Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Nachtgedanken“ wurde 1843 von Heinrich Heine (1797 – 1856), einem der wichtigsten deutschen Dichter und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, geschrieben und gliedert sich dabei inhaltlich in zwei Ebenen: Zum einen hält er hier schriftlich seine persönlichen Empfindungen gegenüber seiner Mutter fest, die er jahrelang nicht mehr gesehen hat, zum anderen beschreibt er aber auch die politischen Zustände bezüglich seines Heimatlandes.
Aufgrund der zeitlichen Einordnung sowie der inhaltlichen Thematik lässt sich das hier vorliegende Werk dem Vormärz zuordnen, einer Literaturepoche im Zweitraum zwischen der Julirevolution in Frankreich 1830 und der Märzrevolution 1848. Auslöser der Julirevolution war die Tatsache, dass der politische Einfluss des Adels erweitert und gleichzeitig die Pressefreiheit aufgehoben werden sollte, in dessen Folge sich die Bürgerinnen und Bürger zum Widerstand zusammen schlossen. Diese revolutionäre Einstellung teilten auch die deutschen Autoren des Vormärzes, denn mit ihren Werken forderten sie die Freiheit der Presse und ein demokratisches Deutschland, in dem die Gleichbehandlung aller Personen angestrebt werden sollte. Durch ihr politisches Interesse und Engagement legten sie ihren Fokus also auf die Schilderung von Problemen für das Volk, statt hauptsächlich auf Unterhaltungszwecke.
Diese revolutionären Ansichten teilte auch Heinrich Heine, welcher in Bonn, Göttingen und Berlin studierte, bevor er 1831 nach Paris siedelte, hauptsächlich bedingt durch seine politischen Ansichten und seiner jüdischen Herkunft. Zwar beginnt er dort erfolgreich seine zweite Schaffensperiode, doch wurden seine Werke in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes verboten.
Formal gliedert sich das Gedicht „Nachtgedanken“ in zehn Strophen mit jeweils vier Versen, welche einen regelmäßigen Paarreim aufweisen. Als Versmaß wurde größtenteils ein vierhebiger Jambus mit männlichen Kadenzen1 in den ersten beiden Versen und weiblichen Kadenzen in den jeweils letzten beiden Versen einer Strophe gewählt. An einigen wenigen Stellen der Strophen wurde diese Regelmäßigkeit jedoch durch einen Daktylus unterbrochen, um die dabei betroffenen Wörter in ihrer Bedeutung von dem Rest nochmals deutlicher hervorzuheben (vgl. V. 1 und V. 21).
Der gewählte Zeilenstil2 trägt maßgeblich zu dem gleichmäßigen und geordneten Gesamteindruck bei, mit Ausnahme der Verse 33, 35 und 37, wo Enjambements3 seitens Heinrich Heine gewählt wurden.
Der eher politisch orientierte Einstieg in das Gesamtwerk beginnt mit der populär gewordenen Anapher4 „Denk ich an Deutschland in der Nacht,/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ (V. 1f.). Beeinflusst durch seinen Aufenthalt in Frankreich schildert er seine Gedanken an die damalige Situation in Deutschland, welche unter anderem dafür gesorgt hat, dass Heine sich ins Exil nach Paris absetzen musste. Trotzdem empfindet er noch eine emotionale Bindung zu seinem Vaterland östlich von Frankreich, wenn er nachts bei seinen Gedanken „heiße Tränen“ (V. 4) vergießen muss.
Die nachfolgenden vier Strophen befassen sich inhaltlich mit der Beziehung zu seiner Mutter, welche noch in Deutschland lebt. Diese familiäre Situation wird über Heines gesamte Werk hinweg aufgegriffen, indem er oftmals die Sehnsucht zu seiner Mutter stellvertretend für seine Ansichten auf sein Heimatland Deutschland beschreibt. Hierbei ist die Zahl zwölf (vgl. V. 7, 18f.) von großer Bedeutung, denn sie steht für die Anzahl der Jahre, in denen die beiden schon voneinander getrennt leben. Daraus lässt sich schließlich auch stark vermuten, dass es sich bei dem hier vorliegenden Werk sehr wahrscheinlich um ein autobiographisches Gedicht handelt, da sich dies anhand zahlreicher biographischer Erkenntnisse über Heinrich Heine nachweisen lässt. Er wird daher in dieser Interpretation als Synonym zum lyrischen Ich verwendet.
