Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Ernste Stunde“ wurde von Rainer Maria Rilke verfasst. Es entstand ca. Mitte Oktober des Jahres 1900 in Berlin Schmargendorf* und ist damit der Epoche des Symbolismus zuzuordnen. „Ernste Stunde“ thematisiert das lyrische Ich in der Rolle als Gott.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen à drei Verse mit insgesamt 64 Wörtern, wobei das Metrum1 nicht regelmäßig ist. Bei dem Reimschema handelt es sich, jeweils bei den ersten beiden Versen, der Strophe, um einen identischen Reim, der dritte Vers jeder Strophe ist ungereimt. Die Kadenzen2 sind durchgehend männlich.
Das lyrische Ich schildert seine Ansichten: Jeder bzw. jede in der Welt der/die grundlos weine, weine über ihn (Strophe 1), jeder der grundlos lache, lache über ihn (Strophe 2), jeder der grundlos gehe, gehe zu ihm (Strophe 3) und jeder der grundlos sterbe, sähe ihn (Strophe 4).
Beim ersten Lesen entsteht bei mir der Eindruck, dass das lyrische Ich zunächst eine passive Haltung eines Gottes einnimmt und seine Ansichten äußert. Das „erdliche“ Weinen, Auslachen und von der Welt gehen sieht er als Handlungen des Menschen an welche auf ihn bezogen werden. Erst am Ende würden sich Mensch und Gott Angesicht zu Angesicht stehen.
Die Sprache des Gedichts ist einfach und enthält viele Wiederholungen wie z. B. „Wer jetzt“ (V. 1, 4, 7, 10), „ohne Grund“ (V. 2, 5, 8, 11) und „irgendwo in der Welt“ (V. 1, 2, 7, 8, 10, 11). Jede Strophe bildet einen hypotaktischen Satz der aus drei parataktischen Nebensätzen pro Vers besteht. Die Wiederholungen zeigen vermutlich die Häufigkeit der geäußerten Handlung in der Welt, ohne dass der indirekt genannte Gott also das lyrische Ich eingreift bzw. während des Lebens verborgen bleibt und erst im Tod zu erkennen ist.
Die Strophen des Gedichts scheinen zunächst gleich aufgebaut: Im ersten Vers wird eine meistens emotionale Handlung angesprochen die von einer beliebigen Person „in der Welt“ (V. 1, 2, 7, 8, 10, 11) ausgeführt wird, im zweiten Vers wird konkretisiert, dass dies „ohne Grund“ (V. 2, 5, 8, 11) geschieht und im dritten Vers bezieht das lyrische Ich die Person mit der Handlung auf sich selbst: Zum Beispiel „Wer jetzt weint“ (V. 1), „weint über mich“ (V. 3).
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ein Klimax3 sichtbar: Die ersten beiden Strophen verbildlichen das Leben auf der Erde. Die Menschen denen es schlecht geht weinen und klagen über Gott (vgl. Strophe 1) und die Menschen denen es gut geht lachen ihn aus und glauben vermutlich nicht an ihn (vgl. Strophe 2). Zudem wird in der zweiten
Strophe das „irgendwo in der Welt“ (V. 1, 2, 7, 8, 10, 11) durch ein „irgendwo in der Nacht“ (V. 4 & 5) ersetzt. Die Nacht symbolisiert meistens eher Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit, vermutlich wird hierdurch darauf aufmerksam gemacht, dass das Auslachen des Gottes bzw. in einer Gewissen Weise auch Gotteslästerung (vgl. Strophe 2) nach dem Leben Konsequenzen haben wird. Es ist zwar in diesem Gedicht nichts darüber gegeben wie das Leben nach dem Tod aussieht, vielleicht symbolisiert die Nacht aber eine Art Hoffnungslosigkeit im jüngsten Gericht oder einer ähnlichen Verhandlung über die Sünden des Menschen.
