Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um die Hymne „Mahomets-Gesang“ von Johann Wolfgang von Goethe, erschienen in dem 1948 in Hamburg herausgekommenen Werk „Gedichte, herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz“, genau entnommen den Seiten 42–44.
Das 1772 verfasste Gedicht Goethes lässt sich in die Epoche des Sturm und Drangs einordnen und thematisiert den Lobgesang auf die Menschen, die durch ihre Taten und ihr Auftreten lebensspendend wirken und den Menschen Halt geben.
Die Hymne ist in zehn Strophen unterteilt, wobei die ersten vier Strophen lediglich vier bis sieben Verse aufweisen, genau wie auch die Strophen sieben bis zehn. Die fünfte, zentrale Strophe jedoch weist 25 Verse auf. Ein Reimschema ist nicht zu erkennen, doch bei dem angewendeten Metrum1 handelt es sich um einen zwei- bis vierhebigen Trochäus, die Kadenzen2 wechseln unregelmäßig zwischen männlichen und weiblichen. Des Weiteren fallen die häufig angewendeten Enjambements3 auf.
Die Hymne wird sofort mit einem Ausruf eingeleitet: „Seht den Felsenquell/ Freudehell/ Wie ein Sternenblick“ (V. 1–3). Eine Felsenquelle ist der Ursprung vieler weiterer Quellen, Bäche und Flüsse und wird aus den Tiefen des Felsens oder Berges gespeist. Da sie mit ihrem Wasser die Lebensgrundlage allen Lebens auf Erden mit sich trägt, wird sie „Freudenhell“ empfangen. Der angewendete Vergleich mit dem Glanz der Sterne verdeutlicht, dass dieser Lebensspender zwar für den Menschen aus unerreichbaren Quellen stammt, jedoch etwas Reines und Wunderbares ist. Der Ausruf mit mehreren positiv konnotierten Worten macht sofort deutlich, dass es sich um eine Lobpreisung handelt. Die Verse „Über Wolken/ Nähreten seine Jugend/ Gute Geister/ Zwischen Klippen im Gebüsch“ (V. 4–7) verdeutlichen die lebensbejahende Kraft und die Verbindung zur Transzendenz4, die durch die Quelle transportiert wird.
In der zweiten Strophe wird die Erscheinungsform näher beschrieben: „Jünglingsfrisch/ Tanzt er aus der Wolke/ Auf die Marmorfelsen nieder“ (V. 8–10). Das „Jünglingsfrisch“ zeigt sowohl di Reinheit und Unschuld der Quelle als auch deren Jugend und die darin innewohnende Kraft. Das hier genutzte Wort „Tanzt“ zeigt auf, dass es sich bei dem Regen aus den Wolken nicht um eine Katastrophe wie etwa eine Überschwemmung handelt, sondern vielmehr wie vom Himmel geschickt, in belebender Weise auf die Erde niedergeht. Das Bild des Tanzens ruft bei den Hörern bzw. Lesern des Gedichtes zudem ein positives Gefühl von Gelassenheit und Freude aus. Die darauf flgenden Verse untermauern diese Stimmung weiterhin: „Jauchzet wieder/ Nach dem Himmel“ (V. 11–12). Das Jauchzen als ein freudiger Ausruf voller Kraft und Zuversicht wird an dieser Stelle genutzt, um nochmals die Stärke und Lebensbejahung zu verdeutlichen. Das Jauchzen nach dem Himmel zeigt die untrennbare Verbindung der Erde mit dem Himmel auf.
In der nächsten Strophe wird daraufhin der Weg dieses Lebensquells weiter beschrieben: „Durch die Gipfelgänge/ Jagt er bunten Kieseln nach“ (V. 13–14). Hier wird zunächst noch die jugendliche Freude und Triebkraft mit „Jagt“ beschrieben. Die Gipfelgänge zeigen, dass ein weiter weg zurückgelegt wurde, dies jedoch mit stets ungebrochenem Antrieb. Ebendieser Antrieb und diese innere Stärke verleihen „frühem Führertritt“ (V. 15), also die Kraft und Zuversicht, auch Andere mit sich zu ziehen, leiten und anführen zu können. Genau dies ist dann auch der Fall: „Reißt er seine Bruderquellen mit sich fort“ (V. 16–17). An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass das Bild der Natur leicht auf das der Menschen übertragen werden kann. Stets ist mit der Quelle eine führende und richtungsweisende Persönlichkeit gemeint, die vor Kraft und Zuversicht strotzend seinen Mitmenschen den rechten Weg weist und mit Gottes Gaben dazu ausgestattet ist, als ein Idealbild zu fungieren.