Zur dritten Strophe wird mit dem Chiasmus „Es wächst mein Sehnen und Verlangen,/ Mein Sehnen und Verlangen wächst“ (V. 8f.) übergeleitet, was in Verbindung mit der Aussage „Die alte Frau, die Gott erhalte!“ (V. 12) darauf schließen lässt, dass Heine einen baldigen Besuch seiner Mutter nicht in Betrachtung zieht und daher seine Hoffnungen in den Glauben an die Unterstützung von Gott setzt. Die Leserschaft erfährt im Weiteren von dem Briefwechsel zwischen dem Autor und seiner Mutter, bei dem die Sehnsucht von ihr erwidert wird, da sie beim Schreiben der Briefe vermutlich nicht ruhig bleiben kann und daher zittert, bedingt durch die hitzigen und begehrenden Gedanken an ihren Sohn (vgl. V. 15). Es wird also nochmals durch einen Vergleich unterstrichen, „Wie tief das Mutterherz erschüttert“ (V. 16) ist, da sich die beiden seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen haben. Die fünfte Strophe rundet diesen Gesamteindruck ihrer unglücklichen Beziehung ab, indem die Wortwiederholung der Zahl zwölf in einem Parallelismus verpackt wurde und innerhalb dieser Zeitthematik („Zwölf lange Jahre“, V. 18f.) ein Wechsel der Zeitform von Präsens zu Präteritum ersichtlich ist.
Inhaltlich findet nun ein Wandel der Themen statt, denn Heinrich Heine fokussiert sich nun hauptsächlich auf sein Heimatland statt von seiner Mutter zu berichten (mit Ausnahme von der siebten Strophe).
Die ziemlich ironisch wirkende sechste Strophe verleiht dem beschriebenen Inhalt eine verstärkte, gegensätzlich bedeutende Wirkung, wenn Heine über Deutschland von einem „kerngesunde(n) Land“ (V. 22) spricht, welches von „ewige(m) Bestand“ (V. 21) ist. Aufgrund seiner politischen Ansichten bezüglich seines Herkunftslandes besitzt Deutschland daher besonders wegen seiner dort lebenden Mutter noch eine große Bedeutung, da sie im Gegensatz von einer Vergänglichkeit gekennzeichnet ist und ihr Sohn sich Sorgen um sie macht. Im Umkehrschluss kann man aus diesem Ausspruch auch entnehmen, dass Deutschland für Heine keine all zu große Gewichtung mehr besitzt, sollte man die Aussage „Das Vaterland wird nie verderben“ (V. 27) erneut ironisch verstehen.
In der achten und neunten Strophe wird Bezug auf die Personen genommen, welche aus seinem engeren Bekanntenkreis aus Deutschland schon alle gestorben sind seit er nach Frankreich ausgewandert ist. Dazu gehören auch zahlreiche bekannte deutsche Autoren und Dichter, sodass er seine Empfindung und Meinung gegenüber der Situation in Deutschland in der Allgemeinheit formuliert, statt sie nur auf sich und seine Mutter zu beziehen. Die insgesamt pessimistische Grundstimmung wird hierbei durch stark negativ konnotierte Begriffe wie beispielsweise „Grab“ (V. 30), „Qual“ (V. 34) und „Leichen“ (V. 35) unterstrichen, um die Leserschaft auf bildlicher Ebene noch stärker in deren Gefühlswelt anzusprechen, und dies auch nicht zuletzt mithilfe der Metapher5 „verbluten meine Seele“ (V. 32).
Innerhalb der letzten Strophe nimmt Heinrich Heine einen Vergleich vor, indem er Deutschland und Frankreich gegenüber stellt, wobei ersteres mit „Sorgen“ (V. 40) und letzteres mit „heitre(m) Tageslicht“ (V. 38) assoziiert wird. Seine nächtlichen Gedanken (vgl. Titel „Nachtgedanken“) an die ernüchternden und erdrückenden Umständen in seinem ursprünglichen Heimatland werden also durch die einstrahlenden Lichtstrahlen unterbrochen und können als eine Erlösung gedeutet werden beim Wechsel von der Dunkelheit zur Helligkeit. Dafür sorgt auch seine Frau, welche ihn durch ihr schönes Lächeln nicht mehr an die „deutschen Sorgen“ (V. 40) denken lässt, und ihn womöglich als weibliche “Ersetzung“ von den schmerzhaften Gedanken an seine Mutter ablenkt und neue ihm neue Hoffnung schenkt.
Anhand dieser Ausführungen lässt sich daher abschließend feststellen, dass Heinrich Heine hier sehr wahrscheinlich ein autobiographisches Werk erschaffen hat, welches anhand seiner persönlichen Qualen durch die Pressezensur in Deutschland die Empfindungen einer ganzen Generation gegenüber dem politischen System verdeutlicht. Durch seinen Aufenthalt in Frankreich möchte er aber seinem Heimatland nicht dauerhaft den Rücken kehren, und hofft daher auf die nötigen revolutionären Veränderungen, um wieder zurück in das Deutschland zu siedelt, nach dem er sich sehnt.