Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahre 1916 veröffentlichte der deutsche Buchhändler und Lyriker Wilhelm Klemm (1881- 1968) das Gedicht „Meine Zeit“, welches die grausame und aussichtslos erscheinende Situation der Bevölkerung innerhalb der Großstädte während des ersten Weltkrieges thematisiert.
Sowohl durch die zeitliche Einordnung als auch durch die befasste Thematik lässt sich das hier vorliegende Gedicht dem Expressionismus zuordnen, einer Literaturepoche mit dem Ursprung im 19. Jahrhundert, welche sowohl durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges als auch durch zahlreiche technische Erfindungen und Neuerungen geprägt wurde. Dies führte ziemlich schnell zu einer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit innerhalb der gesamten Bevölkerung.
Schon auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass formal der Aufbau durch ein Sonett1 beschrieben wird, welches eigentlich ein Charakteristikum aus der Epoche des Barock darstellt. Die zwei Quartette weisen dabei einen umarmenden Reim und die Terzette einen Schweifreim auf. Diese Zäsur2 zeigt auch syntaktische Auffälligkeiten, da hier ein Wechsel von einer parataktischen (Quartette) hin zu einer hypotaktischen Schreibweise (Terzette) stattfindet, wobei das gesamte Werk sowohl durch Enjambements3 als auch durch den Zeilenstil4 abwechselnd gekennzeichnet ist.
Auch inhaltlich wird hier ein Bruch deutlich, da nach einer Beschreibung der Großstadt mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern das lyrische Ich seine eigenen Gefühle und Empfindungen demgegenüber schildert.
So beginnt die erste Strophe mit der Deskription der Bauwerke und der Infrastruktur einer Großstadt (vgl. V. 1 „Riesenstädte“), wie es oft zentral in expressionistischen Werken vorgenommen wird. Die neuartige und moderne Architektur, bedingt durch fortschrittliche Technik, wirkt dabei mit all den zahlreichen Entwicklungen zunehmend bedrückend auf die Bevölkerung, was durch den Neologismus5 „Traumlawinen“ (V. 1) unterstrichen wird. Als Übergang zum zweiten Vers kann der Begriff „Lawine“ aber auch für die gewaltsame Zerstörung der Städte, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, stehen. Da es im Krieg natürlich auch immer Verlierer gibt, verlieren zahlreiche Länder einen Großteil ihrer Bevölkerung. Die „verblasste(n) Länder“ (V. 2) sind also eine Folge von dem Massensterben der Bevölkerung oder von den Fluchten der Menschen in sichere Gebiete. Eine andere Schattenseite durch die kriegerischen Folgen zeigt sich durch die vermehrte Prostitution der Frauen („Die sündigen Weiber“, V. 3), um neben der Führung des Haushaltes Geld für beispielsweise Lebensmittel zu erwirtschaften. Entweder wurden sie nur zeitweise von ihren Ehemännern durch ihre Tätigkeit im Krieg alleine gelassen, oder die Soldaten bezahlten ihren Einsatz früher oder später mit ihrem eigenen Leben. Durch den „Sturm auf Eisenschinen“ (V. 4) soll zum einen die fortschreitende Technik innerhalb und zwischen den Großstädten hervorgehoben werden, welche für die damalige Bevölkerung nicht selten als bedrohlich empfunden wurde, zum anderen stehen die Eisenbahnen für den Transport der Soldaten an ihren jeweiligen Einsatzort.
