Jardin des Plantes
Das Gedicht bezieht sich auf einen Panther, dem Rainer Maria Rilke im Jardin des Plantes begegnet ist. Der Jardin des Plantes ist ein botanischer Garten im Südosten von Paris. Der Garten existiert seit 1626 und ist damit der älteste Bestandteil des staatlichen Forschungs- und Bildungsinstitutes für Naturwissenschaften Muséum national d'histoire naturelle.
Im Zuge der französischen Revolution wurden 1793 alle exotischen Tiere an die Naturforscher des Jardin des Plantes zur Schlachtung und Ausstopfung übergeben. Die Forscher ließen die Tiere jedoch am leben und bildeten die Ménagerie du Jardin des Plantes, die damit der erste und heute noch existierende Tiergarten ist.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Rainer Maria Rilke selbst hat einmal gesagt: „Edle Lyrik ist das beste Heilmittel gegen die nüchterne Unrast jeder Zeit“. Wie dachte er dabei wohl über seine eigene Lyrik? War sie seiner Meinung nach auch ein Heilmittel, also eine edle Lyrik? Konnte sie ihn auch selbst heilen, ihm bei der Verarbeitung eigener Probleme helfen? Oder schrieb er sie, um andere zu bewegen und diese zu heilen? Sein impressionistisches Gedicht, „Der Panther“, 1902 erschienen, ist in einer sehr schwierigen und ambivalenten Zeit, im Zeitraum der Jahrhundertwende entstanden, was sich auch in dessen Inhalt widerspiegelt: Beschrieben wird ein Eindruck von der Monotonie des Lebens eines in einem Käfig gefangenen Panthers und deren Auswirkungen auf diesen: Sein Blick und seine Bewegungen scheinen müde und gelähmt, und somit zugleich auch stark divergent von der wilden Natur eines solchen Tieres, sodass sich letztlich auch jeder – auf den Panther einwirkende – Sinneseindruck vor Flüchtigkeit in seinem Inneren verliert. Obgleich dem Leser beim Betrachten des Titels Bilder eines starken, mächtigen und stolzen Tieres in den Sinn kommen, so präsentiert Rilke in seinem Gedicht also ein völlig anderes, unerwartetes Bild, eines gar gelähmten Panthers. Er thematisiert damit die paralysierend wirkende Orientierungslosigkeit eines Individuums in einer determinierenden Umwelt bzw. Gesellschaft und somit zugleich auch die Gefangenheit und Begrenztheit des eigenen Willens in einer solchen.
Das Gedicht selbst besitzt dabei einen strengen, linearen Aufbau. Es ist in drei Strophen mit je 4 Versen gegliedert, welche aufgrund des Reimschemas, einem durchgängigen Kreuzreim, bereits klanglich voneinander getrennt worden sind. Diese Kreuzreime werden durch fünfhebige Jamben, durch welche das Gedicht dominiert wird und von denen lediglich der letzte Vers mit vier Hebungen abweicht, unterstützt. Die einzelnen Versenden sind durch einen Wechsel weiblicher und männlicher Kadenzen1 gekennzeichnet, sodass das Gedicht letztlich eine harmonische Struktur mit augenscheinlich liedhaftem Rhythmus erhält.
Bevor diese Strophenform jedoch einsetzt, wird vom Dichter die Lokalbestimmung „Im Jardin des Plantes, Paris“ eingefügt. Durch diesen Einschub und dem eigentlichen Titel wird der Rahmen der Gedichthandlung schon vor deren eigentlichem Beginn festgelegt, sodass bereits ohne Betrachtung der einzelnen Strophen ersichtlich wird, dass ein Panther im Jardin des Plantes, einem botanischen Garten, beschrieben werden wird. Die Festlegung des formalen Rahmens obliegt somit nicht mehr dem Inhalt der einzelnen Strophen, wodurch nun eine Möglichkeit eröffnet wird, lediglich spontane und augenblickliche Aspekte, sprich flüchtige Sinneseindrücke, entsprechend impressionistisch, in diesen zu beschreiben, ohne dabei auf etwaige lokale Formalien Rücksicht zu nehmen.
