Autor/in: Rainer Maria Rilke Epoche: Symbolismus Strophen: 2, Verse: 8 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4
Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung,
ein Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.
Und wir, zu ferne für die Angestaltung,
zu nahe für die Abkehr hingestellt.
Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,
bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:
Was ist begonnen, und was ist verflossen?
Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Rainer Maria Rilke war ein für das 20. Jahrhundert und für die literarische Moderne sehr bedeutsamer deutscher Lyriker, Übersetzer und Schriftsteller. Geboren wurde Rilke 1875 in Prag. Nach zahlreichen Stationen und langen Reisen nach Italien und Russland wohnte Rilke für einige Jahre in Paris. Die Kriegsjahre zwischen 1914-1918 verbrachte er in München. 1919 zog Rilke in die Schweiz, wo er im Dezember 1926 in einem Sanatorium starb.
In Russland traf Rilke Leo Tolstoi und Boris Pasternak. In Paris die berühmt-berüchtigte Lou Andreas-Salomé, mit der er ein Verhältnis hatte und mit der ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Rilke war Sekretär bei dem Bildhauer und Künstler Auguste Rodin, über den er eine Monographie schreiben wollte. Das künstlerische Schaffen und Denken Rilkes ist eng verbunden mit der französischen Sprache. In einer Schaffenskrise nach dem ersten und einzigen Roman Rilkes „Die Aufzeichnungen Malte Laurids Brigge“ im Jahr 1910 beschäftigte sich Rilke fast ausschließlich mit der Übersetzung französischer Lyrik und Literatur. Der späte Rilke schrieb seine Gedichte hauptsächlich in französischer Sprache. Ihn verband etwas mit dem Geist der berühmten französischen Lyriker: eine gesteigerte Betonung des inneren Gefühlslebens, Naturbetrachtungen, die nicht allein in der bloß äußerlichen Wiedergabe des Gesehenen bestanden, sondern die das Innenleben und die Wechselwirkung zwischen dem Inneren und dem Äußeren versuchten wiederzugeben – das war und blieb ein wesentliches Merkmal für die Rilke’sche Dichtung.
In diesem durch die französische Poesie mitgeprägten Kontext entstanden auch Rilkes Beiträge zur sogenannten Ding-Dichtung. Ziel war es, dass das lyrische Ich soweit vor der Erscheinung des Dinges zurücktritt, so dass gleichsam das Wesentliche und Innere des ins Auge gefassten Gegenstandes zu Wort kommen kann. Es geht dabei nie bloß um die realistische Darstellung des Gesehenen. Das Gedicht soll nicht bloße Kopie der Realität sein. Das unterscheidet diesen Gedicht-Typus beispielsweise von dem etwa zeitgleich in Erscheinung getretenen Realismus und dem Naturalismus sowie von der späteren literarisch-politischen Epoche der Neuen Sachlichkeit. Das Ding, der Gegenstand, wird in dem Dinggedicht1 in die Innenperspektive hineingenommen. Die eigene, innere Wahrnehmung fließt in die Erfahrung des äußeren Gegenstandes mit ein. Die Gegenstände werden zum Symbol für eine tiefere Wirklichkeit: sie werden, und das ist die Besonderheit der Rilkeschen Dichtung, zum Symbol in der inneren Erfahrung des Dichters. In diesem ‚Weltinnenraum‘ entsteht eine Spannung zwischen der Realität des äußeren Dinges und der Wahrheit des innerlichen Bezugs auf diesen Gegenstand.
