Erschließung
Das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff aus dem Jahre 1837 fällt zeitlich nicht mehr in die Epoche der Romantik, kann dieser inhaltlich jedoch klar zugeordnet werden. Das Gedicht ist von romantischen Motiven durchzogen und handelt von einem Naturszenario und dessen Wirkung auf das lyrische Ich. Eigentlich war die Entstehungszeit dieses Gedichts von politischen und gesellschaftlichen Spannungen und wichtigen Ereignissen in Europa, vor allem aber in Deutschland, geprägt, welche großen Einfluss auf den Verlauf der deutschen Geschichte nehmen sollten. Diese sich immer weiter verstärkenden Spannungen zur Zeit des sogenannten Vormärz´ fanden schließlich in der Märzrevolution 1848 ihren Höhepunkt. Zu den wichtigsten Ereignissen dieser Zeit zählt die Restauration 1815 nach dem Sieg über das hegemoniale Frankreich unter Napoleon, bei welcher die alten Machtverhältnisse in Europa wiederhergestellt wurden, wodurch die fortschrittlichen und nationalistischen Hoffnungen vieler Bürger enttäuscht wurden. In Frankreich kam mit Ludwig XVIII erneut ein Bourbonenkönig an die Macht und „Deutschland“ blieb ein, nun zwar nicht mehr in über 300, sondern in 60 Fürsten- und Königtümer zersplitterter Flickenteppich. Auch die Karlsbader Beschlüsse von 1819, welche die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränkten, führten zu Empörung unter dem gebildeten Bürgertum. Schließlich ließ noch die Entlassung der sogenannten „Göttinger Sieben“ 1837, alles gelehrte Professoren, darunter auch die Gebrüder Grimm1, den Revolutionsgedanken und das Aufbegehren gegen absolutistische, ohne Verfassung regierende Monarchen weiter gedeihen. All dies waren wichtige Ereignisse, die das politische Tagesgeschehen bis 1837 bestimmten. Und trotzdem lässt sich in Eichendorffs Gedicht nichts von alledem finden. Es ist rückwärtsgewandt und beschäftigt sich mit der Natur und der Erfahrung mit dieser, fernab von jeglicher Zivilisation oder politischen Konfrontation. Genau deswegen kann es der Epoche der Romantik zugeordnet werden, da diese in erster Linie unpolitisch ist und sich mit Dingen abseits des aktuellen Tagesgeschehens beschäftigt.
Wie bereits erwähnt, beschäftigt sich das Gedicht inhaltlich mit einem Naturszenario und dessen Wirkung auf das lyrische Ich. Zu Beginn wird von einem Sonnenuntergang und dem damit zusammenhängendem Einbruch der Nacht berichtet. Das dazu verwendete Bild, das gezeichnet wird, ist der Kuss zwischen Himmel und Erde. Dieser wird als etwas Positives porträtiert und es wird davon ausgegangen, dass die Erde nun wörtlich von diesem Kuss träumen müsse. Dies kann jedoch nicht mit Gewissheit behauptet werden, weshalb der Dichter hier den Konjunktiv verwendet. Anschließend wird die nun nächtliche Natur beschrieben. Die Nacht ist sternenklar und der Wind weht, was dazu führt, dass die Vegetation von diesem bewegt wird. In der letzten Strophe tritt erstmals das lyrische Ich auf. Man erfährt die Wirkung der zuvor beschriebenen Naturerfahrung auf dessen Seele. Diese Empfindungen scheinen das lyrische Ich in einen irrealen Bewusstseinszustand zu versetzen, in welchem sich die Seele vom Körperlichen trennt und in eine nicht näher definierte Heimat fliegt.
Das Gedicht ist in drei Strophen mit jeweils vier Versen aufgeteilt. Alle Strophen weisen einen Kreuzreim auf. Die Verse unterliegen dem Metrum2 eines dreihebigen Jambus und es finden sich regelmäßig alternierende männliche und weibliche Kadenzen3. Dieser Strophenaufbau wird als Volksliedstrophe bezeichnet. Zudem haben alle Strophen die Eigenschaft, dass sie aus jeweils genau einem Satz bestehen. Die erste und dritte Strophe berichten beide von transzendentalen Ereignissen, während die zweite im Irdischen verhaftet bleibt. Außerdem weisen diese eine gewisse Spiegelsymmetrie auf, da beide Enjambements4 und Konjunktive beinhalten. Es bietet sich daher an, die Strophen des Gedichts in eine Binnen- und zwei Außenstrophen zu unterteilen.