Im Folgenden werden nochmals die positiven Auswirkungen verdeutlicht: „Drunten werden in dem Tal/ Unter seinem Fußtritt Blumen/ Und die Wiese/ Lebt von seinem Hauch“ (V. 18–21). Der Fußtritt steht normalerweise für Zerstörung, hier jedoch fungiert sogar er als Lebensspender. Die Blumen, welche daraus erwachsen, zeigen die Schöpferkraft und wirkliche Auswirkung auf seine Umgebung. Die reine Anwesenheit, der „Hauch“ lässt ein ganzes Biotop wie die Wiese zum Leben erwachen und speist diese weiterhin. Alles erblüht unter der schöpferischen Kraft des Quells.
Die folgenden Verse: „Doch ihn hält kein Schattental,/ Keine Blumen,/ Die ihm seine Knie‘ umschlingen,/ ‚Ihm mit Liebesaugen schmeicheln“ (V. 22–25) bedeuten, dass die Kraft der Quelle weder durch Schrecken noch Schönheit aufgehalten werden kann und auch durch mögliche Widrigkeiten unbeirrt seinen Weg findet. Genauso ist dies wieder auf das Idealbild des Helden übertragbar; dieser ist mit einem klaren Ziel vor Augen nicht durch umschlungene Knie zu Fall zu bringen oder durch Liebesaugen zu umgarnen. Sein Weg ist durchgängig: „Nach der Ebene dringt sein Lauf, /Schlangewandelnd“ (V. 26–27). Der Vergleich mit einer Schlange ist an dieser Stelle nicht mit dem negativen Bild der listigen Schlange zu verwechseln, sondern vielmehr auf die positiven Eigenschaften dieser zu übertragen, die auch widrigem Untergrund mit ihrer ausgefeilten Fortbewegungsart meistert. Hier wird deutlich, dass es immer einen Weg gib, auch wenn dieser manchmal mit Hindernissen versperrt zu sein scheint.
Der Weg, der zurückgelegt werden muss, macht, wie folgende Verse zeigen, stärker: „Bäche schmiegen/ Sich gesellig an/ Nun tritt er/ In die Ebene silberprangend“ (V. 28–31). Die sich anschmiegenden Bäche stehen für die Unterstützung und den Zulauf, der durch das klare und durchgängige Verfolgen eines Zieles erlangt werden und zeigen, dass auf diesem Weg natürlicher Rückhalt entsteht. Das „silberprangend“ auf die Ebene treten zeugt von Stolz und Selbstsicherheit, welche durch vorangegangene Unterstützung, aber auch festgesetzte Ziele und Ideale, nach denen gestrebt wird, hervorgerufen werden. Der Vers „Und die Ebene prangte mit ihm“ (V. 32) zeigt die positiven Auswirkungen ebendieses Auftretens. Der Fluss bringt Leben und Zuversicht mit, idem er mit seinem Wasser alles Leben dort nährt. Die folgenden Verse „Und die Flüsse von der Ebene/ Und die Bäche von den Bergen“ (V. 34–35) stellen durch eine fallende Klimax5 sowie eine Anapher6 dar, in welchem Ausmaße sich die Wirkung des zum Fluss gewordenen Quells erstreckt. Auch hier wird diese freudig empfangen: „Jauchzen ihm und rufen: Bruder/ Bruder, nimm die Brüder mit, Mit zu deinem alten Vater, / Zu dem ew’gen Ozean“ (V. 35–38). Der freudige und zutiefst berührte Ruf des Jauchzens zeigt hier, wie sehr eine starke und klare Führung gebracht wird, um auch eigene Ziele zu erreichen. Der „ew’ge Ozean“ steht hier stellvertretend für Gott. Auf unser Idealbild des Helden und Anführers übertragen zeigt sich, dass ein solcher von den Menschen gebrauct und mit offenen Armen empfangen wird. Die Ausrufe „nimm die Brüder mit“ zeigen, dass es für einzelne schwer ist, den rechten Weg zu finden und das Ideal, welchem man folgen kann, eine Verbindung zur Transzendenz herstellen, somit also Gott näher bringen. Dieser ist für einige nämlich nicht allein erreichbar: „Der mit weitverbrit’ten Armen/ Unsrer wartet;/ Die sich, ach, vergebens öffnen,/ Seine Sehnenden zu fassen“ (V. 39–42). Die sich umsonst öffnenden Arme Gottes bleiben nicht aus bösem Willen leer. Die „Sehnenden“ stellen viele Menschen dar, die sich Zeit ihres Lebens nach einer Verbindung zum nicht Greifbaren wünschen und ohne eine wegweisende Hand nicht den gewünschten Pfad beschreiten vermögen. Die Verzweiflung dieser wird mit einer Aufzählung der Widrigkeiten, mit denen man zu kämpfen hat untermauert: „Denn uns frißt in öder Wüste/ Gier’ger Sand/ Die Sonne droben/ Saugt an unserm Blut (…)“ (V. 43–48). Mit öder Wüste und der brennenden Sonne wird an dieser Stelle gezeigt, mit welchen Hindernissen das Leben zu kämpfen hat. Einer stetigen Gefahr der Verirrung ausgesetzt, fällt es schwer, sich durchzusetzen und stets das Richtige zu tun. Der Schluss dieser zentralen Strophe bildet einen Rahmen zum Beginn dieser: „Bruder,/ Nimm die Brüder von der Ebene,/ Nimm die Brüder von Gebürgen/ Mit, zu deinem Vater mit!“ (V. 49–52). Dies ist ein Ausruf der Sehnsucht und des Flehens, der nach Erfüllung ruft und diese endlich durch den gottglichen Anführer bzw. Helden als erfüllbar ansieht. Auch an dieser Stelle wird mit den „Brüdern der Ebene und der Gebürge“ verdeutlicht, welch eine Vielzahl an Menschen bzw. Lebewesen aus eine solch leitende Persönlichkeit angewiesen ist.