Diese insgesamt düstere Stimmung wird auch in der zweiten Strophe aufgegriffen unter erneuter Bezugnahme der Technologien, welche für kriegerische Zwecke verwendet wurden. Die Kriegsflugzeuge (vgl. V. 5 „In Wolkenfetzen trommeln die Propeller“) sollen so beispielsweise zeigen, dass man als Bewohnerin oder Bewohner einer Großstadt in ständiger Angst leben muss und der Krieg jeder Zeit näher denn je wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite wird in dem Gedicht aber auch auf gebildete Personen Bezug genommen, welche den Krieg ohne Waffen aufhalten wollen. Klemm schreibt hier metaphorisch von „Büchern“ (V. 6), welche zu „Hexen“ (V. 6) werden, wobei diese Druckwerke allgemein für die Bildung beziehungsweise für einen breiteren und differenzierteren Blickwinkel auf die gesamte kriegerische Situation stehen. Dabei werden sie jedoch verfolgt, ganz ähnlich wie bei einer Hexenverfolgung, was wiederum ganz unweigerlich die Menschlichkeit insgesamt schmälert (vgl. V. 7 „Die Seele schrumpft“). Die im achten Vers angeführte „Kunst“ soll dabei symbolisch als Kreativität, Diversität und Maßstab für Andersdenkende gesehen werden, ähnlich der gebildeten Menschen, welche bestrebt sind, den Krieg auf jegliche schonende Weise zu unterbinden. Durch die Verbindung des Adjektives „tot“ (V. 8) zeigt sich, dass jedoch die große Mehrheit der Bevölkerung als “gleichgeschaltet“ angesehen werden soll, wodurch die kriegerischen Auseinandersetzungen nicht unterbindet werden können.
Das Ende des zweiten Quartetts befasst sich zum ersten Mal direkt mit dem Thema “Zeit“, so wie es bereits in dem Titel des Werkes angekündigt wird, denn die „Stunden kreisen schneller“ (V. 8). Das lyrische Ich weist hier auf das Ende der Lebenszeit hin, welche in solchen Ausnahmezuständen wie dem Krieg allgegenwärtig ist. Dieses Motiv der Vergänglichkeit (Memento- Mori Gedanke) ist dabei neben der äußerlichen Form des Sonetts schon das zweite Charakteristikum des Barocks.
Die Zäsur beim Übergang zu den beiden Terzetten leitet einen inhaltlichen Wandel ein, weg von der Beschreibung einer Großstadt und hin zu den Gefühlsbeschreibungen des lyrischen Ichs. Bereits zu Beginn wird der Leserschaft hier eine trauernde Empfindung durch den Ausruf „O meine Zeit!“ (V. 9) dargestellt, in dem die Bedeutsamkeit der eigenen Existenz auf der Erde beklagt wird. Dieser Eindruck gewinnt besonders an Gewichtung, weil man die eigene Lebenszeit zu selten schätzt und sie generell im hektischen Alltag oftmals vergessen wird (vgl. V. 10 „So daseinsarm im Wissen“) beziehungsweise die Menschen in solchen Zeiten nicht selten ohne eine Orientierung ihr Leben verbringen. Die Bedeutung des Faktors “Zeit“ wird dabei in dem elften Vers durch eine Wiederholung („keine, keine“) und einem Vergleich („Wie du“) innerhalb einer Ansprache besonders hervorgehoben.
Das zweite Terzett präsentiert eine ausschließlich finstere Atmosphäre, nicht zuletzt durch das apokalyptische Symbol der „Sphinx“ (V. 12), im griechischen Mythos ein Mischwesen aus Mensch und Tier, welches als Synonym für Gefahr und Unheil und somit in Bezug auf den Inhalt des Gedichtes auch stellvertretend für die “Zeit“ (besonders im Ersten Weltkrieg) angesehen werden kann. Dabei nimmt das lyrische Ich hier in einer direkten Ansprache unter Verwendung einer Personifikation6 (vgl. V. 13 „Du aber sieht am Wege rechts und links“) Bezug auf die Zeit und schreibt ihr auch für die Zukunft keine befriedigenden Aussichten zu.
Der letzter Vers spitzt anschließend die insgesamt schon düstere Stimmung des Gedichtes durch eine Anhäufung von sehr negativ konnotierten Wörtern (vgl. V. 14 „Furchtlos vor Qual des Wahnsinns Abgrund weinen!“) weiter zu und kann somit abschließend auch als Zusammenfassung für ein Gedicht gesehen werden, welches durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges maßgeblich beeinflusst wurde. Mithilfe einer metaphorischen Sprache werden der Leserschaft hier die Umstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, was durch die gewählte Thematik der “Zeit“ auch eine Mahnung für zukünftige Generationen vor möglichen kriegerischen Auseinandersetzungen darstellen kann, wodurch das Werk von Wilhelm Klemm auch heute nicht an Aktualität verloren hat.