Autor/in: Matthias Claudius Epoche: Empfindsamkeit Strophen: 7, Verse: 42 Verse pro Strophe: 1-6, 2-6, 3-6, 4-6, 5-6, 6-6, 7-6
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!
Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!
So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Abendlied stammt aus der Feder des Dichters Matthias Claudius. Veröffentlicht wurde es im Jahr 1779. Heute kennt man es vor allem unter dem ersten Vers „Der Mond ist aufgegangen“ in der Vertonung von Johan Abraham Peter Schulz. Vorlage für das Gedicht, von dem Matthias Claudius auch einige Verse in abgewandelter Form übernommen hat, war jedoch ein Gedicht von Paul Gerhardt aus dem Jahr 1647. Man sieht: es handelt sich bei dem Abendlied um ein Kunstwerk, das die Zeiten überdauert hat, indem es in vielfacher Weise auf nachkommende Künstler Einfluss genommen hat. Die heute bekannte Vertonung, die der ein oder andere vielleicht noch als Gute-Nacht-Lied zum Einschlafen vorgesungen bekommen hat, ist nur eine von über 70 Vertonungen.
Matthias Claudius war ein Journalist und Dichter aus dem deutschen Norden. Er lebte von 1740 bis 1815, publizierte einige Artikel in Zeitungen, arbeitete als Redakteur und setzte sich für die Deutsche Literatur und Dichtung ein. Er schrieb schon in jungen Jahren Erzählungen und Gedichte, die durch einen volksliedhaften, sehr bodenständigen Charakter geprägt waren. Berühmt geworden ist von Matthias Claudius auch das Gedicht „Der Tod und das Mädchen“, das in der berühmten Vertonung von Franz Schubert auch heute noch aufgeführt und gehört wird. Seine Gedichte sind teilweise in die Sammlung von Kirchenliedern aufgenommen worden und werden auch heute noch in den Kirchen gesungen.
Matthias Claudius galt erstaunlicherweise nicht wirklich als ein Kind seiner Zeit. Mit den aufklärerischen Bestrebungen, die damals ganz Deutschland in ihren Bann gezogen hatten, konnte Claudius nicht viel anfangen. Es gab zahlreiche Bemühungen um Erneuerungen der deutschen Sprache, um eine Weiterentwicklung der literarischen Gattungen und Formen, die von Claudius aber nur skeptisch beäugt und auch teilweise in den Zeitungen von Claudius öffentlich angegriffen wurden. Das Hauptthema für Matthias Claudius, das, was ihm wirklich am Herzen lag, war jedoch gerade in späteren Jahren der christliche Glauben, der in der Zeit der Aufklärung und mit dem Triumphzug der Wissenschaften immer mehr an Einfluss und auch an Überzeugungskraft eingebüßt hatte. Matthias Claudius war ein christlicher und religiöser Mann. Heute würden wir sagen, er war konservativ, vielleicht würden wir sogar meinen, dass er rückwärtsgewandt gewesen sei. Man könnte aber auch sagen, er bemühte sich um die alten deutschen Traditionen, um die gewachsene deutsche Sprache, um das Volkstümliche und eben um eine tief empfundene Religiösität. Ein strenger, puritanischer Gottesglaube, der für den deutschen Norden charakteristisch war. Für die angestrebten, auch durch die Aufklärung in die Wege geleiteten Bemühungen um kirchliche Reformen, konnte Matthias Claudius deshalb nicht viel übrig haben. Diese Religiösität spielt auch in dem Gedicht ‚Abendlied‘ eine große Rolle, und wir wissen mehr über sie, wenn wir uns das Abendlied näher anschauen.
Beim Abendlied handelt es sich um ein 7-strophiges Gedicht mit jeweils sechs Versen. Orientiert man sich an den Vertonungen des Gedichts, die manche Silben durch längere Töne sozusagen in die Länge ziehen und damit eine weitere Silbe als Ton hinzufügen, kann man von einem 4-hebigen durchgehenden Jambus ausgehen. Gemeint ist damit die Verdopplung der Vokale beispielsweise in: „Der Mond ist aufgega-a-ngen/ Die goldnen Sternlein pra-a-ngen“ (V. 1-2) Dies betrifft streng genommen nur die Vertonungen, die jedoch heutzutage so eng mit dem Gedicht verwoben sind, dass sie auch Einfluss auf unsere Leseerfahrung haben. So sehr, dass es schwerfällt, das Gedicht zu lesen, ohne die Melodie im Kopf mitzusingen. Ansonsten, schaute man nur auf das Gedicht, müsste das Versmaß als dreihebiger Jambus gedeutet werden, bei der lediglich der letzte Vers einer Strophe den genannten vierhebigen Jambus aufweist. Das Reimschema nennt man Zwischenreim oder auch Schweifreim und sieht folgendermaßen aus: (aabccb).