In der ersten Strophe wird nun als erstes der Eindruck beschrieben, welchen ein offenbar vor dem Käfig stehender Beobachter vom Blick des Panthers erhält. Dieser scheint durch die Monotonie des ständigen Vorbeilaufens der Gitterstäbe während des eigentlichen Bewegungsablaufes völlig getrübt worden zu sein, sodass er müde wird und letztlich kaum noch die Außenwelt wahrnehmen kann. Der massive Einfluss der Stäbe wird insbesondere durch deren enorme sprachliche Dominanz innerhalb der Strophe deutlich, zum einen durch die Quantität, sprich dreifache Wiederholung (V. 1, 3, 4), sowie durch deren Stellung, unter anderem als Teil des Reims. Diese Stäbe fungieren hierbei als ein Symbol für Macht und Unterwerfung, was sich von der kulturellen Begriffsentwicklung des Stabes z. B. durch den Bischofsstab als Macht - Insignie herleiten lässt. Auffällig dabei ist neben der ständigen Wiederholung auch, dass jenes Wort innerhalb der Verse immer weiter nach vorn, zum Versanfang rückt; war es in Vers 1 noch an dessen Ende, befindet es sich im 4. Vers schon beinahe in der Mitte. Durch die Wiederholung wird dabei die permanente und allgegenwärtige Unterdrückung durch die Stäbe verdeutlicht, und durch das Aufrücken innerhalb der Verse (wird) erkennbar, dass die Stäbe optisch immer näher vor seinem Auge erscheinen, wodurch auch die zunehmende Unterwerfung immer mehr an ihn herantritt und so auch wesentlich spürbarer wird. Dabei wird letztlich auch der Raum seiner Gefangenschaft, ein Käfig, nicht benannt, sondern lediglich durch die Stäbe verdeutlicht, sodass sich das Bild eines solchen erst im Kopf des Betrachters bildet, ähnlich wie bei einem impressionistischen Gemälde, was somit eine gewisse Flüchtigkeit des Eindrucks und Augenblicks impliziert. Der Eindruck der Monotonie wird des Weiteren durch den langsamen Rederhythmus, den die gehäufte Formulierung der „Stäbe“ erfordert, verstärkt und unterlegt.
Der Panther selbst wird dabei nicht genau benannt, sondern lediglich durch entsprechende Personal – und Possessivpronomina beschrieben. Diese erfüllen somit eine gewisse Stellvertreterfunktion, sodass sich durch die lediglich indirekte Benennung des eigentlichen Subjektes die Beschreibung vom Individuum, also vom Persönlichkeitsaspekt des Panthers entfernt und ihn somit zu einem reinen „Ding“ werden lässt. Trotzdem der Panther hier ein reines „Ding“ zu sein scheint, wird seine Wahrnehmung gar menschlich beschrieben: Die massive Monotonie der visuellen Wahrnehmung kulminiert in einer Verfremdung der Außenwelt, welche für den Panther kaum noch wahrnehmbar ist. Vielmehr versinkt er in einer Trance oder Traumwelt und befindet sich somit in einer Art der Realitätsferne, was durch den immanenten Konjunktiv 2, dem Irrealis „gäbe“ (V. 3) deutlich wird. Es scheint für den Panther so, „also ob es tausend Stäbe gäbe“ (V. 3), die visuellen Eindrücke verschwimmen also völlig. Dies ist auch gänzlich äquivalent mit dem Verlust der Wahrnehmung der Außenwelt, hinter den Gitterstäben, was erkennbar an der koordinierenden Konjunktion „und“ (V. 4) wird, sodass es hinter diesen scheinbar tausenden von Stäben keine wahrnehmbare Umwelt mehr gibt. Dadurch nimmt der Panther letztlich auch nur seine kleine, ihn determinierende Welt, nämlich seinen Käfig, wahr.
Der Blick und die Augen werden hierbei also schlussendlich als der erste Eindruck vom Panther festgehalten, weshalb gerade diesen Aspekten eine besondere Bedeutung zukommt. Die Augen, als Spiegel der Seele, eröffnen dem Betrachter bzw. dem lyrischen Ich den direkten Blick in das Innere des Panthers, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, in diesem quasi aufzugehen sich in ihn hineinzuversetzen, womit sich ihm die Variante einer Darstellung aus der Innenperspektive des Panthers ergibt. Dadurch bleibt jener Beobachter nicht in der Rolle des passiven äußeren Beobachters, sondern wird eins mit dem zu beobachtenden Objekt.
