Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
L’art pour L’art – Der Symbolismus
Der Symbolismus ist eine im 19. Jahrhundert in Frankreich entstandene Epoche. Speziell die literarische Epoche begann ca. 1860 und endete ca. 1925. Diese Epoche ist durch idealistische Züge gekennzeichnet. Wichtige Vertreter dieser Epoche waren in Frankreich u.a. P. Verlaine und C. Baudelaire. Zu den deutschsprachigen Vertretern zählen vor allem R.M. Rilke, H.v. Hofmannsthal und K.G. Vollmöller. Der Symbolismus lehnt die gesellschaftsbezogene Wirklichkeit und die vom Imperialismus1, Kapitalismus und Positivismus2 bestimmte Welt ab. Der Ursprung des Symbolismus liegt in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und historischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts. Vor dem ersten Weltkrieg fand ein stetiger Umbruch und Wandel des Weltbilds statt. Es war die Zeit der Industrialisierung und des Fortschritts. Naturwissenschaften und Mathematik brachten neue Erkenntnisse wie z. B. die Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität. Es war ebenfalls die Zeit namenhafter Philosophen etc. Freud beschäftigte sich mit der Hysterie und Nietzsche entwickelte sein Konzept des Übermenschen. Diese Einflüsse, zusammen mit der Fin-de-siécle-Kultur (frz.: Ende des Jahrhunderts) – welche als Zeitabschnitt ihren Ursprung in Frankreich erlebte und in Europa allgemein, das Befinden und die Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnete –, führte zu einer Suche nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten und fand sich im Symbolismus als eine Gegenbewegung zum Naturalismus.
Ein symbolistisches Gedicht umschreibt seinen Inhalt, schmückt das behandelnde Thema aus, verziert es, bevor es auf den Punkt kommt. Im Vordergrund steht das Symbol. Es wird eine Verbindung zwischen Dingen und Worten geschaffen um sich so dem Mittelpunkt des Gedichts zu nähern. Der Symbolismus stellt nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit dar, sondern schafft eine ästhetische Kunstwelt, die sich oft auch an dem Mystischen als Thema bedient. Häufige Stilmittel sind Synästhesie3 und Onomatopöie (Worten einen musikalischen Klang verleihen). Mit Hilfe dieser Stilmittel und Beschreibungen von Geruch, Klang und Farbe eines Symbols wird auf die Bedeutung und den Mittelpunkt des Gedichts hingearbeitet. Die Dichter des Symbolismus beabsichtigten nicht, als Weltveränderer in politischer oder weltanschaulicher Sicht aufzutreten oder die Natur nachzuahmen wie die Naturalisten, sondern mit ihren Gedichten Kunst zu schaffen. Ganz nach der Redewendung „l’art pour l’art, die Kunst für die Kunst“.
Als ein Gegenstrom steht der Symbolismus dem Naturalismus gegenüber. Entstanden ebenfalls vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen und Erkenntnisse, widmet sich der Naturalismus einer möglichst genauen Darstellung der Wirklichkeit. Beschönigungen werden abgelehnt, reale – auch unschöne Dinge erhalten Einzug in die Kunst. Der Naturalismus sucht in der Zeit des Industrialismus und der Wissenschaft nicht nach Entfaltungsmöglichkeiten oder lehnt soziale, wissenschaftliche oder politische Themen ab, sondern behandelt diese möglichst detailliert mit allen Facetten. Der Naturalismus kennzeichnet sich durch eine exakte naturwissenschaftliche Gestaltung und auch durch eine natürliche Darstellung und Wiedergabe der Sprache mittels Dialekt und Soziolekt.