Diese Spannung prägt das künstlerische Schaffen Rainer Maria Rilkes. Eine Spannung zwischen Realismus und Symbolismus, zwischen korrekter, objektiver Naturbeschreibung und verklärender, romantischer Empfindung des Gesehenen. Rilkes Werk bewegt sich an den Grenzen der französischen Romantik und des Symbolismus. Er steht besonders in der frühen Phase dem Impressionismus und dem Jugendstil sehr nahe. Doch was das Werk Rilkes ab der Jahrhundertwende immer stärker auszeichnet, ist diese Thematisierung der Spannung zwischen Innen und Außen: mit dem Ziel einer Verwandlung des Außen in ein Innen: in den von Rilke so bezeichneten ‚Weltinnenraum‘. Die späten Gedichte, zu denen das hier zu besprechende Gedicht „Nachthimmel und Sternenfall“ von 1924 gehört, gehen auf Rilkes intensive Beschäftigung mit der Sprache, mit ihrer Melodie und ihrem Klang zurück.
„Nachthimmel und Sternenfall“ ist ein kurzes, zwei-strophiges Gedicht mit jeweils vier Versen. Es gibt einen Eindruck der künstlerischen Meisterschaft des Poeten: kein Wort ist zu viel. Die Verse sind unter hohem Druck zu Diamanten gepresst. Worum geht es? Der Titel sagt es schon. In der ersten Strophe geht es um den Nachthimmel. Die zweite Strophe thematisiert den Sternenfall: eine Sternschnuppe. Aber der Mensch ist ‚Teil‘ des Geschehens. Rilkes Gedicht erinnert an die Romantik: der Mensch steht hier einer Natur gegenüber, dem Himmel und dem Sternenhimmel, die ihn überragt, die übermächtig ist.
Der Mensch findet sich in dieser Situation vor. Er ist „hingestellt“ (V. 4). Diese Wortwahl scheint mir wichtig zu sein: es betont etwas Passives. Der Mensch ist vielleicht für sein Handeln verantwortlich, aber er ist nicht der Grund dafür, dass er überhaupt handeln kann. Der Mensch ist in diesem ‚Hingestelltsein‘ dem Himmel „zu ferne“ (V. 3) und „zu nahe“ (V. 4). Zu fern, um ihm etwas ‚anzugestalten‘, um ihn nach unserem Belieben zu verändern und um ihm Herr zu werden. Es geht natürlich nicht um Quantitäten in dieser dichterischen Beschreibung des Verhältnisses des Menschen zum Himmel. Es geht um eine Entfernung, die niemals überbrückt werden kann. Um eine qualitative Unterscheidung also. Der Mensch wird in dieser ersten Strophe mit der Größe des Himmels verglichen. Der erste Vers beginnt mit „Der Himmel…“ (V. 1), während der dritte Vers mit der Beschreibung der anderen Seite des Vergleichs beginnt: „Und wir…“ (V. 3). Dem Nachthimmel selbst kann durch Worte eigentlich keine größere Ehre zuteilwerden als die durch Rilkes Worte: der Himmel sei groß, herrlich, ein „Übermaß von Welt“ (V. 2). Wir Menschen hingegen, hingestellt vor diese Größe, uns gelingt nicht einmal die Abkehr von diesem Himmel. Wir sind zu ‚nah‘. Religiöse Deutungen dieses Bildes drängen sich natürlich auf. Aber warum immer sofort das Gelesene in ein religiöses Bild zwängen und mit einem Etikett versehen? Durch diese Erklärung ist vielleicht etwas ‚erklärt‘, aber verstanden ist es damit noch lange nicht. Es genügt zu sagen, dass dieses Hingestelltsein vor die Größe des Himmels dem Menschen als etwas Grundsätzliches zukommt. Das zeigt die erste Strophe.
In der zweiten Strophe geht es um eine Sternschnuppe, an die sich, wie man es kennt, sofort und sehr schnell ein Wunsch anschließt. Für die Deutung ergibt sich eine Schwierigkeit. Der Wunsch ist formuliert als Frage. Genauer: als vier aneinandergereihte Fragen die mit dem Fragewort „Was“ beginnen. Unser Wunsch an den herunterfallenden Stern ist eine Frage? Wie kann das gemeint sein?
Hilft es, sich die Fragen genauer anzuschauen?
