Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahre 1911, dem Entstehungsjahr des vorliegenden Gedichtes von Paul Zech, erreicht die Großstadtlyrik ihren Höhepunkt im Expressionismus. Zu dieser Zeit entstehen wegweisende Gedichte, wie A. Wolfensteins „Städter“, O. Loerkes „Blauer Abend in Berlin“ oder „Die Dämmerung“ von A. Lichtenstein, welche sich alle mit der Problematik des „neuen Menschen“ in einer ewig dunklen, grauen und hässlichen Stadt befassen. Trotz der zunächst mit simultanen Eindrücken überladenen Bilder, welche sie in ihren Gedichten benutzt, ist die Aussage der neuen wegweisenden Dichtergeneration äußerst nüchtern: das Individuum ist tot, der einzelne Mensch verliert rasant an Belangen, in dem er zu einem immer kleiner werdenden Teil einer Masse, Strömung wird. Dem Kampf gegen die bestehende Menschheit, schließt sich auch Paul Zech mit seinem Gedicht „Fabrikstraße tags“ an, indem er unverfälscht das sinnlose Alltagsleben des modernen Menschen darlegt.
Mit einem Sonett1 wählte Paul Zech eine sehr traditionelle Gedichtform. Generell besteht die Hülle des Gedichtes aus lauter altmodischen Komponenten und unterscheidet sich formal kaum von einem, beispielsweise, romantischen Gedicht.
Den beiden Quartetten liegt ein umarmender Reim zugrunde (ABBA-CDDC), die Terzette bestehen jeweils aus einer ersten Zeile, welcher ein Paarreim folgt. Die ersten Zeilen reimen sich wiederum untereinander (EFF-EGG, auch übergreifender Reim), womit wir durch den strukturellen Aufbau des Gedichtes einen Hinweis auf die thematische Gliederung erhalten.
Eine Achse lässt sich zwischen den Quartetten und Terzetten ziehen, welche das Gedicht in zwei Sinnabschnitte unterteilt (fortan als I. und II. Teil definiert). Diese Differenzierung beruht vor allem auf der Perspektive des lyrischen Ichs bezogen auf den Ort. Während der I. Teil eine bestimmte Fabrikstraße „ohne Gras und Glas“ (V. 1) beschreibt, in welcher „keine Bahnspur surrt“ (V. 3), hebt Paul Zech diesen bestimmten Ort im II. Teil auf.
Die Aufhebung von Raum und Zeit spielt in diesem Gedicht eine hochinteressante Rolle. Zunächst beachte man den Titel „Fabrikstraße tags“, welcher sowohl eine Ort- als auch eine Zeitangabe vorgibt. Nachdem man diesen Titel zu Gesicht bekommt, erwartet man zunächst ein sehr konkretes Bild, welches auch partiell in den ersten beiden Quartetten auftaucht. Doch bereits in Vers 4 taucht die Zeitangabe „Immer“ auf, welche einen absoluten Kontrast zum Titel herstellt. Je näher der Leser dem Ende des Gedichtes kommt, desto deutlicher erscheint die Lösung vom Titel.
In dem ersten Terzett entfernt sich Paul Zech nun auch von der vorher geschilderten Fabrikstraße. Die einzige Voraussetzung sind nun „Mauern, die nur sich besehn“. (V. 11).
Die Auflösung aller lokalen und zeitlichen Parameter erreicht ihren Höhepunkt im letzten Vers. Hier ist es bereits gleichwertig, welcher Mensch zu welcher Zeit was macht. Die Konsequenz bleibt unabhängig von der Situation die gleiche: „immer drückt mit riesigem Gewicht Gottes Bannfluch: uhrenlose Schicht“ (V. 13-14).
Geradezu paradox wirken die ständig auftretenden Enjambements2 und der dominierende Zeilenstil3 des ersten Quartetts in Bezug auf die doch so traditionelle Form.
Durch die Simultanität bestimmter Details erzeugt Paul Zech in der ersten Strophe eine äußerst deutliche Beschreibung der Kulisse.