Rainer Maria Rilke, wurde am 04.Dezember 1875 in Prag als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke geboren. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er von seiner Mutter in Kleider gekleidet und als Mädchen erzogen. Ab 1885 besuchte er eine Militärschule zur Vorbereitung auf eine Offizierslaufbahn. Diese brach er 1891 schließlich ab. Im Anschluss daran besuchte er die Handelsschule, die er aber bereits wenig später wieder verlassen musste. Ab 1892 erhielt Rilke dann privaten Unterricht bis er 1895 sein Abitur bestand und mit seinem Studium begann. Rilke wurde, nachdem der Erste Weltkrieg ausbrach, 1916 vom Militär eingezogen und noch im selben Jahr wieder aus dem Militärdienst entlassen.
Immer auf der Suche nach Inspiration und Anregungen begann der junge Schriftsteller um 1897, geprägt und inspiriert von Geliebten und guten Freunden, mit seinen zahlreichen Reisen, die ihm nicht als Erholung oder Ablenkung dienten, sondern Teil seiner Arbeit waren „Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge (. . .)“. So reiste er durch viele Städte Europas, ohne in dieser Zeit wirklich sesshaft zu werden. Erst 1921 fand Rilke im Kanton Willis der Schweiz seinen endgültigen Wohnsitz.
Ab ca. 1923 hatte Rilke immer wieder mit Krankheit zu kämpfen, die sich erst spät als Leukämie herausstellte.
Rainer Maria Rilke starb am 29.Dezember 1926 in der Schweiz und wurde in der Nähe seines letzten Wohnsitzes auf einem Bergfriedhof begraben. Auf seinen Wunsch hin steht auf seinem Grabstein geschrieben:
_Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern._
In seiner Schaffensphase verfasste Rilke nicht nur zahlreiche Gedichte, sondern auch einen Roman, Erzählungen und Aufsätze zu Kunst und Kultur. Viele seiner Werke entstanden auf seinen oben erwähnten Reisen. So entstand sein Gedicht „Liebeslied“ z. B. 1907 auf der italienischen Insel Capri.
Liebeslied
Das Gedicht „Liebeslied“ von Rainer Maria Rilke beschäftigt sich mit der Frage, welche höhere Macht unsere Gefühle lenkt, insbesondere das Gefühl der Liebe zu einem anderen Menschen. Anfangs ist das lyrische Ich so eingenommen von der Liebe zu dem lyrischen Du, dass es nichts anderes mehr wahrnehmen kann. Es versucht sich dem Einfluss der Liebe zu entziehen, doch die Liebenden werden im Herzen von denselben Dingen berührt und sind dadurch verbunden. Dies führt das lyrische Ich zu den Fragen, welche Möglichkeiten es überhaupt hat außer dieser Liebe und welche höhere Macht über seine Gefühle bestimmt. Zuletzt stellt es fest, dass alle Gefühle, die es fühlt, zum Leben gehören und dass das Leben in all seinen Facetten wunderbar und sinnvoll ist, auch wenn wir Menschen das aus unserer Perspektive nicht immer sofort erkennen. Es scheint fast so, als wäre das lyrische Ich, der Dichter selbst, der als „Sänger“ sein Lied über die Liebe vorträgt, diese Wirkung wird durch die Musikalität der Verse unterstrichen. Auch wie in einem Lied, in dem es hohe und Tiefe Töne gibt, beleuchtet Rilke die Höhen und Tiefen der Liebe. Diese verschiedenen Schwingungen und dessen symbolische Bedeutungen finden sich auch im Verlauf des Gedichtes wieder. Doch hat es nicht die in traditionellen Liedformen verwendeten vier Verse pro Strophe, sondern hat insgesamt 13 Verse, davon vier, die Enjambements4 enthalten. Die Verse eins und zwei sind eingerahmt von der Wiederholung „Wie soll ich“, dies spiegelt die starke Anziehungskraft zwischen den beiden „Seelen“ wider, denn wie durch eine unsichtbare Kraft wird das lyrische Ich immer wieder zu dem lyrischen Du gezogen. Die „Seele“ des lyrischen Ichs wird personifiziert und scheint einen eigenen Willen zu haben, der sehr machtvoll auf das lyrische Ich wirkt.