„Was ist begonnen, und was ist verflossen?
Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?“ (V. 7-8)
Es geht um den Anfang und um das Ende. Es geht um die Schuld und um das Verzeihen. Gehören beide Verse zusammen? Gehört zum Anfang die Verschuldung und zum Ende das Verzeihen? Ich finde, dieser Deutung könnte man folgen. Es gibt diese Bedeutung von Verschuldung im Sinne von Verursachung. Das letzte Verb, das Verzeihen, eröffnet das Themenfeld, um das es hier höchstwahrscheinlich geht: Verzeihen kann ich nur anderen Menschen. Es scheint, dass es hier um menschliche Handlungen und Entscheidungen geht. Wer etwas beginnt, wer in der Welt handelt, wird Grund und Ursache für ein Geschehen, das notwendigerweise immer schon zu den anderen Menschen dieser Welt in Beziehung steht. Ich kann nicht handeln, ohne dass dieses Handeln eine Wirkung auf andere Menschen hat. Ich kann mich an ihnen verschulden, eine moralische Schuld auf mich laden; aber mir kann auch verziehen werden.
Wenn man diese Fragen dem Themenfeld ‚Handeln‘ zuordnet, eröffnet sich auch die Möglichkeit, zu verstehen, warum Rilke von dem ‚Wunsch‘ vermeintlich abrupt auf diese vier Fragen verweist. Denn was können wir Menschen wünschen? Selbst der Wunsch bleibt diesem Viergespann von Fragen untergeordnet. Selbst unsere Träume sind ‚bedingt‘ durch unsere menschliche Situation: sie sind eingebettet und müssen integriert werden in unser irdisches Leben und unsere irdischen Belange.
Über diese menschliche Situation, Philosophen würden sagen, über die conditio humana, hat Rilke in destillierter, künstlerischer Form etwas in der ersten Strophe gesagt: folgt man der ersten Strophe, zeichnet diese Situation vor allem das ‚Hingestellt-sein‘ aus, hingestellt ist der Mensch vor die Größe und vor das Übermaß des Himmels.
Doch das entscheidende Charakteristikum dieses Himmels wurde noch gar nicht erwähnt. Es findet sich bereits im ersten Vers des kurzen Gedichts: „Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung“ (V. 1). Ich glaube, dieses eine Wort: ‚Verhaltung‘ ist für ein mögliches Verstehen des Gedichts entscheidend. Und auch dafür, nicht in die Falle zu tappen, vorschnell das Gedicht in die sehr geläufigen religiösen Bilder zu übersetzen und damit zu ‚erklären‘. Der Himmel ist hier nicht das Paradies. Nicht die ewige Ruhestätte der Christenseelen. Denn was heißt es, zu sagen, der Himmel sei voll herrlicher Verhaltung? Verhalten kann jemand sein, wenn er denkt, er sei am falschen Platz. Oder wenn er schüchtern ist. Wenn er sich unaufgehoben fühlt. Die Verhaltung des Himmels hingegen ist herrlich. Statt herrlich könnte man nun sagen: göttlich, aber nur dann, wenn man dieses ‚göttlich‘ als Platzhalter versteht. Und Verhaltung? Der Verhaltene benimmt sich komisch. Er ist nicht er selbst. Er hält sich zurück.
Und Rilke sagt, als der Poet, der er ist: Das Zurückhalten des Himmels ist göttlich? Ja, genau das. Die Mächtigkeit des Himmels zeigt sich in dieser Zurückhaltung. Sie zeigt sich, indem sie sich zurückhält. Der Himmel, groß, selbst ein Übermaß von Welt, ist herrlich und göttlich in seiner Zurückhaltung.