Sprachlich fallen in diesem Gedicht einige Besonderheiten auf. Die bereits erwähnten Konjunktive (V. 1/4/12) beschreiben irreale und übernatürliche Phänomene wie das Küssen von Himmel und Erde oder das Fliegen der Seele zu einer jenseitigen Heimat. Sie sorgen dafür, dass der Rest des Gedichts, welcher im Indikativ verfasst ist und von durchaus realen Naturbeobachtungen handelt, mit dem Übernatürlichen und Göttlichen verschmilzt. Weitere Besonderheiten der Sprache, die zu einer Verschmelzung von Natur, Mensch und Tier führen, sind die Personifikationen5, die das Gedicht durchziehen (V. 2/4/5). So werden der Natur Fähigkeiten wie das Küssen und Träumen verliehen (vgl. V. 2/4). Die Beschreibung des Seelenfluges führt zu einer Trennung der Seele vom Irdischen und Körperlichen, wodurch sie nun die Fähigkeit des Fliegens hat (vgl. V. 9-12). Diese Trennung kann als etwas Positives gesehen werden, da der Wunsch fliegen zu können untrennbar mit der Sehnsucht nach der Freiheit verbunden ist. So auch schon im antiken Ikarus-Mythos.
Des Weiteren finden sich in den Versen sieben und acht Inversionen6, welche die möglichst detailreiche Beschreibung der Natur betonen. Eichendorff hebt die Wörter „rauschten“ (V. 7) und „so sternklar“ (V. 8) hervor. Durch die bewusste Veränderung der Satzstruktur wird das Naturszenario für den Leser greifbarer, da dadurch vor allem die Beschaffenheit der Natur in den Vordergrund rückt. Zusätzlich fällt in dem Gedicht eine Häufung von Adjektiven auf, welche die Umgebung näher beschreiben. So vermitteln Wörter wie „still“ (V. 2 und 11), „sacht“ (V. 6) und „leis“ (V. 7) eine entspannte und vor allem friedvolle Atmosphäre, die in einem starken Kontrast zum damaligen Tagesgeschehen steht.
Neben den bereits herausgearbeiteten Besonderheiten finden sich auch noch einige sprachliche Mittel, die dem Gedicht einen klanglichen Charakter verleihen. Dies ist besonders typisch für die romantische Lyrik. So sind zum Beispiel in einigen Versen zwei Wörter durch einen gleichen oder wenigstens gleichklingenden Aus- und Anlaut miteinander verbunden (vlg. V. 1/3/12). Dies sorgt für einen runderen Lesefluss, was vor allem im ersten Vers deutlich wird. Durch die Elision des Vokals „e“ bei „hätt´“ (V. 1) (eigentlich „hätte“) und den gleichklingenden Konsonanten „d“ beim darauffolgenden Wort „der“ (V. 1) erlangt dieser Vers einen verschmelzenden Charakter und zwei Wörter, welche bei korrekter Aussprache eine kurze Sprechpause erfordert hätten, können nun fließend als Ganzes vorgetragen werden. Auch die Assonanzen7 (V. 1/5/9/12) in diesem Gedicht sorgen für eine klangliche Atmosphäre und haben wesentlichen Anteil an der Grundstimmung des Gedichts.