Symbolisch steht die „Seele“ für den Innenraum, auf den es selbst keinen Zugriff mehr hat. Dieser Kontrollverlust wird durch die Frageform verstärkt. Vers eins endet nach der betonten Konjunktion „daß“, der Konsekutivsatz folgt in Vers zwei. Das Enjambement und die Betonung heben hervor, dass das Zusammentreffen der Liebenden unausweichlich ist. In Vers drei offenbart sich dem lyrischen Ich eine Möglichkeit, wie es in seinem Innenraum wieder etwas anderes wahrnehmen kann, außer der Liebe zum lyrischen Du. Die Voraussetzung dafür wäre eine Ausdehnung der Wahrnehmung. Diese Hoffnung spiegelt sich in der Veränderung des Versmaßes wider. Bis auf diesen Vers ist das Gedicht in einem 5-hebigen Jambus geschrieben, dies findet sich auch inhaltlich im Mitschwingen mit der Geliebten und metaphorisch im Rhythmus des Liedes wieder. Der Spondeus in Vers drei setzt die Betonung auf „hinheben“ und macht deutlich, dass das Wahrnehmen dieser Möglichkeit viel Kraft in Anspruch nehmen würde, da das lyrische Ich gegen den „Willen“ der „Seele“ aufbegehren müsste.
Außerdem erfordert sie die Initiative des lyrischen Ichs, um sich „über“ die allgegenwärtige Geliebte hinwegzusetzen. Der Trochäus lässt den Vers wie Stufen erscheinen, die über das „große“ lyrische Du hinüberführen. Doch die Frageform macht die Unrealisierbarkeit für das lyrische Ich deutlich. Stattdessen möchte das lyrische Ich keine Gefühle mehr spüren. Auch dies ist unrealisierbar, wie schon an der Interjektion5 „Ach“ in Vers vier verdeutlicht wird. Durch den Endreim (Vers eins) wird der Bezug zur Seele hergestellt („sie“). Sie soll mit undefinierbaren („irgendwas“ Vers vier), verlorenen Dingen im Dunkeln untergebracht werden. Diese Verdinglichung der Seele findet sich auch schon in Vers zwei/drei. So erscheint die Seele abgetrennt vom Ich, dies soll die vom lyrischen Ich erhoffte Distanz schaffen und zeigt den Wunsch nach Kontrolle über die eigenen Gefühle. Der „dunkele“ Ort ist eine Metapher6 für das Unterbewusstsein, denn dort lagern die verlorenen und verdrängten Gefühle. Das lyrische Ich erhofft sich durch das Verdrängen der Gefühle, sie nicht mehr bewusst erleben zu müssen und dadurch wieder mehr Freiheit zu haben. Dieser Vers bildet den Gegensatz zu Vers drei, der von der allgegenwärtigen Geliebten handelt, die Verse sind durch ihren Endreim verbunden. Die Wahlmöglichkeiten des lyrischen Ichs werden so hervorgehoben, dass auf der einen Seite die bewusste Weiterentwicklung des Seins über die Gefühle zum lyrischen Du hinaus steht und auf der anderen Seite die Wahl alle Gefühle zum lyrischen Du vom Bewusstsein abzukapseln.