In der zweiten Strophe folgt die Beschreibung des Menschen. Dabei übernimmt „ein Mensch“ (V. 5) die Funktion einer Synekdoche4. Es ist vollkommen gleichgültig welcher Mensch uns streift, denn alle Menschen sind hier gleich (pars pro toto). Sein Blick trifft seinen Gegenüber „kalt bis ins Mark“ (V. 6). In diesen Versen lässt Paul Zech einen sehr typisch expressionistischen Kritikpunkt deutlich werden, eben den bereits angesprochenen Individualitätsverlust.
Immer radikaler werden nun die verlorenen Menschen nach und nach, von Vers zu Vers enthüllt. Spätestens im ersten Terzett stellt sich dem aufmerksamen Leser die Frage: Weshalb leben diese Menschen? Worin liegt der Sinn des Lebens? Diese Thematik spielte nebenbei bemerkt im Expressionismus, der Vor- und Nachkriegszeit, eine bedeutende Rolle. Das Gehen zwischen all den Mauern schränkt den Menschen ein. Es hindert ihn am Denken. Und was ist das für ein Leben eines Menschen, dem das Denken verwahren bleibt? Wo doch das Denken die wohl mächtigste menschliche Eigenschaft darstellt.
Einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf dem letzten Terzett, welches uns quasi das Resultat darlegt. Nachdem wir nun festgestellt haben, dass Gedichtinhalt und Titel in einer ironischen Kontrastbeziehung zueinander stehen, wissen wir, dass die beiden letzten Zeilen eine furchtlose Wahrheit aussprechen, die nicht nur an Fabrikarbeiter einer bestimmten Straße gerichtet ist, sondern an eine gesamte Schicht, die in ähnlichen Verhältnissen verkehrt.
Dieser Schicht verleiht Paul Zech sogar einen eigenen Namen, welcher in kursiv präsentiert wird: uhrenlose Schicht.
Mit dieser scharfen Kritik verbindet Zech hier sämtliche negative Faktoren der bestehenden Menschheit. Er wirft ihr vor monoton zu handeln, eben unabhängig von der Tageszeit. Zudem zeigt er auf, wie der Mensch sich selbst „vernichtet“ hat, indem er solch hässliche Straßen erbaut hat, welche den Menschen deprimieren und dazu bringen unfreundlich gegenüber anderen zu handeln (V. 4-5), welche ihn in seinen Gedanken einengen und ihn völlig gleichgültig gegenüber seiner Umwelt agieren lassen.
Nun stellt sich noch eine zentrale Frage. Wieso ist die „uhrenlose Schicht“ (V. 14) ein Bannfluch Gottes? Wieso sollte der Allmächtige und allseits Gütige die Menschheit bestrafen wollen? Nun, Religion diente dem Menschen schon immer als eine Art höheres Ziel, außerhalb des Lebens, womit er für sein kurzes Leben auf der Erde einen Sinn, eine Motivation entdeckt. In diesem Ansatz wird der direkte Zusammenhang zwischen Gott und seinem Empfänger deutlich. Der Empfänger ist quasi verantwortlich für die Auswirkungen Gottes auf seine eigene Person. Der außenstehende Beobachter dieser „Fabrikszene“ erkennt, dass diese keineswegs ein glückliches Ende eines nach Freiheit, Intellektualität und Kreativität strebenden Menschen ist. Eher ist es eine Strafe, ein Fluch seiner selbst, den er nun zu tragen hat.
Paul Zechs Gedicht ist ein stiller, passiver Aufruf zu einer besseren und aufmerksameren Menschheit. Anstatt großer Parolen, schildert er typisch expressionistisch eben ein trauriges Schaubild irgendwo auf unserer Erde.
Interessant ist auch der Auftritt des lyrischen Ichs in Form des Personalpronomens „Du“, welches den Leser auch noch nach dem Ende dieses kleinen „Trauerspiels“ zumindest ein klein wenig betroffen macht.