In der zweiten Strophe fasst der Betrachter, also das lyrische Ich, die Beschreibung der Facetten des Panthers weiter, sodass nun sein ganzer Körper, oder vielmehr seine Gangart beschrieben wird. Diese Strophe lebt dabei von der Verwendung kräftiger, ausdrucksstarker Adjektive gegenüber einer verhältnismäßig kleinen Anzahl an Verben. Durch diese kräftigen Adjektive ergibt sich die Möglichkeit einer impulsiven Beschreibung der Wahrnehmung. Im ersten Vers dieser Strophe wird dabei die Eleganz seines Ganges idealisiert, was durch eine inflationäre Anzahl an Attributen flagrant wird: Gleich drei Adjektive finden sich, um den Gang zu beschreiben, was euphonisch durch die G-Alliteration2 „Gang geschmeidig“ (V. 5) verstärkt wird. Diese Eleganz wird jedoch sogleich im nächsten Vers relativiert, durch die Beschreibung der Begrenztheit seines Ganges, sodass jener an einen Kreis, einen „allerkleinsten Kreise“ (V. 6) gebunden ist. Der Kreis, ohne Anfang oder Ende, verdeutlicht dabei symbolisch den zyklischen und periodischen Charakter seiner Bewegungen, was erneut die Monotonie seines Daseins verdeutlicht. Er scheint in diesem Kreis keinerlei Perspektive für Fortschritt und Entwicklung zu haben. Diese Gebunden- bzw. Begrenztheit wird zudem durch den superlativischen Charakter des Adjektivs „allerkleinsten“ (V. 6) verstärkt. Der Panther wird somit auf einen minimalistischen Bereich zur Selbstentfaltung fixiert.
Wie stark dabei die Gefangenheit des Panthers wirklich ist, wird an den nächsten beiden Versen deutlich: Das lyrische Ich vergleicht diese von Eleganz und Grazie gekennzeichnete Gangart durch den metaphorischen Vergleich mit einem „Tanz von Kraft“ (V. 7), was das eigentliche Bewegungs- und Kraftpotenzial des Panthers verdeutlicht, welches jedoch keinerlei Möglichkeit besitzt, ausgelebt zu werden, da es ausschließlich auf eine einzelne Mitte eines scheinbar unendlichen Kreislaufs gerichtet ist. Gerade in dieser Mitte scheint sein eigentliches Potenzial, seine immense Willenskraft gefangen zu sein, was an der antithetisch wirkenden Beschreibung seines „großen“ aber zugleich auch „betäubten“ (V. 8) Willens erkennbar wird, welcher nun in diesem Kreis, welchen der Panther permanent auf und ab geht gefangen ist.
Von der ersten zur zweiten Strophe ist auch eine tendenzielle Veränderung der Sprache und Wortwahl zu erkennen, insofern als innerhalb der zweiten Strophe nun die Pronomina von Personal und Possessiv zu Relativpronomen werden, sodass sich der Betrachter vom eigentlichen „Ding“ dem Panther und dessen offensichtlicher Erscheinung entfernt und mehr auf eine abstrakte Ebene übergeht, sodass nun mehr und mehr das Innere des Panthers betrachtet wird. Die bisher dargestellte Flüchtigkeit, wie sie in den ersten beiden Strophen zu sehen ist, an den Eindrücken der Blicke und der sinnlichen Bewegungen erkennbar, wird nun in der letzten Strophe unterbrochen, in welcher eine gewisse Regelmäßigkeit dargestellt wird, was durch die temporale Bestimmung „nur manchmal“ (V. 9) unterlegt wird. Eine solche Aussage kann nur auf Grundlage längerer Beobachtung gefällt werden, sodass hier der absolute Eindruck von Flüchtigkeit und Scheinhaftigkeit relativiert wird. Innerhalb dieser Aussage wertet der Betrachter, also das lyrische Ich direkt die Situation des Panthers durch das Adverb „nur“, wodurch auch ein gewisses Mitleid mit dem Tier deutlich wird, womit jener Betrachter nun also durch eine tatsächliche Subjektivität geprägt wird.
