen Höhen und Tiefen. Doch die sind es erst, die das Leben lebenswert machen.