Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht stammt aus dem Gedichtzyklus „Aus dem Nachlaß des Grafen C. W.“, einem Teil des Nachlasses Rainer Maria Rilkes.
Bestehend aus drei Strophen zu je vier kreuzgereimten Versen thematisiert es das Motiv der Zeit in verschiedenen Kontexten und stellt dem Ausspruch, die Zeit zu vertreiben, das Problem zu schnell vergehender Zeit, die nicht angehalten werden kann, gegenüber.
Zeit im allgemeinen Kontext
In der ersten Strophe thematisiert das lyrische Ich Zeit im allgemeinen Kontext. Durch die Wiederholung der Überschrift im ersten Vers wird gleichermaßen der Grundgedanke erneut in das Bewusstsein des Lesers gebracht: die alltägliche Floskel, die Zeit zu vertreiben, also durch mehr oder minder sinnhafte Tätigkeiten die Zeit scheinbar schneller vergehen zu lassen und nicht in Langeweile zu verfallen, sei ein „wunderliches Wort“ (V. 1) und stehe doch ganz im Widerspruch zu dem, was von den meisten Menschen im Hinblick auf die Zeit beklagt wird, nämlich, dass sie zu schnell vergeht und man Mühe und Not hat, alles Notwendige in den 24 Stunden eines Tages, den sieben Tagen einer Woche, oder den 52 Wochen eines Jahres zu erledigen. Der elliptische Charakter des ersten Verses und die eröffnende Alliteration1 „[w]underliches Wort“ verdeutlichen diesen widersprüchlichen Eindruck des lyrischen Ichs in stilistischer Weise (vgl. V. 1).
„[Die Zeit] zu halten“, merkt das lyrische Ich an, „wäre das Problem“ (V. 2). Zeit vergeht, ist also immer in Bewegung, stets dynamisch und das nicht selten in höherem Maße als das lyrische Ich oder Menschen im Allgemeinen. Durch den Konjunktiv („wäre“, V. 2) wird deutlich, dass es unmöglich ist und bleibt, Zeit zu halten und sie in ihrem Fließen zu unterbrechen.
In den nächsten beiden Versen wirft das lyrische Ich eine rhetorische Frage auf und stellt somit auch den Leser vor die Aufgabe, sich dem Thema zu widmen und darüber nachzudenken. Durch dieses Fragen konstatiert2 das lyrische Ich indirekt, dass jedem die Suche nach einem „Bleiben“ und einem „endlich[en] Sein in alledem“ (vgl. V. 3f.) Angst mache. Hier wird der Wunsch nach Halt, Sicherheit und Kontrolle in den Stürmen des Lebens, den Fluten der Zeit deutlich, nach einer Konstanten inmitten der Variablen von Raum und Zeit, den Jeder in seinem Innersten hegt („[W]en ängstigts nicht […]?“, V. 3). Ziel allen Suchens seien also „Bleiben“ (V. 3) und „endlich Sein“ (V. 4), etwas, das auch beim Vergehen der Zeit gleich und vertraut bleibt, das Ruhe und Schutz schenkt. Hierbei können dem Wort „endlich“ drei Bedeutungen zugemessen werden: zum einen wird die Sehnsucht nach jenem Sein deutlich, zum anderen das Abschließende und Abrundende dieses Seins und zum dritten nicht weniger als dessen Vergänglichkeit, die jenes Bleiben gegenüber der Zeit relativiert erscheinen lässt. Somit verweist das lyrische Ich selbst darauf, dass Ruhe „in alledem“ (V. 4), also in der Komplexität und Schnelllebigkeit der Welt, oft vermeintlich und nicht weniger selten von begrenzter Dauer ist.
Zeit im Verlauf eines Tages
In der zweiten Strophe beleuchtet das lyrische Ich die Zeit im Rahmen und Verlauf eines einzelnen Tages. Wieder wird der Rezipient mit einbezogen, diesmal durch eine direkte Anrede („Sieh“, V. 5).
Anlehnend an die in der ersten Strophe dargelegte Dynamik der Zeit, wird sie in Gestalt des Tages als selbstbestimmtes und bestimmendes Subjekt dargestellt, „der Tag verlangsamt sich“ (V. 5). Aber auch passive Züge der Zeit werden deutlich, der Tag wird nach Abend genommen (vgl. V. 6). Wie zwischen Vertreiben und Halten der Zeit, zwischen den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Endlichen, wird erneut ein Widerspruch innerhalb der Thematik aufgegriffen, hier in Form der Rolle des Aktiven beziehungsweise des Passiven, vor allem aber der Relativität der Zeit. Natürlich vergehen die Stunden am Ende eines Tages nicht wirklich schneller als die an seinem Anfang, wohl aber mag es dem lyrischen Ich so vorkommen. Am Abend, wenn der Stress und die Anstrengungen der Arbeit hinter sich gebracht sind und Zeit für Entspannung und Erholung ist, scheinen die Stunden langsamer, die Zeit gemächlicher zu vergehen, eher „jener Raum“ (V. 6), mutmaßlich die Nacht, Ende und Abschluss des Tages bildet und im Schlaf jegliches Zeitgefühl fehlt.