Die Wahrnehmungen und das Erleben des Panthers sind nun von völligem Automatismus und entsprechender Funktionalität geprägt, was an der Aussage „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf. – Dann geht ein Bild hinein.“ (V. 9f.), deutlich wird, welche stark an das Prinzip der Fotografie erinnert. Der Vorhang der Pupille erinnert metaphorisch an eine Kameralinse, wodurch seine visuelle Wahrnehmung nur noch funktioniert, sodass wie in einer Kamera die Bilder der Außenwelt nur abgebildet, aber kaum subjektiv verarbeitet werden. Dabei wird des Panthers innere Konstitution zugleich durch die Personifikation3 „der Glieder angespannte Stille“ (V. 11) verdeutlicht, welche eine innere Leere und Kälte verdeutlicht, in welcher keinerlei Leidenschaft und keine Ambition die Sinneswahrnehmungen verarbeiten kann, sodass diese letztlich „im Herzen [aufhören] zu sein“ (V. 12). Das Herz ist hierbei symbolisch für das Zentrum individueller Leidenschaft, welches bei diesem sonst so impulsiven Tier von völliger Leere und Unterdrückung unterworfen zu sein scheint. Die besondere Bedeutung dieses letzten Verses wird insbesondere durch den Wechsel innerhalb des Metrums von einem 5-hebigen zu einem 4-hebigen Jambus deutlich, weswegen dieser Vers – nicht zuletzt wegen der männlichen Kadenz – stumpf, abgehackt und pointiert wirkt und so eine unglaubliche Relevanz gewinnt.
Letztlich scheint sich das gesamte Gedicht, wie es typisch für den Impressionismus ist, auf das absolute Innere des Panthers zuzuspitzen: Der Betrachter bzw. das lyrische Ich versinkt immer mehr in der Erlebniswelt dieses Tieres, wodurch er befähigt wird, seine Sinneswahrnehmung zu erkennen. Insbesondere die singuläre Struktur des letzten Verses verstärkt diesen Eindruck. Zudem wurde auch hier die Pronominaverwendung erneut variiert: Während innerhalb der ersten Strophe die Personal – und Possessivpronomina dominierten und in der zweiten durch Relativpronomen abgelöst wurden, wird nun in der letzten Strophe gänzlich auf diese Wortart verzichtet, wodurch sich die Darstellung von einer simplen Beschreibung eines „Dings“ entfernt und teilweise entdinglicht wird, wonach das Gedicht schlussendlich – insbesondere durch die Forcierung auf das absolute Innere – an den Aufbau eines Klimax5 erinnert.
Rainer Maria Rilke zeichnet damit letztlich in seinem Gedicht ein Bild eines gefangenen, determinierten Individuums, welches völlig unfähig scheint, seinem Willen die nötige Möglichkeit zur Entfaltung zu geben, wodurch nach und nach von einer inneren Lähmung ergriffen wird. Von einem solchen Problem war auch Rilke selbst betroffen, welcher zur Zeit der Jahrhundertwende, in einer sich grundlegend verändernden, polarisierenden Gesellschaft lebte. Die meisten Dichter befanden sich so in einer völligen Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen. Oftmals waren sie absolut unfähig, sich in ihrer Umwelt frei entfalten zu können, sodass auch ihr Wille letztlich wie in einem Käfig hinter tausenden Stäben gefangen war.
Auch heute ist eine solche Problematik noch oder vielleicht auch gerade wieder aktuell: Wie viele Menschen folgen ihrem Willen und entfalten sich so, wie sie es wollen? Das Leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, wie sie damals existierte und wie sie heute existiert, fordert oftmals absolute Unterordnung und reine Funktionalität, wie auch die Sinneswahrnehmung des Panthers nur noch rein funktionell zu sein scheint. Die enorme Reizüberflutung, wie es sie heute gibt, wie sie aber auch die Dichter der damaligen Zeit, einer Zeit des Aufbruchs erlebten, lässt einen Großteil unserer wahrgenommenen Eindrücke lediglich verhallen, sodass sie wie auch beim Panther im Herzen aufhöre zu sein.
Determination und Gefangenheit scheinen Rilke nachhaltig geprägt zu haben, wenn er diese Aspekte in einem seiner berühmtesten Dinggedichte6 darstellt. Er wird letztlich ebenso orientierungslos gewesen sein, wie „sein“ Panther selbst, wodurch auch sein Wille einen Käfig gesperrt wurde. In jedem Fall basierte sein Kunstverständnis immer darauf, die Welt, wie sie bestand, mit all ihren Missständen, durch seine Gedichte zu heilen, wonach er also all jene Probleme durch die Schönheit und die Ästhetik seiner lyrischen Sprache beheben und seine Umwelt verbessern wollte. Inwieweit ihm dies gelang ist unklar und auch inwieweit er sich vielleicht selbst mit seiner Dichtung heilen konnte. Letztlich vertrat er jedoch immer die Auffassung: „Edle Lyrik ist das beste Heilmittel gegen die nüchterne Unrast jeder Zeit“.