Worum geht es im Abendlied von Matthias Claudius? Ist es ein Schlaflied, in der der abendliche Himmel besungen wird? Ein Gedicht über den Mond und die Sterne am Firmament? Wer aus der Erinnerung nur die ersten Strophen kennt, wird davon vielleicht ausgehen. Doch der Schein trügt. Das eigentliche Thema ist der Glauben und das Vertrauen in Gottes Wirken. Das Abendlied ist der Gattung nach nicht einfach zu bestimmen. Es ist angelehnt an religiöse Gesänge und Lieder. Der thematische Bezug zur Nacht ist wiederum ein häufiges Thema in Volksliedern. Auch wird das, was in der Natur geschieht, thematisch. Das Naturgeschehen wird aus der Ferne betrachtet, in ihm wird das geheime Wirken Gottes und die Planmäßigkeit des göttlichen Heilsgeschehen erfahren. Und doch, – dass hier die Natur eine fast eigenständige Bedeutung einnimmt, dass der Mond besungen wird, – das weist schon ein wenig voraus, in das was die Frühromantik um 1800, also als Matthias Claudius noch lebte, bringen wird.
Auch der Titel Abendlied verweist schon darauf, dass hier die Gattung des Gedichts zum Lied hin überschritten wird. Als ahnte Matthias Claudius, dass sein Gedicht in den kommenden Jahrzehnten von unzähligen Künstlern vertont werden würde. Das liegt aber auch daran, dass sich Matthias Claudius stark auf ein Gedicht von Paul Gerhardt bezogen hatte, das bereits in Liedform als Kirchenlied bekannt geworden war. Es hieß: „Nun ruhen alle Wälder“ und steht wie das Abendlied in den evangelischen Gesangbüchern unserer Kirchen. In den letzten Versen des Abendlieds geht es um das ruhige Einschlafenkönnen: „Verschon uns, Gott! mit Strafen,/ Und laß uns ruhig schlafen!/Und unsern kranken Nachbar auch!“. (V. 40-42) Aber auch das Einschlafen wird thematisch nur mit Bezug zu Gott. Zu einem alttestamentarischen Gott, der straft, und mit einem Bezug zur Ethik der Nächstenliebe.
Volkslieder mit einem so starken religiösen Bezug hatten gerade in dieser Zeit und in der Zeit nach der Reformation einen stark pädagogischen und erzieherischen Ton. Die christlichen Gebote wurden von oben herab als festgemeißelt und unverrückbar in das Bewusstsein des einfachen Volkes gehämmert. Eignet dem Abendlied dieser Predigerton? Im Gegenteil. Ab der dritten Strophe dominiert das „Wir“ und das „Uns“. Der Dichter grenzt sich nicht ab. Er teilt die Schwächen: „Wir stolze Menschenkinder/ Sind eitel arme Sünder/Und wissen gar nicht viel;“ (V. 19-21). Es geht um die Gemeinschaft der Menschen in ihrem irdischen Dasein und in ihrem Verhältnis zu Gott.
Inhaltlich passiert etwas im Gedicht das, wenn schon nicht als predigerhaft oder erzieherisch, so doch aber als instruktiv bezeichnet werden kann. Matthias Claudius beschreibt im Gedicht einen möglichen Weg zum Glauben. Nicht, dass er den Glauben einfach nur dogmatisch voraussetzt, predigt oder sogar gebietet, -- er zeigt einen möglichen Weg an und gibt einen Fingerzeig. Was ich damit meine, wird deutlicher, wenn man sich die inhaltliche Struktur des Gedichts anschaut.