Durch eine Kette gibt das lyrische Ich den Verlauf alles Seienden, auch seiner Selbst, wieder: „Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen, und das willig Liegende verschwimmt“ (V. 7f). Am Morgen steht der Mensch nach nächtlicher Ruhe auf, vollbringt sein Tagewerk, oft im Stehen, und legt sich am Abend erneut zur Ruhe. Das „willig Liegende“ (V. 8), sei es ein gebetteter Mensch oder die ruhig gewordene Natur, „verschwimmt“ (V. 8), verschwindet im Dunkel der Nacht. Durch das Stilmittel der Kette wird hier die Zusammengehörigkeit der einzelnen „Etappen“ eines Tages hervorgehoben, und auch der zyklische Charakter – schließlich wird der nächste Tag nach demselben Schema ablaufen.
Zeit im Kontext von Natur und Individuum
In der dritten Strophe wagt das lyrische Ich einen Blick in die Natur und stellt dar, welche Rolle Zeit in dieser Umgebung spielt. Schließlich lässt es den Leser einen Einblick in sein Inneres gewinnen.
„Berge ruhn, von Sternen überprächtigt“ (V. 9), steinerne Kolosse, die durch Äonen andauernde Prozesse entstanden sind, scheinen vom Fluss der Zeit unberührt in der Natur zu ruhen, „überprächtigt“ (V. 9) von den Gestirnen. Durch diese Wortneuschöpfung wird ein nahezu majestätischer Eindruck erzeugt, die Sterne scheinen wörtlich über dem Irdischen und somit auch über der Zeit zu stehen, prächtig erleuchten sie und gliedern sich in die von der Zeit unberührte Natur ein.
Diesen Eindruck einer gewissen „natürlichen Zeitlosigkeit“ verwirft das lyrische Ich jedoch im nächsten Vers selbst: „aber auch in ihnen flimmert Zeit“ (V. 10). Wie sollten auch Berge, deren Entstehung und damit auch Existenz von lang andauernden Prozessen abhing und abhängt von der Zeit unabhängig sein? Und auch die vermeintliche Ruhe wird dementiert, die Zeit „flimmert“ (V. 10) in den Bergen und strahlt so die für sie typische Dynamik aus.
Darüber hinaus kann das „[F]limmer[n]“ (V. 10) auch so ausgelegt werden: die Berge und mit ihr die gesamte Natur „erzählen Geschichten“, sie existieren länger als alle Menschen und haben die größten Kriege und Krankheitswellen, die ganze Völker ausgerottet haben, unbeschadet überstanden.
In den letzten beiden Versen blickt das lyrische Ich auf sich selbst und sein Verhältnis zur Zeit.
Das lyrische Ich stellt sich zunächst als ein Wesen mit „wilde[m] Herzen“ (V. 11) dar, also sehr emotional, gefühl- und temperamentvoll. „In [seinem] wilden Herzen“, so das lyrische Ich, „nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit“ (V. 11f). Wenn jemand obdachlos ist, dann hat er kein Dach über dem Kopf, keinen Ort, den er sein Zuhause nennen kann, wenn man so will, dann hat er keinen Platz in der Welt. So ergeht es auch der Unvergänglichkeit – in einer endlichen Welt mit Menschen endlichen Lebens kann, von religiösen Aspekten abgesehen, nichts Unvergängliches sein. Und doch scheint es im „wilden Herzen“ (V. 11) des lyrischen Ichs seinen Platz gefunden zu haben. Das mag entweder an großer Sehnsucht nach der Unvergänglichkeit liegen, die es dem lyrischen Ich so scheinen lässt, als existiere sie tatsächlich, oder eben an religiösen Prägungen beziehungsweise dem persönlichen Glauben des lyrischen Ichs, an eine Zeit nach dem Irdischen.
So lässt Rilke das lyrische Ich und das lyrische Ich den Rezipienten über verschiedene Abstufungen und Zusammenhänge hinweg das das Motiv der Zeit bedenken und an mancher Stelle gar darüber philosophieren. Neben der Sehnsucht des lyrischen Ichs nach etwas Unvergänglichem wird vor allem der Wert der Zeit deutlich, Zeit, von der die meisten Menschen nie genug zu haben denken und die anzuhalten nicht möglich ist. Zeit, die den meisten Menschen ein großes Geschenk und hohes Gut ist, wenngleich man sie manchmal zu vertreiben sucht.