Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Ein jeder empfindungsreiche Mensch kennt das Gefühl, welches sich mit dem versinkenden Licht der Sonne in den Geschäftsstraßen der Großstädte, in den bewussten Sinnen erhebt. Es ist ein Gefühl von melancholischer Ruhe im kreisenden Menschenstrudel. Die Beobachtungen schweifen umher und streifen Mensch um Mensch; mit jeder Berührung ein anderes Schicksal erfassend. Eindrücke einer Hatz wandern in den Geist. Einer Hektik, die eher taub wirkt, als durchdringbar.
Im Gedicht „Fußgängerzone“, von Olaf N. Schwanke, dringt der Leser in ein Bild ein. Er betrachtet einen beliebigen Moment, welcher die Zeit des nahenden Geschäftsschlusses abbildet. Die Menschen befassen sich mit ihrem hektischen Lauf; gedrängt vom Zwange noch schnell „Besorgungen zu machen“ bevor die Läden schließen, weil der bisherige Tag keine Zeit dafür ließ. „Gleich Geschäftsschluss!“ [Zeile 1], die panikverbreitende, über allem schwebende Nachricht und Gewissheit, verbreitet sich selbst aus allen Dingen und Gesichtern der Umgebung. Die gesamte, vom Autoren erschaffene, Szene wirkt künstlich und abstrakt - nicht in der Sprache, doch in der Wahrheit des dargestellten. Schwanke durchleuchtet mit geschickter Ironie die Ursprünge der Triebkraft, die die Menschen wie seelenlose Roboter durch die Straßen jagt: „was Wichtiges zu kaufen; parfümier'n ihr Leben“ [V. 3-4]. „Wichtiges“ ist natürlich nicht wirklich etwas wichtiges, doch das Ziel, oder die Intention eines jeden hetzenden Menschen, verfolgt ein individuelles Ziel. Nahezu willenlos taumeln die Personen in den Straßen ihrem entfremdeten Drange nach „lebensverschönernden Dingen“ hinterher und bemerken dabei nicht, dass sie materiellen Irrlichtern folgen, die erst als erhellend erscheinen, doch letztlich nur zur kurzzeitigen Ablenkung vom Dunkel des eigenen Lebens dienen. Alles ist schein.
Das Gedicht folgt einem bestimmten Reimschema mit dem folgenden Muster innerhalb der der ersten beiden Strophen: abba, bzw. cddc; es handelt sich in den ersten beiden Strophen also um umarmende Reime. Das Sonett1 verfügt über ein freies Metrum2.
Während in der ersten Strophe die festgehaltene Szene und Intentionen beschrieben werden, behandelt die zweite eher den Eindruck, den die Menschen geben, die Zeit und das Gefühl, welches die Umgebung abstrahlt. „Frost will sich verbreiten. Und beizeiten blaue Dämm'rungslichter“ [V. 5-6] Diese Zeilen könnten eine jahreszeitliche Einordnung ermöglichen, wenn man davon ausgeht, dass der „Frost“ zusammen mit der recht zeitig [„beizeiten“] einsetzenden „Dämmerung“ auf den kommenden Winter deuten. Gleichzeitig allerdings, könnte es sich aber auch um einen metaphorischen Einblick in die Herzen der Menschen handeln. Die Personifikation3 des Frostes - und die damit verbundene symbolhafte Kälte - stehen wahrscheinlich für die Abgestumpftheit der Menschen, erhärten den seelenlosen Eindruck des Lesers: keiner beachtet den Anderen, jeder beschreitet seinen Weg und ist für alles andere in der Umgebung blind und empfindungslos. Die „blauen Dämmrungslichter“ weißen auf eine mangelnde Fähigkeit zur Kommunikation hin. Stadt-Gedichte waren eher Expressionismus-typische Werke, die Annäherung an selbigen finden wir in Zeile 7: „[...] verzerrte Fast-Gesichter“. Die Verzerrung und „Verschrecklicherung“ der Wirklichkeit erinnert stark an die expressionistische Stadt-Lyrik. Durch sie verschwindet die Schönheit und macht geschichtslosen Gesichtern platz. Dies deutet auf einen enormen Individualitätsverlust hin. Auch die Dämmerungslichter werden personifiziert: „woll’n durch Kleidung gleiten“ [V. 8]. Das die zweite Strophe zur Abendzeit angesiedelt ist, muss eigentlich kaum erwähnt werden.
Mit Ausnahme der ersten Zeile, lässt sich im gesamten Gedicht der sogenannte Zeilenstil4 finden.
In der dritten Strophe liest man eine Empfindungsbeschreibung des Betrachters. Die Läden schließen und hinterlassen dort, wo den ganzen vergangenen Tag reges Treiben herrschte, eine leere Stille - die Menschen ziehen sich zurück, mehr oder weniger befriedigt. Der Geschäftsschluss erscheint als Rahmen unserer Welt, er bestimmt den Lebensablauf.
Mit Zeile 11 wird ein Bogen zur letzten Zeile gespannt. Die Stille wirkt erst erleichternd („Du empfindest es als heilsam“ [V. 10]), doch der unbewusste Drang ist kaum stillbar.
Das gegebene Reimschema der dritten Strophe entspricht: eea.
Nun (in der vierten und letzten Strophe) nimmt alles sein tägliches Ende. Die Ladengitter schließen, wobei das Wort „Eisengitter“ [V. 13] die Unumstößlichkeit dieses Vorganges unterstreicht. Auch hier stößt der Leser (und damit ist auch dieser Kreis zum Beginn des Gedichtes geschlossen) wieder auf die Ironie der scheinbaren Wichtigkeit der materiellen Dinge: „Das Geschäft für Schmuck und Glitter“ [V. 12]. Schmuck und Glitter stehen nach wie vor, für Illusion (Glitter) und Dekadenz5 (Schmuck), denn dies sind die Irrlichter, denen die Menschen an diesem Abend hinterherjagte - wie so viele Abende zuvor auch.
Das Gedicht schließt wie es begann. In der ersten Zeile prangte es noch als Befehl und Warnung am Himmel: „Gleich Geschäftsschluss!“.
Nun ist es Gewissheit und die Rückbesinnung des lyrischen Ich, warum all dies stattfand. Und so wiederholt es die Worte, diesmal - aufgrund des veränderten Satzzeichens - mit einer anderen, gesetzteren und vor allem: begreifenden Grundstimmung: „Gleich Geschäftsschluss“ [V. 14]
Eben!