Das Gedicht ist repräsentativ für die Epoche der Romantik und enthält viele Motive, die mit dieser in Zusammenhang stehen. So lassen sich aus dem Gedicht zum einen einige religiöse Metaphern8 und Allegorien9 herausarbeiten. Gleich zu Beginn ist die Rede von dem Kuss zwischen Erde und Himmel (vgl. V. 1 f.). Dies kann zum einen als Verschmelzung des Irdischen, Weltlichen mit dem Überirdischen, Transzendenten gesehen werden. Zusätzlich findet man dieses Motiv auch in der antiken griechischen Mythologie. In dieser sind die Erde, genannt Gaia, und der Himmel, Uranos, Götter, welche sich vermählten und dadurch „vereinigten“. Aus dieser Vereinigung gingen auch zahlreiche Kinder hervor, welche die Vorfahren der olympischen Götter waren. Diese Vereinigung zwischen Gaia und Uranos kann also als etwas Fruchtbares und Positives, ja als der Beginn des griechischen Götterkults gesehen werden. Eichendorff nutzt diese Parallele, um einen Sonnenuntergang zu beschreiben, welcher die Nacht einläutet und damit etwas für die Romantiker Positives beginnen lässt. Anders als die Aufklärer suchten sie die Erfahrung in der Nacht und portraitierten sie als etwas Inspirierendes und Schöpferisches. Die Nacht ermöglicht erst intensive Erfahrungen mit der Natur und lässt sie in einem anderen Licht erscheinen. Die Blüten schimmern (vgl. V. 3) und dank der Dunkelheit ist auch der klare Sternenhimmel zu sehen (vgl. V. 8). Das Motiv des Sternenhimmels wird immer wieder mit der himmlischen Sphäre im Sinne der christlichen Spiritualität in Verbindung gebracht. Auch in diesem Gedicht hat der beschriebene Sternenhimmel eine starke Anziehung auf das lyrische Ich. Er veranlasst dessen Seele „weit ihre Flügel aus[zuspannen]“ (V. 10) und erweckt den Wunsch durch die nächtliche, stille Landschaft „nach Haus“ (V. 12) zu fliegen. Hier wird eine gewisse Todessehnsucht oder zumindest der Wunsch des Aufsuchens von todesnahen Grenzerfahrungen deutlich, denn vor dem Tod kann keine endgültige Vereinigung der Seele mit Gott, beziehungsweise dem jenseitigen Ort, stattfinden. Daher ist dieser Vers auch im Konjunktiv verfasst, wodurch der Seelenflug zu jenem Ort im Ungewissen verhaftet bleibt. Das lyrische Ich sehnt sich jedoch nach der spirituellen und religiösen Erlösung im christlichen Sinne. Daran wird der Wunsch der Romantiker nach dem Aufsuchen und Erleben von solchen Grenzerfahrungen und Schwebezuständen deutlich, da in der letzten Strophe eben nur die Sehnsucht und Annäherung zum Tod und der Erlösung, nicht aber der Übertritt zu diesem, beschrieben wird. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass Eichendorff durch die sprachliche Gestaltung und Verwendung von religiösen Allegorien sowohl seine Sehnsucht nach der Vereinigung der Seele mit Gott und damit der Erlösung im christlichen Sinne als auch seine Hinwendung und Liebe zur intensiven Naturerfahrung ausdrückt.
Wie bereits einleitend erläutert, wurde das Tagesgeschehen zur Zeit des Vormärz´ von äußerst bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Themen bestimmt. Die positiven Gedanken und Errungenschaften der Aufklärung wurden sukzessive rückgängig gemacht, Verfassungen zurückgenommen oder temporär ausgesetzt und die Machtverteilung wieder durch den alten Legitimationsbegriff des Gottesgnadentums gerechtfertigt. Der Staatsapparat wurde immer häufiger zur politischen Repression von gebildeten und progressiven11 Bürgerbewegungen genutzt, die für ihre Ziele, wie die der freien Meinungsäußerung und der Mitgestaltung des politischen Tagesgeschehens, eintraten. In diese brisante Zeit fällt nun auch das Gedicht Joseph von Eichendorffs, welches, anstatt diese Thematik aufzugreifen, die bildhafte Impression einer Sommernacht vermittelt und den Alltag somit verklärt, indem er ihn ins Mystisch-außergewöhnliche transportiert. Die Zivilisationsflucht und Abkehr vom politischen Tagesgeschehen und der Realität ist die Reaktion auf die Krise dieser Zeit und erscheint nachvollziehbar, doch ist es meiner Meinung nach höchst verantwortungslos in solchen Zeiten rückwärtsgewandt zu denken, den Charakter des Mittelalters zu verzerren und sich nach derartigen Zuständen zurückzusehnen. Die Pflicht eines jeden gebildeten Bürgers wäre es, sich gegen den Deutschen Bund und dessen Versuch, Europa in seine vorrevolutionäre Gestalt zu bringen sowie die obrigkeitsstaatliche Unterdrückung aller oppositionellen Bewegungen zu stellen. So wie es beispielsweise auch Heine oder Büchner taten.