Die Aussichtslosigkeit der zweiten Möglichkeit wird an dem Wort „fremd“ sichtbar, denn es gibt keine Möglichkeit so starke Gefühle dauerhaft vom Bewusstsein abzutrennen. Die Alliteration7 „stille Stelle“ bildet den klanglichen und inhaltlichen Gegensatz zur „tiefen“ Schwingung der Geliebten (Vers sieben), nämlich einen Ort, wo es keine Schwingungen gibt. Die „Tiefen“ der Geliebten symbolisieren die tiefen Gefühle, die die beiden Liebenden gemeinsam haben. Rilke verbildlicht die gemeinsamen Gefühle als eine Schwingung, die Resonanzen erzeugt. Die Vokale ei, e, i, ie bilden die klangliche Entsprechung zur Schwingung. Die Verse drei, fünf und sieben sind verbunden durch ihren Endreim und die weiblichen Kadenzen8. Diese Verse bieten dem lyrischen Ich eine Handlungsmöglichkeit, dem entgegen stehen die männlichen Kadenzen der übrigen Verse, in denen das lyrisches Ich subjektive Empfindungen ausdrückt. Die Zerrissenheit des lyrischen Ichs in den Versen eins bis sieben wird sichtbar anhand der Enjambements und durch ein fehlendes Reimschema. In Vers acht findet ein Umbruch statt, das lyrische Ich tritt nun als lyrisches Wir auf („dich und mich“). Das lyrische Ich löst sich aus dem subjektiven Empfinden und versucht eine umfassendere Sicht der Dinge zu erlangen, dazu benutzt Rilke das Symbol eines (Streich)Instrumentes. Er vergleicht die Verbindung zweier Menschen durch Liebe („alles was uns anrührt“) mit einem „Bogenstrich“ (Vers neun), aus dem „eine Stimme“ (Vers zehn) entsteht. Das lyrische Ich gibt sein persönliches Dilemma in die Verantwortung einer höheren Macht. Nicht das lyrische Ich entscheidet, was es „anrührt“, sondern der „Bogenstrich“. Die Ratlosigkeit über andere Möglichkeiten, außer der Liebe zum lyrischen Du, wird sichtbar in der Frageform von Vers elf. Es wird deutlich, dass es ich um eine höhere Macht handelt, an dem Ausdruck „in der Hand“ (Vers zwölf), die unsere Gefühle lenkt, der Spieler repräsentiert diese Macht. Durch die Frageform wird der Leser zu seinem subjektiven Empfinden geführt. Das Lied, das aus dieser höheren Macht durch die Gefühle der Menschen entsteht, steht für das Leben, das sich, wie ein Lied, aus vielen verschiedenen Facetten (Tönen) zusammensetzt und trotzdem einer unsichtbaren Ordnung (Rhythmus) folgt. Das lyrische Ich erkennt letztendlich die „Süße“ des Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen an. Die Interjektion „O“ drückt Erleichterung aus, die das lyrische Ich Sinn übergreifend erfasst (Synästhesie).
Das Liebes Lied von Rilke lässt sich dem Symbolismus zuordnen. Abgesehen von dem Symbol des (Streich-) Instrumentes auf dessen Saiten die Liebenden gespannt sind und zu einem gemeinsamen Lied erklingen, wird an diesem Gedicht das langsame Annähern an das eigentliche Thema „das süße Lied“ deutlich. Ist das Gedicht am Anfang noch von Zweifeln und Fluchtwünschen gekennzeichnet, nähert es sich nach und nach dem eigentlichen Punkt, dem Gleichklang der Liebenden, welcher das Lied der Liebe anstimmt. Aus einem „Du“ und einem „Ich“ wird im Laufe des Gedichts ein „Wir“.
Auch könnte man das Verhältnis zur Liebe von Rilke selbst in seinem „Liebes Lied“ sehen. So soll er z. B. in seinen Liebesbeziehungen nicht sehr beständig gewesen sein. Sesshaft war er ebenfalls nicht, denn sein Leben war von vielen Reisen geprägt. Dies könnte mit als Erklärungsansatz für die Schwankungen der Stimmung vom anfänglichen Wunsch vom Fliehen und späterem Einklang, bis hin zum Erklingen des süßen Liedes gedeutet werden.
Das Mystische lässt sich in dem Gedicht erkennen, indem Rilke nach einer höheren Macht fragt, die den Menschen lieben lässt und zu entscheiden scheint, wer der Geliebte ist.
Anhand des Symbols des (Streich)Instrumentes, dessen Saiten schwingen und zu einem süßen Lied erklingen, erhält das Gedicht einen sehr musikalischen Klang, was als Merkmal dem Symbolismus zugeschrieben wird.