Es ist auffällig, dass das lyrische Ich zwar alle aufgezählten Handlungen auf sich bezieht, das Wort „Ich“ aber nie im Nominativ auftaucht. Stattdessen werden Formen wie „über mich“ (V. 3), „mich“ (V. 6, 12) und „zu mir“ (V. 9) verwendet. Dies zeigt, dass Gott, wie bereits erwähnt, verborgen bleibt und der Mensch ihm erst im Tod erkennen kann. Gleichzeitig wird immer der Begriff „Wer“ (V. 1, 4, 7, 10) benutzt welcher den gleichen Sinn wie „jede / jeder“ erfüllt, da das Schicksal des Todes auf jeden Menschen wartet und jeder zunächst gleich vor Gott ist.
Ab der dritten Strophe bezieht sich das Gedicht erstmals auf den Titel „Ernste Stunde“ welche eine Metapher4 für den Tod ist. Das von der Welt gehen und zu ihm gehen (vgl. V. 8-9) ist ein Euphemismus5, also eine verschönernde Beschreibung für das Sterben.
„Ernste Stunde“ weist zahlreiche Einflüsse des Symbolismus auf: Betrachtet man die geschichtlichen Ereignisse, so spielt die Industrialisierung eine große Rolle. Auf der einen Seite sind die Arbeiter die ausgebeutet werden und klagen und weinen wie in Strophe eins und auf der anderen Seite sind die Gewinner der Industrialisierung die sich materialistisch auf ihren Reichtum beschränken und die Religion verlieren und über Gott nur lachen können (vgl. Strophe 2). Zudem zieht sich durch das ganze Gedicht ein starker Nihilismus, alles erscheint dem lyrischen Ich „ohne Grund“ (V. 2, 5, 8, 11) bzw. sinnlos, was ebenfalls typisch für den Symbolismus ist. Rilke beschäftigte sich zudem viel mit den Texten von Nietzsche, der hat folgenden Hauptgedanken „Es gibt keine religiöse Bindung mehr, keinen übergeordneten Sinn, man wertet alle Werte um. Der Nihilismus interessiert viele Menschen.“ Der Nihilismus steht also allgemein für eine Orientierung, die auf der Verneinung jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung basiert (vgl. „ohne Grund“), auch diesen Gedanken findet man in „Ernste Stunde“ wieder.
Greift man nun noch einmal das erste Textverständnis auf so lässt sich dieses bestätigen, Rilke setzt das lyrische Ich in die Rolle eines Gottes der nicht eingreift, sondern er lässt es geschehen, bezieht aber dennoch die Handlungen der Menschen auf sich selbst. Z.B. „Wer jetzt weint irgendwo in der Welt (…) weint über mich“ (V. 1-3), die Menschen sehen den Gott als schuldig und klagen, weil er nichts gegen ihre Lage unternimmt.
Bezieht man das Gedicht nun noch auf Rainer Maria Rilkes Biografie, so lässt sich „Ernste Stunde“ vor allem mit dem Johannes Evangelium verbinden. Rilke las immer wieder im Johannes Evangelium, dessen zentrales Gebot ist: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Auch der Aufbau des Gedichts erinnert an einige Textpassagen, wie z. B. Und wer [bewusst] in der Liebe bleibet, der bleibt in Gott [bewusst], und Gott [bleibt] in ihm [bewusst]. (I. Joh. 4;16).
Wie bereits erwähnt, beschäftigte Rilke sich, neben dem Johannes Evangelium, stark mit den Schriften von Nietzsche wodurch er in seinen Werken oft Kritik an der Jenseitsvorstellung des Christentums ausübt. Man weiß, dass Rainer Maria Rilke kein konservativ gläubiger Christ war, aber dennoch gottessuchend. Durch das Gedicht „Ernste Stunde“ könnte er also seine Glaubensansichten äußeren: Rilke würde sich demnach nach dem Deismus richten. Dieser besagt, dass Gott die Welt und seine Bewohner erschaffen habe, danach aber keine Einfluss mehr auf die Geschichte und das Handeln gehabt habe.
- Quelle für die Zeit- und Ortangabe: http://rainer-maria-rilke.de/06b023ernstestunde.html