Der Himmel soll hier nicht gleichgesetzt werden mit ‚Gott‘. Rilkes Verständnis von Gott lässt sich nicht zusammenfassend auf einen Nenner herunterbrechen. Die Literatur über Rilke spricht von einem pantheistischen Gottesverständnis in jungen Jahren. Sie spricht von einer Kritik an jeglicher Jenseitsvorstellung. Die Nähe Rilkes zum Symbolismus und zur Romantik zeigt wiederum, dass Rilke von einer tieferen Bedeutung ausging, die in den Dingen verborgen liegt. Aber was heißt das alles schon? In diesem Gedicht geht es jedenfalls nicht um Gott, sondern um den Himmel. Und vielleicht kann man dem Himmel nur deswegen den Beinamen ‚Gott‘ geben, weil dieser Himmel es von sich aus hergibt. Das Gedicht wäre dann religiöser als jede Religion.
Rilke verliert sich nicht in der dichterischen Darstellung der Herrlichkeit des Himmels. In der zweiten Strophe kommt er zurück zu den menschlichen Belangen. Um sie geht es. Um das menschliche Handeln, das sich immer innerhalb von Fragen nach Schuld und nach Verzeihung bewegt.
Die stilistische Ausgestaltung des Gedichts ist dabei sehr subtil. Wenige Stilmittel werden benutzt. Die erste Strophe hat einen Kreuzreim (abab), die zweite hat einen umarmenden Reim (abba). Am ehesten ist von einem vierhebigen Jambus auszugehen. Weibliche und männliche Kadenz2 wechseln sich versweise ab. Die erste Strophe beginnt mit einer weiblichen Kadenz. Die zweite Strophe beginnt wiederum mit einer männlichen Kadenz. In den jeweils ersten zwei Versen könnte man von einer Zäsur3 sprechen. Eine Sprechpause, die durch das Komma (bzw. in Vers 5 mit einem Ausrufezeichen) markiert ist. Die zweite Hälfte nach der Zäsur liest sich nicht als reiner Jambus. Sie besitzt (zumindest in der ersten Strophe) zwei überzählige Senkungen. Es gibt eine elliptische Auslassung des Verbes in den ersten zwei Versen und einige Alliterationen4 besonders in den aneinandergereihten Fragen in Vers 7 und 8. Diese Stilmittel sind aber kaum der Rede wert. Sie verschmelzen zu gut und ordnen sich dem Inhalt des Gedichts unter.
Der ‚Stil‘ dieses Gedichts ist kein aufgesetztes mit besonderer Absicht eingesetztes Mittel. Rilke nimmt in Kauf, dass die Metrik5 durch einige überzählige Senkungen ‚gestört‘ wird. Vielleicht auch das ein Zeichen, dass wir es hier mit einem Dichter zu tun haben, der zur literarischen Moderne gezählt wird: Formgesetze und Regeln des Stils werden immer häufiger gebrochen. Thematisch erinnert das Gedicht jedoch stark an Gedichte der Romantik. Die Größe und Mächtigkeit der Natur ist aber nicht alleiniges Thema. Es geht Rilke vielleicht darum, den Menschen in seinem Verhältnis zu dieser Mächtigkeit des Himmels darzustellen. Es geht insbesondere in der zweiten Strophe um das menschliche Handeln selbst, um Schuld, um das Verzeihen und damit auch um Verantwortung. Selbst der rasch geäußerte, der Sternschnuppe hinterhergeworfene Wunsch bleibt durch diese Themen gebunden. Selbst der Himmel, der diesen Stern hinuntergeworfen hat, bleibt diesen Bedingungen des menschlichen Handelns verpflichtet. Vielleicht ist damit ein starkes Wort gesagt gegen jede Konzeption eines Ausgleichs des irdischen Lebens durch ein späteres, nachgeordnetes überirdisches Leben im Paradies. Das Handeln und unsere Wünsche haben sich auszurichten an der Frage nach der Verschuldung und nach dem Verzeihen. Und trotzdem gibt es für Rilke so etwas wie eine verhaltene Herrlichkeit des Himmels. Das Übermaß des Himmels bleibt der Horizont, in dem dieses Handeln stattfinden soll.
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