Die nächste Strophe knüpft genau an Vorangegangenem an: „Kommt ihr alle!“ (V. 53). „Alle“ sind hier all jene, die zuvor gefleht haben, ihre Sehnsucht möge endlich erfüllt werden. Dieser Ausruf bedeutet, dass genau diese verzweifelte Sehnsucht in Erfüllung gehen kann, folgt man denn dieser. Die Heldengestalt zieht nämlich einem Flusslauf gleich weiter und hinterlässt stets Wohlstand und Leben: „Und im rollenden Triumphe/ Gibt er Ländern Nehmen, Städte/ Werden unter seinem Fuß“ (V. 57–59). Auch an dieser Stelle taucht wieder das Bild des Fußes auf, welcher in seinen Spuren nicht Zerstörung, sondern Kraft und Lebensreichtum hinterlässt. Der „rollende Triumphe“ hier als etwas Unaufhaltsames, steht für das Glück, welches hinterlassen wird.
Diese scheinbar unbegrenzt schöpferische Macht wird ach in der folgenden Strophe angepriesen: „Unaufhaltsam rauscht er weiter,/ Läßt der Türme Flammengipfel,/ Marmorhäuser, eine Schöpfung/ Seiner Fülle, hinter sich“ (V. 60–64). Der Wohlstand, die Zuversicht und das Glück, welche stets Folge dieser Führungskraft sind, werden durch die Beschreibung der Marmorhäuser deutlich. Dies lässt sofort an Kostbarkeiten und Reichtum sowie Sicherheit durch Unzerstörbarkeit denken. Das „unaufhaltsame Rauschen“ jedoch zeigt, dass dies aus keinerlei Eigennutz heraus erwächst, vielmehr ist das Leben, welches geschenkt oder verbessert wird, nur ein Teil des fortschreitenden Weges.
Der folgende Vergleich eröffnet jedoch noch eine weitere Komponente des Helden: „Zedernhäuser trägt der Atlas/ Auf Riesenschultern“ (V. 64–65). Dieser Vergleich mit der mythischen Gestalt des Atlas, der die Erde auf seinen Schultern trägt, dient hier als Vergleich zum besungenen Helden, der durch seine Taten eine ebenfalls riesige Verantwortung trägt. Viele Menschen orientieren sich an ihm und demensprechend groß sind die Schäden bei Fehlern. Jedoch ist auch genau diese große Wirkung, dieses Weitreichen Quell der Macht: „ Tausende Segel auf zum Himmel/ Seine Macht und Herrlichkeit“ (V. 67–68). Diese „tausend Segel“ oder auch diese Tragweite der Handlungen bergen zwar große Verantwortung und sind damit zugleich Last, dich sind sie auch Verdeutlichung und Zeichen von Macht und repräsentieren die lebensbejahenden Auswirkungen.
Die nächste und letzte Strophe beginnt mit einer steigenden Klimax: „Und so trägt er seine Brüder,/ seine Schätze, seine Kinder ( Dem erwartenden Erzeuger,/ Freudebrausend an das Herz“ (V. 69–73). Der wartende Erzeuger hier wieder der Gott, dem zu Ehren durch den Anführer und Wegweiser die Menschen zu einem gottgefälligen und erfüllten Leben geführt werden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Hymne, zwar mit dem Titel „Mahomets Gesang“, nicht allein Mohammet als Helden, Idealbild und Anführer in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr einen bestimmten Typ Mensch charakterisiert. Dieser verbreitet durch seine Anwesenheit und seine Taten Zuversicht und inneren Frieden bei den Menschen. Durch eine solche Figur ist es für sie leichter, ein erfülltes Leben zu führen, da stets ein Ideal, nach welchem man streben kann, greifbar ist. Dies verringert den geistigen Abstand zur Transzendenz und macht es somit leichter, sich selbst wiederzufinden. Menschen sind als von Gott geschaffene Wesen darauf angewiesen, in gewisser Weise mit diesem verbunden zu sein. Ein solches Heldenideal kann den Menschen dazu verhelfen und ohne einen solchen sind Verzweiflung und Sehnsucht die Folge.