In den ersten drei Strophen geht es um die Natur: um den Mond, die Sterne, den Himmel, den Wald und wieder um den Mond. Es ist Nacht und Nebel steigt auf. In dieses Bild wird der Leser auf dichterische Weise eingelassen. Die dritte Strophe bildet gleichzeitig einen Übergang zum Thema des Glaubens und des Verhältnisses zu Gott. Wie der Mond, den man nicht ganz sieht, der aber doch da ist und schön ist, gibt es Dinge, die der Mensch belacht, die er nicht ernst nimmt, nur weil er sie mit den Augen nicht sehen kann: „So sind wohl manche Sachen,/Die wir getrost belachen,/Weil unsre Augen sie nicht sehn.“ (V. 16-18) Matthias Claudius spricht nicht von oben herab. Er gehört auch zu denjenigen, die so denken. „Wir stolze Menschenkinder/Sind eitel arme Sünder/Und wissen gar nicht viel;“ (V. 19-21) Stolz sind wir, eitel, wir bilden uns etwas ein auf unser Wissen, dabei wissen wir gar nicht viel. Es mag sein, dass uns Einiges gelingt. Doch Matthias Claudius meint, das seien Luftgespinste. Und am Ende wären wir nur noch weiter entfernt vom Ziel (vgl. 22-24). Was meint der Dichter Matthias Claudius mit ‚dem Ziel‘?
Die fünfte Strophe gibt Aufschluss. Matthias Claudius verweist auf den christlichen Glauben: „Gott, laß uns dein Heil schauen,/Auf nichts Vergänglichs trauen,/Nicht Eitelkeit uns freun!“ (V. 25-27) Die Künste seien bloße Eitelkeiten und Luftgespinste. Vertrauen soll man auf den christlichen Gott. Das Irdische ist vergänglich. Von Dauer ist nur das ewige Reich Gottes.
In der siebten und letzten Strophe bleibt dieser starke Bezug zum christlichen Gott, der nun direkt und emphatisch um Schonung vor Strafen gebeten wird. Thema ist in der selben Strophe erneut die Nacht, kalt ist es, die Nacht kommt herein. In den drei emphatischen letzten Versen geht es um Gott, den eigenen Schlaf und um den Schlaf des kranken Nachbars. Verschone uns vor Strafen, und lass uns ruhig schlafen. Das wünscht sich Matthias Claudius am Ende dieses Gedichts. Er betont das ‚Wir‘, spricht die Anderen mit „Brüder“ (V. 37) an und verweist selbst im letzten Vers auf die gebotene Nächstenliebe. Es ist sehr naheliegend, dass die evangelische Kirche das Abendlied in der vertonten Form in ihr Liederbuch aufgenommen hat. Mit der Betonung der Brüderlichkeit, der Nächstenliebe und dem starken Bezug zum christlichen Gott war dies wohl unausweichlich.
Das kann man gut oder schlecht finden. Wer dieses Abendlied liest oder singt, muss die Verse, in denen es um den Gott, das Heil und den Himmel geht, nicht wörtlich nehmen. Die ersten drei Strophen geben Hinweise, wie man den religiösen Glauben noch verstehen könnte. Denn hier werden die Natur und die Welt erst einmal ganz unabhängig vom christlichen Gott thematisch. Es geht um die Welt, die der Mensch nicht versteht und der er womöglich oft hochmütig gegenübersteht. Es geht um die Grenzen des Wissens und des Wissbaren. Was wir mit den Augen sehen, das sagt uns Matthias Claudius im Gedicht, erschöpft nicht das, was da ist und was schön ist. An der Grenze der menschlichen Erkenntnis (zwischen dritter und vierter Strophe) verweist Claudius auf den christlichen Glauben.
Ich möchte vor diesem Hintergrund jedoch die zweite Strophe hervorheben. „Wie ist die Welt so stille,/Und in der Dämmrung Hülle/So traulich und so hold!/Als eine stille Kammer,/Wo ihr des Tages Jammer/Verschlafen und vergessen sollt.“ Um diese wunderschönen Verse zu verstehen, braucht man keinen christlichen Gott. Es ist nicht wichtig, ob man die ersten drei Strophen liest als eine Art Weg zum christlichen Gott, den Matthias Claudius über den Umweg einer Darstellung der Grenzen der Erkennbarkeit der Geheimnisse der Natur darstellt. Oder aber als einem Weg, der das Ziel offenlässt. Die poetische Naturdarstellung rückt dann in den Vordergrund. Die Grenzen unseres Wissens, die Vergänglichkeit alles Irdischen und die Schönheit der Natur, – das sind dann die Themen, denen man beim Lesen dieses Gedichts und beim Singen dieses Liedes Beachtung schenkt.
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