Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Naturgedicht „Die Sternenreuse“ von Peter Huchel, erschienen im Jahre 1948, erzählt von dem lyrischen Ich, welches früher eine sehr starke Verbundenheit zur Natur, besonders dem Wasser hatte und sich durch das Wasser ganz nah am Universum und an den Sternen fühlte.
Das Gedicht ist in drei Strophen unterteilt. Die erste und zweite Strophe haben acht Verse, die dritte Strophe dagegen nur vier. Das Gedicht ist durchgängig im Kreuzreim geschrieben. Da immer nur vier Verse in einem Kreuzreim stehen, kann man aber auch von fünf Einheiten à vier Versen ausgehen. Das durchgängig jambische Versmaß wird an mehreren Stelle gebrochen, unter anderem durch die schwebende Betonung (Tonbeugung) des Wortes „damals“ in V. 19. Dies ist gleichzeitig ein Hinweis auf das Präteritum, in dem das Gedicht gehalten ist. Nur Vers eins fällt aus diesem Muster heraus.
Die erste Strophe beginnt mit einer direkten Anrede (V1, „du“) an den „uralten Mond“, der hier personifiziert wird (V. 1). Diese Anrede erfolgt in einer unvollständigen Frage im Präsens, die mit „dass“ beginnt.
Diese Frage löst den Rückblick des lyrischen Ichs aus:
Es hat vor langer Zeit an einem Fluss gewohnt, als der Mond noch jung war (vgl. V. 2).
Der Mond ist und war also immer da und drückt die Beständigkeit dieses natürlichen Elements aus. Jedoch altert der Mond so wie ein Mensch. Diese Alterung kann man hier logisch auf den Menschen übertragen. Eher soll also das Älter werden des Sprechers wiedergeben werden.
An dem Fluss hat der fiktive1 Sprecher nahe des Wassers, ein Motiv, dass sich durchgängig durch das Gedicht zieht, gewohnt und war eng damit verbunden. Das Wasser „lebte“ (Personifikation2) und war wohlmöglich so etwas wie ein wichtiger Lebensbestandteil. Es lebte auch im übertragenen Sinne, da es Geräusche machte. Die erste Strophe beschreibt genau die Vielfalt dieser Geräusche: „schallen”, „der Gesang”, „tönend springen”, „[nieder]rauschen” (vgl. V. 4-5, 6-7).
Das „Ich“ nimmt diese Geräusche wahr und „lauscht mit dem Atem“ (vgl. V. 6). Es ist mehr als pures Hören – es ist Erleben, Fühlen, Involviert sein in diese Kraft und Lebendigkeit des Wassers.
Ohne zu atmen kann man nicht leben, somit ist das Einatmen der Klangwelt des Wassers auch etwas existentiell Notwendiges. Die Alliteration3 „schäumend schoss“ (V. 8) bildet ebenso eine Klangwirkung, die auf das Wasser übertragbar ist. Auffällig sind die Konsonanten "sch" am Wortanfang. Diese findet man nicht nur in diesem Vers, sondern sie begleiten den Leser durch das ganze Gedicht ( vgl. V. 1 „schwebst”, V. 15 „schwamm”, V. 17 „schweben”). Die Dominanz dieser Konsonanten unterstützt formal die Klangwirkung und die Lebendigkeit des Wassers respektive der Landschaft.
Nach dem Sinnbereich Hören steht in Strophe zwei das Sehen und Beobachten im Vordergrund. Sehr bildlich wird der Fluss beschrieben, so wie er damals war, mit seinen Felsen, die in ihrer Formation einer Schleuse ähneln (vgl. V. 10). Dort hing die Sternenreuse (vgl. V. 12), ein Neologismus4 der sich wie folgt erklären lässt:
Die Reuse ist hergeleitet vom Sternenhimmel, der sich nachts im Wasser spiegelt.
