Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Kurzgeschichte „Der Milchmann“ aus dem Jahr 1964 von Peter Bichsel schildert die Beziehung zwischen einer Frau namens Blum und einem Milchmann, die einander fremd sind, sich aber doch auf eine gewisse Weise meinen zu kennen.
Der Milchmann kommt täglich zu dem Stockhaus, in dem Frau Blum lebt, und findet dort Geld und den von ihr geschriebenen Zettel vor, auf dem sie üblicherweise 2 Liter Milch und 100 Gramm Butter bestellt. Außerdem steht dort Frau Blums verbeulter Milchtopf. Die beiden sind sich noch nie begegnet.
Die Anekdote am Anfang, die das Verhältnis der zwei Protagonisten erläutert, steht im Präteritum. Der Rest steht im Präsens. Dies weist daraufhin, dass diese Art von Situation immer aktuell ist.
Der Autor verwendet kurze Sätze, sodass der Text flüssig zu lesen und, wenn man das, was zwischen den Zeilen steht, auslässt, auch verständlich ist.
Auffällig ist, dass er bestimmte Wörter, die durch die Geschichte leiten und sie bilden, häufig wiederholt. Besonders hervor stechen die Namen der Hauptfiguren. Außerdem wird „kennen“, welches die Fremde hervorhebt, „schreiben“, welches auf den Kommunikationsweg hinweist, und „vielleicht“ und „wahrscheinlich“ oft erwähnt, welche die Spekulationen und Vorurteile hervorheben.
An Anfang und im Hauptteil des Textes schreibt er nur in Er- oder Sie-Form. Gegen Ende jedoch, wenn auch die Nachbarschaft einbezogen wird, wechselt er in die Wir-Form. Folglich ist zu vermuten, dass er ein Nachbar ist. Zusätzlich veranlasst jene Form den Leser dazu, sich angesprochen zu fühlen. So bezieht sich der Verfasser über den Leser auf die Gesellschaft.
Des Weiteren nutzt er viel indirekte Rede, innere Monologe und erzählt auktorial, was die Beziehungen und Gefühle der Handelnden ebenso hervorhebt.
Als Handlungsort wird lediglich das Hochhaus, in dem Frau Blum lebt, erwähnt. Folglich kann man davon ausgehen, dass alles in einer Stadt passiert, was dafür stehen kann, dass die in Städten lebenden Menschen sich oft fremd sind.
Obwohl die beiden Hauptpersonen unterschiedlich sind, haben beide dennoch eine Gemeinsamkeit, nämlich im übertragenem Sinne den Milchtopf. Sie denken nur aneinander, wenn sich jener vor ihnen befindet.
Frau Blum ist etwas feinfühliger und auch neugieriger einzuschätzen, da sie den Milchmann doch gerne näher kennenlernen würde, sich aber nicht traut. Wahrscheinlich aus Angst nicht den Mann zu treffen, den sie sich die ganze Zeit vorstellt. Das ist auch eine Begründung dafür, dass sie es nicht leiden könnte, wenn der Fremde der Nachbarin nicht fremd wäre. Der Milchmann jedoch meint seine Kundin schon zu kennen. Schließlich hat sie eine schöne Handschrift, immer die gleiche Bestellung, einen verbeulten Topf und das Bestreben keine Schulden zu machen. Durch dieses Verhalten wird gezeigt, wie desinteressiert der heutige Mensch teilweise daran ist, sich ein eigenes Bild zu machen. Oft ist es einfacher, Andere nicht nach Charaktereigenschaften, sondern nach Handlungen, Einkommen oder Aussehen zu beurteilen. Außerdem weist es auf den Unterschied zwischen Mann und Frau hin.
Bezüglich der Bedenken Frau Blums in den Augen des Unbekannten schlecht dazustehen, da sie einen verbeulten Milchtopf hat und manchmal aus Versehen etwas zu wenig Geld herauslegt, ist zu sagen, dass die Meisten es nicht ertragen können, ein schlechtes Image zu haben. Folglich versuchen sie sich in ein gutes Licht zu rücken.
Obgleich die Beiden sich noch nie begegnet sind, haben sie doch ein mehr oder weniger definiertes Bild von einander. Frau Blum denkt bei dem Milchmann an einen Mann mit sauberen, üppigen, rosafarbenen Händen. Der Milchmann aber erinnert sich an einen Sportler mit dem Namen Blum und abstehenden Ohren. Daher könnte er sich auch an ihr abstehende Ohren vorstellen. Dadurch wird ebenfalls verdeutlicht wie Menschen sich gegenseitig in Schubladen stecken, Vorurteile bilden und kaum Individualität des Anderen wahrnehmen.
Ebenfalls wird dies durch die Schlussfolgerungen und Vorstellungen der Nachbarn belegt.
Der Milchmann sei auf Grund seiner frühen Arbeitszeit und seiner Zuverlässigkeit pflichtbewusst und fleißig. Außerdem habe er wahrscheinlich ein kleines Einkommen.
Letztendlich weist der Autor auf genau dieses unbedachte Handeln der Gesellschaft hin.
Denn diese verstellt sich und urteilt vorschnell und versäumt so, tiefere Bindungen einzugehen und sich so zu geben, wie sie ist. Er fordert durch die Beschreibung einer alltäglichen, nachvollziehbaren Situation indirekt dazu auf, das eigene Handeln zu überdenken und sich eventuell zu ändern.