Eine zweite Erklärung, die mit der Vorstehenden kongruiert, ist diese: Hebt man die Reuse aus dem Wasser bleibt ein Wasserfilm in den Maschen zurück. Reflektiert dann die Sonne in dieser Wasserhaut, funkelt die Reuse so bunt und kräftig wie der Sternenhimmel. Dies wird auch in der Metapher5:„Es flimmerten kristallne Räume“ (V. 14) ausgedrückt. Die Formulierung klingt überirdisch, es scheint sich etwas Wertvolles darin zu befinden. Eine andere kostbare fantastische Welt mit Platz für Träume. Im Bezug auf die Schleuse aus Vers 10 wird deutlich, dass nur die wertvollen, für das lyrische Ich wichtigen Dinge mit dieser Reuse gefangen werden: Gold und Träume. Der Sprecher sucht sich das schönste Gold, die fantastischen Träume und taucht in eine andere Welt ab.
Die Objekte, mit denen Huchel die Flusslandschaft beschreibt, sind typische Bestandteile der Natur: der Mond (V. 1), Steine (V. 7), Felsen (V. 9), Algen (V. 15) und Wald (V. 15). Die Landschaft ist also gar nichts Besonderes. Sie wirkt durch ihre Einfachheit. Nur für das lyrische Ich hängt sie mit besonderen Erinnerungen zusammen und wird dadurch zu etwas Einzigartigem.
Dass es sich um eine Erinnerung handelt, wird besonders durch das Wort „Damals” (V. 11) betont. Diese Landschaft und dieser Moment waren in der Vergangenheit so. Nun ist der fiktive Sprecher älter geworden, wohnt nicht mehr an diesem Fluss und kennt somit dessen momentanen Zustand nicht.
In der dritten Strophe ändert sich der Ton, ausgelöst durch den wehleidigen, bedauernden Ausruf „O” (V. 17). Hier werden nun das Auditive und Visuelle der beiden vorherigen Strophen vermischt. Die „Schlucht der Welt” (V. 17), die die Tiefgründigkeit des Lebens ausdrückt, liegt so tief und so unerreichbar in der Vergangenheit.
Dann wird der „Schwall des Wassers” angesprochen, der dem lyrischen Ich wie Gesang vorkommt (vgl. V. 17 f.). Dieser ist Auslöser für die Frage, die sich der fiktiven Sprecher stellt, die Frage, ob das vergangene Leben am Wasser sein Leben war (vgl. V. 18). Hat er damals, noch in der Nähe der Natur richtig leben können und tut er dies nun nicht mehr? Das würde die Wehmut des lyrischen Ichs erklären, die schmerzhafte Erinnerung an eine Zeit, in der es noch „richtig” gelebt hat (vgl. V. 17).
Denn in seiner Erinnerung, die wie bereits erwähnt durch die Tonbeugung des „damals” bewusst hervorgehoben wird, und damit die Vergänglichkeit dieses Moments verstärkt, sah er die Sternenreuse ganz nah im All schweben. Die Sternenreuse schwebte so, wie die Scheibe des Monds (vgl. V. 2) schwebte. Durch diese Parallele und Wiederholung scheint die Sternenreuse als ein selbstverständlicher Bestandteil des Universums. Somit fühlt sich auch der Mensch ganz nah am Universum, in der Unendlichkeit, in der sich Träume und Fantasien frei entfalten können. Sternenreuse und Himmel verschmelzen. Die Sterne, die sich vorher nur im Wasser gespiegelt haben, sind nun gleichwertig mit dem Sternenhimmel - Das All als Ganzes - Eine weitere Idee des Autors ist auch, dass das All, der Himmel erst durch die Sternenreuse seine Sterne erhält. Die Reuse ist also maßgeblich entscheidend für diesen natürlichen Prozess.
Peter Huchel versucht in seinem Gedicht die Geschichte eines Menschen zu erzählen, der sich durch den Mond an vergangene, schönere Tage zu erinnern versucht, die er im Einklang mit der Natur verbrachte. Entscheidend ist das Motiv der Sternenreuse, das für das lyrische Ich die Verbindung mit Wasser, einer magischen Welt und dem All darstellt. Die Beständigkeit des Mondes wird also der Vergänglichkeit des Momentes gegenübergestellt.
Das Gedicht entstand in einer Zeit, in der man sich den Anforderungen und Zwängen der sozialen Literaturpolitik in der DDR entziehen wollte. So war für viele Lyriker die Flucht in die Natur und in die Naturlyrik ein Ausweg.